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Updated: 18.12.2012 15:51
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Atommüllfabrik Frankreich

Frankreich hat in den letzten Jahrzehnten radioaktiven Müll in geradezu irrwitzigen Ausmaßen produziert. Nun ist aber die Frage, wohin damit, noch immer ungelöst.

"Wir haben zwar kein Erdöl, aber wir haben Ideen" lautete einer der bekanntesten Aussprüche französischer Politiker. In den frühen siebziger Jahren, nach dem ersten "Ölpreisschock" und der so genannten Ölkrise von 1973/74, betrieb die Pariser Regierung offiziell Werbung mit dem Slogan. Gemeint war damit unter anderem, dass Frankreich nicht auf die Förderung eigenes Erdöls - wie der britische Nachbar beim Nordseeöl - setzen könne, wohl aber dank seiner Firmen und ihrer Ingenieure über andere Alternativen verfügten. Ihre wichtigste war, nach einhelliger Auffassung des politischen Establishments, die Nutzung der Atomenergie. In ihr war Frankreich alsbald führend, und heute laufen nicht weniger als 59 Atomreaktoren zwischen Ärmelkanal und Pyrenäen. Sie erzeugen 80 Prozent der französischen Elektrizitätsversorgung. Das ist die weltweit höchste Dichte (pro Einwohner/in, während sie in Japan - mit insgesamt 53 Atomreaktoren - gemessen an der Fläche höher ist) an Atomanlagen - sowohl zivil als auch militärisch genutzten - in einem Land.

Nicht gar so ideenreich erwies man sich unterdessen beim Atommüll. Eine Milliarde Tonnen nuklearer Abfälle kam bisher zusammen, rechnet man alle radioaktiv strahlenden Reststoffe zusammen - unter ihnen auch beispielsweise die 300 Millionen Tonnen radioaktiven Abraums aus den früheren Uranminen, die seit 1945 in Betrieb waren und deren letzte auf französischem Boden 1991 geschlossen wurde. Über 200 Uranbergwerke waren zeitweise auf französischem Boden - vor allem im Zentralmassiv - betrieben worden.

Eine Reportage für den Fernsehsender France3 alarmierte Mitte Februar dieses Jahres erstmals eine breitere Öffentlichkeit bezüglich der vergessenen Gefahren, die diese Aktivität hinterlassen hat. Straßen, Spielplätze, ein Sägewerk oder auch Badeseen und andere Freizeitorte wurden auf den früheren Bergwerksgeländen errichtet. Strahlende Abraumhalden wurden nur notdürftig umzäumt, und Geigerzähler zur Radioaktivitätsmessung wurden dort aufgepflanzt, wo die Strahlung gerade am schwächsten ist.

Die Betreiberfirma der früheren Bergwerke war die staatliche Atomfirma COGEMA. Sie ging inzwischen in der Aktiengesellschaft Areva, deren Kapital im Augenblick noch zu 100 Prozent in staatlichen Händen liegt, auf. Die Areva dürfte freilich in absehbarer Zeit mit Privatfirmen fusionieren oder von über ihnen übernommen werden. Im Gespräch sind etwa der französische Ölkonzern Total - der mit Areva zusammen ein AKW-Projekt in Abu Dhabi betreibt - oder die Maschinenbaufirma Alstom zusammen mit dem französischen Betonriesen Bouygues (der 30 Prozent an Alstom hält und von einem Duzfreund Nicolas Sarkozys geleitet wird). Areva benötigt derzeit dringend Geld, da der deutsche Siemens-Konzern Ende Januar den Rückzug seiner 34 Prozent Anteil an der gemeinsamen Tochtergesellschaft Areva NP angekündigt hat: Siemens wollte lieber entweder direkt an der "Mutterfirma" beteiligt werden und höhere Anteile erwerben, was die Franzosen erwerben, oder aber mit den Russen zusammen ins Atomgeschäft einsteigen. Letztere Option wird nun realisiert, vergangene Woche wurde eine Kooperation zwischen Siemens und der russischen Nuklearfirma Rosatom angekündigt. Areva sucht nun neue private Partner und muss sich ihnen "rentabel" erweisen. "Altlasten", wie etwa der strahlende Abfall aus den Nachkriegsjahrzehnten, sind dem Konzern deswegen nur - lästig.

Diese und andere Atomabfälle werden gar zu gerne vergessen, wenn man regelmäßig verharmlosende Zahlen liest wie jene, Frankreich erzeuge jährlich zweihundert Tonnen Atommülls. Diese Angabe umfasst nur die abgebrannten Brennstäbe aus Atomkraftwerke. Aber hinzu kommen etwa die radioaktiv strahlenden Abwässer von Reinigungsarbeiten in Kraftwerken oder die Chemikalien, die zur Wiederaufarbeitung - der Abtrennung der Kernbrennstoffe Uran und Plutonium aus abgebrannten Brennstäben - in der Anlage im normannischen La Hague benutzt werden. Auch sie müssen mindestens für Jahrhunderte, wenn nicht für Jahrtausende, vor menschlichem Kontakt gesichert und so abgeschirmt wie möglich aufbewahrt werden.

Die Atommüllfrage wird in den Augen der öffentlichen Meinung nur gelegentlich akut. Ins öffentliche Bewusstsein zurückgerufen wurde sie etwa vergangene Woche, als der bislang größte Atommülltransport aus der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) La Hague zum Hafen von Cherbourg rollte, um per Schiff nach Japan verschifft zu werden. Zwei Schiffe - das Atommülltransportschiff, welches der britischen Reederfirma Pacific Nuclear Transport Limited gehört, und ein Begleitschiff mit Elitetruppen der britischen Armee an Bord - werden siebzig Tage lang auf den Weltmeeren unterwegs sein. An Bord haben sie ein gigantisches Gefahrenpotenzial: 20 Tonnen "Mischoxyd" (MOX), also aus "recyceltem" Atommüll hergestellter Brennstoff für Atomkraftwerke, der aus einer Mischung von Uran und Plutonium besteht. Der besonders umstrittene Kernbrennstoff MOX war zuvor in der südfranzösischen Atomfabrik Melox produziert worden.

Im kommenden Jahr, 2010, soll der nächste Transport nach Japan erfolgen. Zwar verfügt das fernöstliche Land bislang noch über gar keine Reaktoren, die zum Einsatz von MOX-Brennstäben fähig wären. Nicht alle Atomkraftwerke können mit dem Uran-Plutonium-Gemisch befeuert werden. In Deutschland - wo 1972, in der damaligen Bundesrepublik, der erste Einsatz von MOX erfolgte - ist dies für zehn Reaktoren der Fall, in Frankreich sind es insgesamt 22 Reaktoren. Japan verfügt bislang über keinen funktionsfähigen. Aber Frankreich hatte beschlossen, das Produkt der Wiederaufbereitung - also der Abtrennung von Uran und Plutonium - aus abgebrannten Brennstäben, die Japan vom Ende der siebziger bis zum Ende der neunziger Jahre geliefert hatte, zurückzusenden.

Die französische Atomindustrie hält auch weiterhin an der MOX-Produktion in großem Maßstab fest. Sie ist noch weitaus umstrittener als der Einsatz von sonstigem Kernbrennstoff. Denn durch den Einsatz von Plutonium, das in höchstem Ausmaß giftig ist und weitaus stärker strahlt - da schneller zerfällt - als das spaltbare Uran235 oder Uran238, wird das Risikopotenzial erhöht. Gleichzeitig enthält MOX-Brennstoff notwendig atomwaffenfähiges Material, während zumindest niedrig angereichertes Uran (mit geringem Uran235-Anteil), wie es in sonstigen Brennstäben eingesetzt wird, als solches nicht waffentauglich ist.

Und wer MOX einsetzen möchte, muss zuvor notwendig die chemischen Prozesse durchgeführt haben, die zur Abtrennung der spaltbaren Materialien aus der sonstigen Masse der abgebrannten Brennstäbe führen. Dies verkauft die französische Atomfirma Areva nun als "Recycling", das dazu beitrage, die Gesamtmenge des Atommülls zu vermindern. Auch die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde druckte die Behauptung am vergangenen Freitag nach. Allein, es ist purer Unsinn: Die Müllmenge wird durch das Auftrennen des Atommülls in Gestalt der anfallenden Brennstäbe um ein Vielfaches vergrößert. Denn die einzelnen chemischen Substanzen, die in ihm enthalten sind, werden dabei separiert. Zudem werden alle Substanzen, die zur Durchführung der Aufbereitung eingesetzt werden, im Laufe des Prozesses ihrerseits radioaktiv. Und auch aus den MOX-Brennstäben wird nach Abbrennen neuer radioaktiver Müll. Denn Uran und Plutonium verschwinden in der Kernspaltung ja nicht einfach, sondern überlassen ihrerseits strahlenden Spaltprodukten wie Kobalt, Zäsium, Krypton oder Barium den Platz.

Die neuen Reaktoren der so genannten dritten Generation vom Typus EPR (Europäischer Druckwasserreaktor) werden zu hundert Prozent mit MOX befeuert werden, während herkömmliche Atomkraftwerke - sofern sie diesen Brennstoff überhaupt einsetzen - nur zu höchstens 30 Prozent mit dem Mischoxyd bestückt werden. Frankreich zählt zu denjenigen Staaten, die den Einstieg in die neue Reaktorgeneration forcieren. Der führende französische Atomkonzern Areva baut derzeit in Finnland einen EPR-Reaktor, der jedoch voraussichtlich zwei Jahre Bauverzögerung aufweist und doppelt so viel kosten so viel wie geplant - die Finnen fordern bereits Schadensersatz. Frankreich hat einen EPR im normannischen Penly im Bau, und Präsident Sarkozy lancierte Anfang Juli vorigen Jahres den Bau eines zweiten. In der letzten Februarwoche vereinbarte Sarkozy nun mit dem italienischen Premierminister Silvio Berlusconi den Bau einer Serie von vier EPR-Reaktoren in Italien, deren erster bis 2020 in Betrieb gehen soll. Die Rechtsregierung in Rom möchte heute einen Neueinstieg in die Atomenergie favorisieren, nachdem die Bevölkerung 1987 in einem Referendum entschieden hatte, ihre Nutzung in Italien zu unterlassen.

Die aktuelle Politik wird also dafür sorgen, dass auch weiterhin eifrig Atommüll - auch und gerade von der gefährlichsten Sorte - produziert werden wird. Aber was mit dem alten passieren soll, ist derzeit noch ungeklärt. Vor 1969 gab es dafür noch eine simple Lösung: Er wurde einfach ins Meer gekippt. Alarmierende Messungen im Ärmelkanal sorgten dann dafür, dass dies unterbleiben musste. Daraufhin wurde in der Nähe von La Hague ein Zwischenlager errichtet, das von 1969 bis 1994 im Betrieb war. Rund 560.000 Kubikmeter radioaktive Abfälle wurden hier eingelagert. Als Ersatz für dieses Zwischenlager wurde, vor seiner Stilllegung, ab 1992 ein anderes in Ostfrankreich in Betrieb genommen. Es liegt in einem ausgedehnten Waldstück im Bezirk Aube (Region Burgund). Dort stehen 90 kubikförmige Betonbehälter, in denen Atommüllbehälter von einer Granulatsubstanz eingeschlossen sind, buchstäblich im Wald.

Diese als "schwach" und "mittel radioaktiv" eingestuften Abfälle müssen nur für eine Gesamtdauer von rund 700 Jahre im Auge behalten werden. Aber was mit den stärker strahlenden, "hoch radioaktiven" Abfällen passieren soll, ist bislang noch ein Geheimnis. Ein Gesetz von 1991 - die Loi Bataille - sah vor, das innerhalb von 15 Jahren durch Forschungen in drei Gesteinsformationen -Granit, Ton und Salzstock) ein potenzieller Endlagerstandort, der auch über lange Zeitraum hinweg als "sicher" gelten könne, bestimmt werden solle. Aber vielerorts kam es zu so starken Widerständen, dass die Forschungen nicht durchgeführt werden konnte. Probebohrungen an Granitgestein, bei denen radioaktive Substanzen eingespritzt werden sollten, um ihre Ausbreitung zu untersuchen, unterblieben etwa. In Südfrankreich verhinderten Winzer und Touristen, dass ihre Lebensgrundlage durch die radioaktiver Verseuchungen - oder auch nur entsprechende Gerüchte, die dafür ausreichen könnten - zerstört zu werden drohte.

Allein in Bure, einer kleinen Kommune in Ostfrankreich in rund 130 Kilometern Entfernung von der deutschen Grenze, konnten die Forschungen vorankommen. Hier wurde in eine Ton-Lehm-Mischung in 500 Metern Tiefe gebohrt. Aber reale Forschungen wurden laut Auffassung von Kritikern kaum vorgenommen. Vielmehr war der politischen Führung daran gelegen, die Arbeiten bis zum gesetzlich vorgegebenen Stichdatum im Jahr 2006 - angeblich "erfolgreich" - zum Abschluss zu bringen, um der französischen Atomindustrie nicht ihre Legitimation durch einen "Entsorgungsnachweis" zu entziehen. Erst kurz vor dem Stichdatum wurde überhaupt die notwendige Bohrtiefe erreicht. Viele Fragen sind noch ungelöst, etwa die Auswirkungen der Temperaturen - die eingelagerten Abfälle sollen rund 100° heiß sein - auf die umliegenden Gesteinsstrukturen.

Vor drei Jahren wurde das vorgesehen Gesetz zur weiteren Regelung der Endlagerfrage verabschiedet. Bis im Jahr 2015 soll nun endgültig der Standort für das Endlager festgelegt werden, das zehn Jahre später eröffnet werden soll. Real in Frage kommen dürfte im Augenblick nur Bure. Allerdings nicht aus wirklichen wissenschaftlichen Erwägungen, sondern aus politischen Gründen: Das fragliche Gebiet, an der Grenze zwischen den Regionen Lothringen und Champagne gelegen, ist eine relativ dünn besiedelte ländliche Zone. Ihre Kommunen sind arm, weshalb die Millionenspritzen der für die Endlagerforschung zuständigen Agentur ANDRA den Bürgermeistern willkommen sind. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte wird mit geringen Widerständen gerechnet.

Auch Deutschland ist, über die EURATOM-Strukturen, finanziell an der Endlagerforschung in Bure beteiligt. Bislang zahlte der deutsche Staat seit dem Jahr 2000 rund 1,7 Millionen dafür. In den kommenden Jahren ist eine weitere Million Euro eingeplant.

Artikel von Bernard Schmid, Paris, vom 12.3.2009, eine Kurzfassung erschien an diesem Donnerstag in der Berliner Wochenzeitung ,Jungle World'


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