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Updated: 18.12.2012 15:51
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Algerien: Revolten gegen Gas- und Treibstoffpreise ­ Und was das mit der WTO zu tun hat

Kurzfassung *

Eine Revolte, die daraus resultiert, dass viele Bürger sich Gasflaschen zum Heizen und ­ aufgrund gestiegener Treibstoffpreise ­ die täglichen Busfahrten nicht mehr leisten können: Das hätte man in einem Land, das zu den größten Exporten von Erdöl und Erdgas weltweit zählt, nicht unbedingt erwartet.

Dennoch erschütterten solche Unruhen in den vergangenen beiden Wochen größere Teile Nordalgeriens. In den Bezirkshauptstädten Djelfa, Bouria, Tlemcen und Tiaret wurden zahlreiche staatliche Gebäude angegriffen oder abgefackelt. Straßen wurden mit brennenden Autoreifen blockiert. Die herbei gerufenen Polizei und Anti-Aufstands-Einheiten setzten Tränengas und Hunde gegen aufgebrachte Demonstranten ein, konnten der Situation jedoch nur mühsam Herr werden.

Gemäß der Richtlinie, die sich das algerische Regime nach der Präsidentenwahl vom vorigen April gesetzt hat, sollen die Teilnehmer oder jedenfalls die "Rädelsführer" von Elendsrevolten oder Bürgerprotesten nicht mehr straffrei ausgehen. Seit dem Frühjahr 2001 ist es zu einer Vielzahl lokaler, oft spontaner Erhebungen gekommen. Am vorigen Dienstag wurden so 33 Angeklagte oft jugendlichen Alters aus El-Birine im Bezirk Djelfa abgeurteilt, sechs von ihnen erhielten mehrmonatige Haftstrafen ohne Bewährung. Rund 20 weitere Angeklagte warten noch die Vorführung vor das Gericht, in einigen Fällen vor den Jugendrichter. Auch im westalgerischen Tiaret werden am Dienstag kommender Woche 26 "Aufrührer", unter ihnen alte Männer, ihr Strafmaß erfahren.

Am 14. Januar war die jüngste Preiserhöhung für Butangasflaschen, die vor allem durch die ärmeren Haushalte zum Heizen und Kochen benutzt werden, und für Dieselkraftstoff in Kraft getreten. Die Gasflasche kostet nunmehr 200 Dinar (rund zwei Euro) statt zuvor 157 Dinar, was einer plötzlichen Erhöhung um mehr als ein Fünftel entspricht. Eine Familie benötigt im Winter etwa sechs Gasflaschen pro Monat. Der gesetzliche Mindestlohn in Algerien beträgt derzeit umgerechnet 120 Euro, und Arbeitslose erhalten ­ wenn überhaupt, das heißt wenn sie vor ihrer Entlassung zu den Kernbelegschaften der öffentlichen Betriebe gehörten ­ monatlich zwischen 10 und 30 Euro Unterstützung.

Die Ankündigung erfolgte zum denkbar schlechten Zeitpunkt: In derselben Woche erfolgte ein in diesem Ausmaß in Algerien kaum gekannter Kälteeinbruch, in der Nordhälfte des Landes schneite es bis auf 200 Höhenmeter herunter ­ und das im Landesinneren bis in die Saharastadt Ghardaïa. Vor allem auf den Hochplateaus des Atlasgebirges herrschen damit bittere Temperaturen, und dort kam es auch zu den ersten Zornesausbrüchen.

Die durch die Regierung am Parlament, das sich im November widerspenstig zeigte, vorbei beschlossene Preiserhöhung hängt eng mit dem internationalen Kontext zusammen. Nach einem seit drei Jahren währenden, zeitweise heftigen Konflikt mit dem Gewerkschafts-Dachverband UGTA will die Regierung nunmehr im März endgültig den Gesetzentwurf zur Öffnung der algerischen Erdöl- und Erdgasindustrie ins Parlament bringen. Dieses Herzstück der algerischen Ökonomie, von dem 97 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes abhängen, sollte in früheren Jahrzehnten die Mittel bereitstellen, um ­ im Kontext staatssozialistischer Rahmenplanung ­ das Land zu entwickeln und seine Produktion zu diversifizieren. Dieser Versuch scheiterte vor allem an den Zwängen, die aus der Einbindung in die internationale Arbeitsteilung, der wachsenden Staatsverschuldung und den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) resultierten.

Derzeit hängt Algeriens Souveränität und finanzielle Liquidität fast ausschließlich an diesem Sektor. Aufgrund der Panik, vom internationalen Investitionszufluss abgeschnitten zu werden und den so wichtigen Sektor nicht mehr technologisch modernisieren zu können, ist ein Teil der im Lande herrschenden Oligarchie deswegen zu einer Öffnung für ausländische Investitoren und teilweisen Privatisierung bereit. Die für das Land höchst riskante Operation spaltete zunächst auch die Oligarchie in zwei Flügel, deren privatisierungsfeindlicher Teil sich auf die UGTA stützen konnte. Doch die Ergebnisse der Präsidentenwahl vom vorigen April sowie die jüngst durch UGTA-Chef Abdelmajid Sidi-Saïd erklärte Kapitulation des Gewerkschaftsbunds in dieser Frage haben der Regierung den Weg geebnet.

Die Naftal, der für die Vermarktung der Ölprodukte zuständige Ableger des bisherigen Erdöl- und Erdgasmonopolisten Sonatrach, soll möglicherweise schon bald für westliches Kapital geöffnet werden. Deswegen sollen jetzt ihre Gewinnmargen erhöht werden, so dass aus Sicht der Regierung eine Erhöhung der seit 1998 "eingefrorenen" Preise für die Raffinerieprodukte Butangas und Diesel geboten schien.

Hinzu kommt der Druck der Welthandelsorganisation (WTO), der Algerien beitreten will ­ die Verhandlungen dazu werden in der letzten Februarwoche in Genf wieder aufgenommen. Die WTO klagt Algerien wie auch Russland an, im Inland andere Energiepreise als beim Export zu praktizieren: Darin bestehe eine nach WTO-Handelsregeln unzulässige Diskriminierung gegenüber wirtschaftlichen Akteuren aus dem Ausland. Darauf antwortete Algerien zunächst, indem es die im Inland praktizierten Tarife vereinheitlichte - so dass nach Argumentation der Regierung in Algier die Diskriminierung wegfällt, weil ein ausländischer Investor in Algerien ebenso günstige Versorgungspreise vorfinde wie algerische Betriebe oder Privathaushalte. Ob das Argument durch die WTO akzeptiert wird, bleibt noch unklar. Dennoch beschloss die Regierung zugleich auch eine schrittweise Anhebung der Preise für Energieprodukte im Inland. Dabei wäre der Auslöser der jetzigen Revolten freilich nur der Anfang.

Von Bernhard Schmid (Paris)

Siehe auch die Langfassung

Siehe auch: Algerien - Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land. Informationen zum Buch von Bernhard Schmid (ISBN: 3-89771-019-6) beim Unrast Verlag externer Link


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