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Updated: 18.12.2012 15:51
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Verordnete Harmonie?

Perspektiven der Entwicklung von Kapital & Arbeit in China – ein Gespräch mit Chang Kai

Über die arbeitsrechtlichen Neuerungen in den chinesischen Arbeitsbeziehungen hatten wir in den letzten beiden Ausgaben des express berichtet. Im folgenden Gespräch mit Chang Kai, Arbeitsrechtler an der Volks-Universität in Beijing und maßgeblich an der Entwicklung des neuen Arbeitsvertragsgesetzes beteiligt, wollten wir vor allem wissen, welche Perspektiven die chinesische Regierung mit den gesetzlichen Maßnahmen verfolgt und wie die Diskussion über mehr oder weniger staatliche Einmischung in die Arbeitsbeziehungen in China geführt wird. Die auch im Lichte aktueller Diskussionen in der BRD interessante Diskussion fand im Juni dieses Jahres statt und wurde von Siqi Luo übersetzt.

KH: Sie waren als Teil einer Gruppe von wissenschaftlichen Beratern direkt an der Konzeption und Entwicklung des neuen Arbeitsvertragsgesetzes (Labour Contract Law) beteiligt, das Anfang 2008 in Kraft getreten ist und das seit 1994 existierende Arbeitsrecht (Labour Law) ergänzt. Daneben gilt seit 2001 ein eigenes Gewerkschaftsrecht (Trade Union Law), das zwar immer noch kein Streikrecht beinhaltet, allerdings ein Recht auf Kollektiv-Konsultationen und Tarifverträge. Wie würden Sie das neue Arbeitsvertragsgesetz im Vergleich zum geltenden Arbeits- und Gewerkschaftsrecht bewerten? Wie sehen Sie vor dem Hintergrund dieser drei Gesetze die Gewichtung von Individualrechten der Beschäftigten und den Rechten der Gewerkschaft als Interessenvertretung?

CK: Eine interessante Frage, die typischerweise von Gewerkschaftern bzw. Forschern aus dem Westen gestellt wird, denn diese Differenz zwischen den Rechten der Arbeiter und der Gewerkschaften ist nur vor dem Hintergrund der dortigen industriellen Beziehungen verständlich. Unter Bedingungen einer westlichen Marktwirtschaft sind Gewerkschaften aufgrund der Anerkennung von Kollektivverhandlungen und der Verbreitung von Tarifverträgen in der Regel die Hauptakteure.

Die Situation in China ist anders: Hier wurde zunächst versucht, die Gewerkschaften dazu zu bewegen und sie rechtlich darin zu unterstützen, aktiver zu werden, da bis dahin keine wirklichen Kollektiv- bzw. Gewerkschaftsrechte existierten. Charakteristisch für die Arbeitsbeziehungen in China sind vielmehr individuelle Beziehungen zwischen Arbeitern und Management. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung dieser beiden Gesetze deutlicher.

Das Gesetz von 2001 war geprägt von der Idee, die Gewerkschaften als kollektive Interessenvertretungen zu stärken und ihnen bessere rechtliche Grundlagen für Kollektivverhandlungen und -verträge zu geben. Doch die Regelung der Beziehungen zwischen Management und Beschäftigten darf nicht allein von den Gewerkschaften abhängig sein. Wir brauchten also auch stärkere Individualrechte, wie sie jetzt im Arbeitsvertragsgesetz verankert wurden. Ein zentrales Problem für die chinesischen Arbeitsbeziehungen war die massive Verbreitung von befristeten Arbeitsverträgen, die zu einer Zunahme von Konflikten zwischen Kapital und Arbeit geführt hat. Hier versucht das Arbeitsvertragsgesetz zu einer Regulierung der Beziehungen zwischen Beschäftigten und Management innerhalb der jeweiligen Unternehmen, auf betrieblicher Ebene beizutragen.

Gleichwohl schließt es die Gewerkschaften nicht aus; an vielen Stellen gibt es auch im neuen Arbeitsvertragsgesetz Regelungen, die nicht nur die individuellen Rechte, sondern auch die Rolle der Gewerkschaften als kollektive Interessenvertretungen stärken. So ist künftig zum Beispiel eine Unterschrift der Gewerkschaften bei der Unterzeichnung, bei der Aufhebung oder Kündigung von Arbeitsverträgen gefordert. Die grundsätzliche Aufgabe für die Gewerkschaften sollte aber darin bestehen, die Interessen der ArbeiterInnen wahr-zunehmen und zu vertreten. Das Arbeitsvertragsgesetz beinhaltet deshalb auch Regelungen für die Kollektivverhandlungen und -verträge. Insofern sind die beiden Gesetze komplementär zueinander.

KH: Das führt zur nächsten Frage: Welche Motivation und welche Ziele standen im Vordergrund, als die Debatten über die Notwendigkeit eines Arbeitsvertragsgesetzes begannen: Ging es um die fehlenden Rechte der ArbeiterInnen, um die ökonomischen Vorteile, die stabilere Arbeitsbeziehungen für Chinas Ökonomie haben können, oder überhaupt um die Herstellung gleicher Rechte innerhalb Chinas, weil dies eine stärkere staatliche Einflussnahme ermöglichen würde? Ich frage auch deshalb, weil uns im Rahmen unserer Arbeitsreise von Gesprächspartnern in China berichtet wurde, dass gewerkschaftliche und politische Funktionäre zum Teil den Überblick verloren hätten über die unterschiedlichen Regelungen, die zwischen verschiedenen Regionen Chinas, aber auch zwischen verschiedenen Unternehmen oder zwischen Betriebs- und Branchen-ebene existierten. Einige kritisierten, dass damit ein staatlicher Einfluss bzw. eine Kontrolle der Arbeitsbeziehungen erschwert, wenn nicht verunmöglicht werde. Könnte es also darum gehen, überhaupt einen stärkeren staatlichen Einfluss auf die Arbeitsbeziehungen zu gewinnen?

CK: Der Schutz bzw. die Kontrolle der Arbeitsrechte und die ökonomische Entwicklung der Unternehmen stehen aus meiner Sicht nicht im Konflikt miteinander. Natürlich stand bei der Entwicklung des Arbeitsvertragsgesetzes zunächst das Interesse, den ArbeiterInnen bessere Rechte zu geben, im Vordergrund. Gleichwohl halte ich dies nicht für den einzigen Beweggrund. Das Ziel dieses Gesetzes ist das, was wir »harmonische Beziehungen« zwischen Kapital und Arbeit nennen, oder in anderen Worten: die gleichzeitige Entwicklung von Arbeit und Kapital. Kurzfristig mögen die Unternehmen aufgrund des Arbeitsvertragsgesetzes höhere Kosten haben, doch langfristig betrachtet, können sie sich nachhaltiger und stabiler entwickeln als ohne dieses Gesetz. Denn der Hauptschub für die ökonomische Entwicklung kommt von den Arbeitern, ihrer Initiative und ihrem Verantwortungsbewusstsein. Wenn man unmotivierte Arbeiter oder ständige Konflikte im Betrieb hat, gibt es keine ökonomische Entwicklung für die Unternehmen. Selbst wenn einige kleine und mittlere Unternehmen das Arbeitsvertragsgesetz nicht mögen, weil sie nur ihre kurzfristigen Profite sehen, bietet dieses für die zukünftige Entwicklung die besseren Bedingungen. Die meisten größeren Unternehmen und diejenigen, die langfristig planen, sehen diesen Vorteil auch.

KH: Auch in Europa wird eine Diskussion über die Frage einzelbetrieblicher oder gesamtwirtschaftlicher Ausrichtung der Interessenvertretungsstrukturen und -politik geführt, die letztlich bereits auf das 18. Jahrhundert und die Frage zurückgeht, ob, wieviel und welche staatlichen Rahmenbedingungen es für das Wirken der »invisible hand«, also der erhofften Entfaltung der Wohlfahrtswirkungen des freien Marktes braucht. Die eine Seite argumentiert, Wettbewerb als, bildlich gesprochen, »Motor« allgemeiner gesellschaftlicher Wohlfahrt funktioniere nur, wenn gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle herrschten; insofern bedürfe es eines starken Staats und staatlich gesetzter Rahmenbedingungen wie Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Infrastrukturmaßnahmen etc. Die andere Seite argumentiert, dass nur eine möglichst flexible einzelbetriebliche Orientierung der Interessenvertretung und der Verzicht auf flächendeckende Regeln zu einer Verbesserung der unternehmerischen Situation führe – im Kern ist dies das Argument: je weniger Staat und weniger allgemeine Regelung, desto besser für die Unternehmen. Hier geht es also sowohl um kurzfristige vs. langfristige als auch um einzelbetriebliche vs. volkswirtschaftliche Entwicklung.

Als wir die Gelegenheit hatten, mit Ihnen und Ihren KollegInnen an der Renmin-Universität in Beijing zu diskutieren, hatten wir den Eindruck, dass einige Ihrer KollegInnen ein solches Modell der überbetrieblichen Regulierung nicht favorisierten. Sie argumentierten, dass das japanische oder südkoreanische Modell der Arbeitsbeziehungen aufgrund seiner stärker einzelbetrieblichen Orientierung besser zu den chinesischen Bedingungen passen würde als das deutsche, das durch ein höheres Maß tariflicher und gesetzlicher Regulierung gekennzeichnet sei und einen starken Staat voraussetze. Würden Sie sagen, dass ein starker Staat Voraussetzung für ökonomische Wohlfahrt ist? Und wie bewerten Sie die Deregulierungspolitik und die Orientierung an einzelbetrieblichen Lösungen?

CK: (lacht) Die Diskussion über die Rolle des Staates und die Frage, welches Modell der Interessenvertretung angemessen sei, gibt es auch in China. Einige verweisen darauf, dass es selbst im Kontext des deutschen Systems der Interessenvertretung mit seinen ausgeprägten staatlichen und gesetzlichen Elementen mittlerweile eine Tendenz zur Deregulierung gäbe. Dabei gibt es meines Erachtens zwei Voraussetzungen in den deutschen Arbeitsbeziehungen dafür, dass diese Deregulierung überhaupt funktioniert: Das erste sind die klaren und relativ umfassenden gesetzlichen Rahmenbedingungen, das zweite die relativ starken Gewerkschaften. Insbesondere das System der Flächentarifverträge auf Branchenebene und das Mitbestimmungsgesetz sind hier die ausschlaggebenden Faktoren. Vor diesem Hintergrund ist es überhaupt erst möglich, dass der Staat zurücktritt und Arbeit und Kapital die Verhandlungen und Entscheidungen überlässt.

Doch die Situation in China ist vollkommen anders. Zum einen haben wir in China kein umfassendes Rechtssystem in Bezug auf die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital. Zum anderen haben wir zwar seit 1994 das Arbeitsrecht, doch dessen Umsetzung lässt zu wünschen übrig. Sowohl Legislative als auch Exekutive sind insofern defizitär. Hinzu kommt, dass die Rolle der Gewerkschaften problematisch ist. Sie sind weit davon entfernt, die Interessen der ArbeiterInnen zu vertreten. In vielen Unternehmen werden die Gewerkschaften durch das Management kontrolliert. Und die Entwicklung von Tarifverhandlungen und Tarifverträgen ist ebenfalls noch nicht sehr weit gediehen, so dass wir darauf nicht zählen können. Hier verändert sich derzeit zwar Einiges, doch wenn wir alle diese Probleme lösen wollen, müssen wir weiter denken. Meiner Einschätzung nach ist staatliche Macht hier ausschlaggebend. Ich würde sagen: Wir brauchen mehr statt weniger gesetzliche Regulierung. Wenn in der Zukunft beide Seiten, Arbeit und Kapital, entwickelter sein werden, könnte die einzelbetriebliche Orientierung wieder eine größere Rolle spielen. Doch wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt mehr Deregulierung zulassen würden, werden sich die Arbeitskonflikte verschärfen.

KH: Um dieses Stichwort aufzugreifen: Welche Bedeutung hat der Aspekt der wachsenden Anzahl von »mass incidents« [1] für die neue Gesetzgebung? Hat die Zahl von 87000 »mass incidents«, über die in den Medien hier für das Jahr 2005 berichtet wird, die Regierung beeinflusst – nach dem Motto: Wenn das nicht eskalieren soll, dann müssen wir etwas tun für die Verbesserung der Interessenvertretung?

CK: Als wir das Arbeitsvertragsgesetz entwickelt haben, sind wir von einer Flut von weiteren »mass incidents« innerhalb kürzester Zeit ausgegangen. Im ersten Quartal dieses Jahres hat sich beispielsweise in Shenzhen im Süden Chinas die Zahl der Protestaktionen verdoppelt. Dieses Phänomen hängt mit dem steigenden Klassenbewusstsein zusammen, das wiederum auch eine Folge des Inkrafttretens des neuen Arbeitsvertragsgesetzes ist.

In den meisten dieser Konflikte haben die Beschäftigten begriffen, dass die Unternehmen arbeitsrechtliche Bestimmungen verletzt haben, z.B. die Arbeitszeitbestimmungen oder die Überstundenbezahlung. Viele Beschäftigte ziehen jetzt vor die Gerichte und klagen gegen die Unternehmen. Mit anderen Worten: Die Zunahme von Arbeitskonflikten ist auch Ausdruck eines steigenden Rechtsbewusstseins, weil die Beschäftigten mit dem neuen Gesetz ein Instrument in der Hand haben, gegen illegale Praktiken der Unternehmen zu protestieren. Normalerweise erfüllen die örtlichen Behörden die Forderungen der Beschäftigten – sofern die-se berechtigt sind. Üblicherweise sind es die Unternehmen, die gegen das Gesetz verstoßen, so dass es keinen Grund gibt, diese zu unterstützen. Wenn nun auch noch das Rechtsbewusstsein der Unternehmen zunimmt, ist davon auszugehen, dass die Zahl der Konflikte abnimmt.

Und, wie schon erwähnt, hat das Arbeitsvertragsgesetz darüber hinaus auch positive Auswirkungen auf das Klassen- und das Rechtsbewusstsein der ArbeiterInnen.

KH: Das hört sich so an, als ob die Beschäftigten über das Arbeitsvertragsgesetz informiert seien und ihre Rechte kennen würden. Wie ist dies gelungen? Auch in Deutschland gibt es viele Menschen – vor allem in Kleinbetrieben, gewerkschaftlich nicht Organisierte, BerufsanfängerInnen, gering Qualifizierte etc. –, die ihre Rechte nicht kennen. Wie ist es gelungen, dass die Beschäftigten in China ihre Rechte kennen?

CK: Es ist das erste Mal in China, dass ein Gesetz derartig weit verbreitet und publiziert wurde – und dass es eine solche öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Als wir den Entwurf des Gesetzes fertiggestellt hatten, haben wir ihn publiziert und die Bevölkerung dazu aufgerufen, ihre Meinung zu dem Gesetzentwurf abzugeben. Darüber hinaus haben Staat und Gewerkschaften Informationen über das Gesetz verbreitet. Hinzu kommt, dass die zahllosen Debatten im akademischen Bereich, im Internet und in den Medien auch die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Wir dürfen hier den technologischen Vorteil der modernen chinesischen Gesellschaft nicht vergessen: Die Bevölkerung hat und verschafft sich Zugang zum Internet. Insofern ist dieses Gesetz sehr weit verbreitet – nicht nur unter Beschäftigten, sondern auch unter Unternehmern.

KH: Siqi, Sie hatten in Ihrem Beitrag für den express (Nr. 12/2007) zu den vielfältigen Versuchen der Unternehmen, das Arbeitsvertragsgesetz zu umgehen, noch bevor es in Kraft getreten ist, Chang Kai zitiert, dass einige Unternehmen das Gesetz missverstanden hätten. So seien die Unternehmen vielfach davon ausgegangen, dass es künftig maximal zwei Befristungen in Folge geben darf. Dies sei von den Unternehmen so verstanden worden, als ob sie grundsätzlich nur noch unbefristete Verträge anbieten dürften. Das spricht nicht für einen hohen Grad an Informiertheit oder dafür, dass der Gehalt des Gesetzes verstanden worden ist. Wie ist es zu erklären, dass es zu diesen Umgehungen kam? Oder in anderen Worten: Könnte es sein, dass es sich nicht um ein Missverständnis handelt, sondern um den gezielten Versuch der Umgehung?

CK: Das ist kompliziert. In einigen Fällen ist es sicher so, dass die Unternehmen das Gesetz bewusst missverstehen. Das ist wahrscheinlich überall auf der Welt ein Teil des Spiels zwischen Kapital und Arbeit. Sie haben keine rechtlichen Grundlagen für ihr Verhalten – sie wollen sich einfach nicht anders verhalten. Es gibt sicher viele Unternehmen, die versuchen, das Gesetz zu umgehen bzw. dessen Folgen aus dem Weg zu gehen. Daneben gibt es aber auch eine Reihe von Bestimmungen im Rahmen dieses Gesetzes, die nicht klar genug sind in ihren Anwendungsbezügen.

KH: Könnten Sie ein Beispiel für solche Unklarheiten bzw. einen Nachbesserungsbedarf geben?

CK: Einige Bestimmungen sind einfach zu abstrakt, sie sind nicht klar genug hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit. Einige andere Bestimmungen sind noch nicht konsistent, es gibt noch Widersprüche zu den bisherigen oder in den neuen Formulierungen.

KH: Vor dem Arbeitsvertragsgesetz gab es bereits das Arbeitsrecht von 1994. Auch dies enthielt eine Reihe wichtiger Bestimmungen wie z.B. die 5-Tage-Woche im Rahmen einer 40-Stunden-Woche, eine Begrenzung von Überstunden auf maximal 36 Stunden pro Monat und maximal drei pro Tag etc. Als wir im Rahmen unserer Rundreise, insbesondere in Betrieben im Süden Chinas, mit GewerkschafterInnen gesprochen haben, berichteten sie uns, dass das Gesetz zwar gar nicht schlecht sei, dessen Bestimmungen praktisch jedoch oft nicht umgesetzt würden. Sie führten an, dass die Gewerkschaften selbst oft zu schwach seien, weil ihr Einfluss sich meist auf die ehemaligen Staatsunternehmen, die Danweis, beschränke, während sie in der Privatindustrie oft gar nicht vertreten wären. Wer soll also für die Einhaltung des neuen Gesetzes sorgen? Welche Kräfte in der Gesellschaft sollten ein Interesse daran haben, dessen Umsetzung zu kontrollieren?

CK: Auch die Frage nach den Grenzen des 1994er Gesetzes ist keine einfache Frage. Ein Grund ist, dass die Adressaten, die rechtlichen Durchführungsbestimmungen und die Konsequenzen einer Nicht-Beachtung zu unklar waren. So gibt es zum Beispiel die Vorschrift, dass ein unterzeichneter Arbeitsvertrag vorhanden sein muss, aber das Gesetz sagt nichts darüber, was passiert, wenn der Vertrag nicht vorliegt. Es gab keine Sanktionen für die Durchführung. Im Arbeitsvertragsgesetz hingegen gibt es klare Verpflichtungen und klare Sanktionen, falls diese nicht eingehalten werden. So müssen die Arbeitgeber jetzt, falls sie nicht innerhalb eines Jahres einen unterschriebenen Vertrag vorlegen, den doppelten Lohn zahlen, und das Arbeitsverhältnis wird automatisch auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag umgestellt. Diese Bestimmung ist einfach und effektiv. Jetzt sind es die Unternehmen, die sich beeilen müssen mit einem Vertrag – und nicht die Beschäftigten, die unter Druck stehen. Die Arbeitgeber stehen so unter Druck, das einige schon angerufen haben und wissen wollten, was passiert, wenn die Beschäftigten den Vertrag nicht unterschreiben wollen.

Ein anderes Beispiel sind die Entlassungen: Früher gab es keine Verpflichtung, Entschädigungen zu zahlen. Jetzt müssen sie die doppelte Entschädigungssumme zahlen – im Falle illegaler Entlassungen. Dieses Gesetz hat die Fähigkeit der ArbeiterInnen, ihre Rechte selbst zu schützen, gestärkt. Die ArbeiterInnen selbst sind es jetzt, die die wichtigste Kraft bei der Umsetzung des Gesetzes sind. Es ist darüber hinaus aber auch wichtig, die Möglichkeit und die Fähigkeit zur Umsetzung des Gesetzes in den Behörden und in den Gewerkschaften zu stärken.

KH: Hat jeder Beschäftigte als Individuum das Recht, sich zu beschweren bei Verstößen gegen das Gesetz? Oder muss die Beschwerde über die Gewerkschaft vorgetragen werden? Und bei wem sind Verstöße anzuzeigen: vor Gericht, vor der Arbeitsbehörde, vor der Betriebsleitung?

CK: Grundsätzlich hat jeder einzelne Beschäftigte seit 1994 das Recht, sich zu beschweren. Sie können auf Basis des 1994er Arbeitsrechts zunächst das betriebliche Mediationsverfahren wählen, das in jedem Unternehmen angeboten wird. Sie können aber auch den Weg der betrieblichen Verhandlungen über die gewerkschaftliche Interessenvertretung wählen oder, falls dies scheitert, direkt vor Gericht gehen.

KH: Ein Kollege von Ihnen, Wen Tiejun, schrieb über das Problem der Proletarisierung durch die MigrantInnen, die vom Land in die Städte gingen. Als wir mit ihm in Beijing sprachen, sagte er, es wäre nicht sinnvoll, den MigrantInnen vom Land die gleichen Rechte wie den registrierten StadtbewohnerInnen zu geben, also das Hukou-System aufzuheben, das die Sozialversicherungen an den Ort der registrierten Herkunft bindet. Das neue Arbeitsgesetz sagt, dass nun alle WanderarbeiterInnen am Arbeitsplatz die gleichen Rechte wie die registrierten StadtbewohnerInnen haben sollten. Wen Tiejuns These: Wenn alle LandbewohnerInnen die gleichen Rechte wie die StadtbewohnerInnen hätten, würden die Städte bzw. deren ökonomische Situation dies nicht verkraften. Seine Lösung: »Wir müssen Entwicklungsmöglichkeiten auf dem Land bieten und den MigrantInnen am Ort ihrer Herkunft Möglichkeiten zu einer nachhaltigen Subsistenzwirtschaft eröffnen.«

KH: Wie beurteilen Sie die Aufhebung des Hukou-Systems, d.h. die Gleichberechtigung der MigrantInnen?

CK: Meine grundsätzliche Überzeugung ist, dass die MigrantInnen am Arbeitsplatz die gleichen Rechte haben sollten wie die ortsansässigen Beschäftigten. Wenn man jedoch die dualistische sozialversicherungsrechtliche Situation auf dem Land und in den Städten berücksichtigt, gibt es besondere Probleme mit der Renten- und der Arbeitslosenversicherung. Diese sozialversicherungsrechtlichen Unterschiede können wir nur mit der Regierung auf gesetzlichem Wege Schritt für Schritt versuchen abzubauen. Doch in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse der einzelnen Beschäftigten sollten gleiche Rechte am Arbeitsplatz gelten. Und es ist gut, dass es im Arbeitsvertragsgesetz auch keine Diskriminierung der MigrantInnen mehr gibt.

KH: Sie haben den Slogan der »harmonischen Gesellschaft« erwähnt. Wie würden Sie die Situation der KP in der gegenwärtigen Situation nach den letzten beiden Volkskongressen beschreiben? Denken Sie, dass es dabei nach wie vor Bezüge zu einem wie auch immer inhaltlich bestimmten kommunistischen Selbstverständnis gibt, oder dass es eher darum geht, China im Rahmen eines globalen Standortwettbewerbs nach vorne zu bringen? Was ist mit der Rede von der »harmonischen Gesellschaft« gemeint?

CK: Der Slogan »harmonische Gesellschaft« ist auf pragmatisch-technische Gründe zurückzuführen. Kommunismus ist zwar der Bezugspunkt, doch es gibt bekanntlich keinen direkten Weg dorthin. Es handelt sich eher um eine Korrektur oder einen Ausgleich der voran gegangenen Phase, die wesentlich durch eine Orientierung an ökonomischem Wachstum geprägt war. Der Begriff der »harmonischen Gesellschaft« zielt auf eine soziale Balance in der Gesellschaft. Eine gesunde Gesellschaft beinhaltet sowohl ökonomisches Wachstum als auch soziale Gerechtigkeit. Die Regierung versucht, diese beiden Aspekte miteinander in Einklang zu bringen, das Arbeitsvertragsgesetz ist ein Ausdruck dessen.

KH: Eine letzte Frage: In der Bundesrepublik wird über die Frage diskutiert, ob Corporate Social Responsibility (CSR) bzw. überhaupt freiwillige Unternehmensvereinbarungen ein geeignetes Instrument zur Beeinflussung der Arbeitsverhältnisse sein können. In der IGM wird z.B. von Wolfgang Müller die These vertreten, dass deutsche ArbeiterInnen die Implementierung von CSR in China unterstützen sollten, weil dies im Sinne der anregenden Wirkungen eines »best practise«-Modells Auswirkungen auf die Universalisierung von Arbeitsstandards habe, solange Staat und Gewerkschaften zu schwach seien. Was denken Sie über das Verhältnis freiwilliger vs. gesetzlicher Auflagen für Unternehmen?

CK: In China gibt es keinen wirklichen Konflikt zwischen den beiden Ebenen, denn das Arbeitsvertragsgesetz beinhaltet alle Regulierungen, die auch in den CSR-Vereinbarungen formuliert werden. Umgekehrt: Wenn Unternehmen CSR oder andere freiwillige Unternehmensvereinbarungen abschließen wollen, können Sie das auf Basis des Arbeitsvertragsgesetzes tun und auch darüber hinaus gehen. Wir gehen davon aus, dass die treibenden Akteure der CSR-Bewegung die multinationalen Unternehmen sind. Sofern die vereinbarten Kodices zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten bzw. der ArbeiterInnenbewegung dienen, ist dies akzeptabel. Doch es ist absolut notwendig, dass CSR nicht kommerzialisiert, oder in andere Worten: als Alibi benutzt wird.

KH: Dazu das Beispiel von Mattel: Mattel hatte Probleme mit Blei-verseuchter Farbe in Kinderspielzeug. Es gab viele Klagen über diese giftige Farbe, sowohl bei KonsumentInnen als auch bei ProduzentInnen, doch Mattel hat sich auf den Standpunkt zurückgezogen, dass die Zulieferer für diese Produktionscharge verantwortlich gewesen seien, und dass es eine eigene Zertifizierungsagentur gebe, die in diesem Fall versagt habe, weil sie die Zulieferer nicht ordentlich geprüft habe. Mattel behielt also eine weiße Weste, während der Zulieferer aufgrund der zurückgehenden Aufträge Leute entlassen hat – alles auf Basis eines zertifizierten CSR-Abkommens.[2]

CK: Wir haben diesen Fall, dass CSR als Werbung benutzt wird, oft. Das zeigt uns, dass kein Unternehmenskodex eine unabhängige ArbeiterInnenbewegung und starke Gewerkschaften ersetzt. Deshalb haben wir versucht, die betrieblichen oder unternehmerischen Anforderungen zur Unternehmensverantwortung auf gesetzlicher Ebene, d.h. im Arbeitsvertragsgesetz zu verankern.

KH: Wir danken für dieses Gespräch – insbesondere auch der Übersetzerin, Siqi Luo

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/08


(1) Als »mass incidents« gelten »wilde Streiks« – also, da Streiks verboten, alle Arbeitsniederlegungen oder Protestmanifestationen am Arbeitsplatz oder darüber hinaus -, aber auch das häufig mit Enteignungen verbundene Einreichen von Petitionen, von Demonstrationen und Protestaktionen aller Art, die statistisch erfasst werden.

(2) Vgl. Anne Scheidhauer: »CSR, CoC, prima Gesetze...«, in express 5/2008


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