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Updated: 18.12.2012 15:51
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»1,2,3,4 Maos on the cap«

Spurensuche im ›Musterländle‹ China

Antworten auf Fragen der express-Redaktion von Eva-Maria Bruchhaus*

I. Mit welchen Fragen bist Du nach China gereist? Wo lagen die Schwerpunkte Deines Interesses?

Losgefahren bin ich mit einer immensen Neugier, mit einem Riesenspektrum an Erwartungen bzw. Fragen.

Aber es gab natürlich Schwerpunkte und Schlüsselfragen, die sich aus meiner Arbeitswelt herleiten, d.h. der Entwicklungspolitik und hier speziell ländliche Entwicklung, bäuerliche Landwirtschaft und die Situation der Frauen. Dabei muss ich ziemlich weit zurückgehen, bis Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre, also vor 1968. Ich lebte damals in Frankreich, wo in jenen Jahren mehr als in den USA und Europa – außer vielleicht in Großbritannien – über Entwicklungsmodelle und -strategien diskutiert wurde. Das hing mit dem so genannten »wind of change« zusammen, der auch in den ehemaligen französischen Kolonien wehte und zur Unabhängkeit führte. Der Kapitalismus erschien den wenigsten als geeigneter Entwicklungsweg, und das Industrialisierungsmodell der Sowjetunion hatte ebenfalls wenig Überzeugungskraft, während das chinesische Modell eine überwältigende Ausstrahlung besaß. Das lag sicher auch daran, dass die Chinesen zur nicht-weißen Welt gehörten: Falls es ihnen gelingen sollte, Jahrhunderte währendes Elend zu überwinden, dann hätte das gigantische Auswirkungen auf die ganze 3. Welt. Auch weil damit die Hoffnung verbunden war, dass der Kommunismus »in China vielleicht eine menschlichere Form annimmt als in der UdSSR«, wie es Pierre Moussa, Autor von »Les Nations Prolétaires« – eines der Standardwerke jener Zeit – ausdrückte. [1] Es gab also einen »Mythos China«, ehe es westeuropäische Maoisten gab.

Geografisch lag und liegt mein Studien- und Arbeitsschwerpunkt in Afrika. Deshalb interessierten und interessieren mich in diesem Zusammenhang vor allem folgende Fragen: Welche Rolle haben die Bauern in der chinesischen Revolution gespielt – waren sie Akteure oder Manövriermasse? Taugt die ländliche Industrialisierung, die nicht auf kapitalintensive Technisierung, sondern auf Einsatz geschickter menschlicher Arbeitskraft baut, als Entwicklungsmodell? Wie weit kommt eine selbstbestimmte Entwicklung ohne materielle Anreize aus, bzw. gibt es freiwillige, selbstbestimmte Arbeits- und Dienstleistungen zum Wohle der Gemeinschaft? Damit hängt auch die Frage nach der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Vergesellschaftung von Reproduktionsaufgaben zusammen. Auch diese Fragen hängen mit ziemlich weit zurückliegender Lektüre zusammen. Eines der Bücher, die wir Anfang der 70er Jahre verschlungen haben, war »Die Hälfte des Himmels – Frauenemanzipation und Kindererziehung in China« von Claudie Broyelle.[2] Auch hier wurden die Entwicklungen in China als beispielhaft dargestellt, nicht nur für die Länder der Dritten Welt, sondern auch für Europa.

II. Welche Antworten hast Du durch die Reise, die Gespräche und Besichtigungen erhalten?

Es konnte nicht darum gehen, umfassende Antworten auf die oben genannten Fragen zu bekommen – dazu war die Reise viel zu kurz. Aber ich hatte gehofft, Hinweise auf zumindest Spuren der Veränderungen zu finden, die ein so gewaltiges gesellschaftliches Experiment, wie es die chinesische Revolution war, un-weigerlich hinterlassen haben musste. Was ist bei dieser Spurensuche herausgekommen? Eigentlich nichts Substantielles. Ich denke, dass es sich vor allem um Spuren handelt, die, von außen unerkennbar, das Leben der Menschen bestimmen – und vielleicht merken sie es manchmal selbst nicht. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Kulturrevolution, die für uns eine der markantesten Etappen darstellt. Bei einem persönlichen Gespräch mit Zeitzeugen haben wir zwar erfahren, wie sie diese Periode damals erlebt haben, wie die Kulturrevolution ihre Lebensumstände geprägt hat. Aber was haben die Inhalte, die damals vermittelt wurden, in ihrem Denken und Fühlen heute hinterlassen? Das blieb für uns unsichtbar.

Die für uns sichtbaren Spuren dagegen sind eher befremdend, auch weil sie teilweise entfremdet sind. Z.B. die olivgrüne Maokappe mit den vielen Anstecknadeln, die mir ein Mitreisender geschenkt hat: ein typisches Souvenir, das die fliegenden Händler den Touristen anbieten. Beim Spazierengehen und Einkaufen wurde sie kaum beachtet, nur bei jungen Chinesinnen hat sie Aufsehen erregt und mir Sympathie eingebracht: »oh, you have 1, 2, 3, even 4 Maos on your cap!«.

Weitaus verwirrender waren die Ergebnisse der Spurensuche in Dazhai, dem ehemaligen Musterdorf in der Provinz Shanxi. Lange Zeit galt es als das sozialistische Modell ländlicher Entwicklung. Die 400 Einwohner dieses Bergdorfs hatten 1964 unter der Anleitung eines der Ihren und mit dem Motto »eigene Kraft erneuert das Leben« Terrassen und Bewässerungskanäle gebaut, Obstbäume und Maulbeerbäume auf die Terrassen gepflanzt, Seidenraupen und Bienen gezüchtet. Aber getreu der damaligen Devise von der ländlichen Industrialisierung haben sie auch Bauxit abgebaut und eine Werkstatt für Landmaschinen eingerichtet. Davon haben wir nichts mehr sehen können. In den 60er und 70er Jahren war Dadzai eine der großen nationalen Pilgerstätten. Ministerpräsident Dzhou En Lai war öfter zu Besuch, oft mit hochrangigen internationalen Delegationen, wie in dem stattlichen Dorfmuseum mit endlosen Fotoreihen dokumentiert. Auch das Gästehaus, in dem die illustren Gäste untergebracht wurden, ist heute ein Museum. Jedes zweite Haus ist ein Andenkenladen, mit endlos laufenden alten Fernsehreportagen über die Kulturrevolution, in denen Videos, Anstecknadeln und die üblichen Devotionalien an die Touristen verkauft werden. Davon lebt Dadzai heute. Chen Yonggi, mit dem 1964 alles begonnen hatte, und der 1973 Mitglied des Politbüros der KPCh wurde, starb 1986 auf einer Staatsfarm in der Nähe von Beijing, wohin er 1984 verbannt worden war. Das Dorf hat ihm ein eindrucksvolles Totenmal errichtet, das offensichtlich viele Pilger anzieht. Über die Verbannung seines Vaters allerdings wollte oder konnte sein Sohn nicht reden.

III. Welche Fragen hast Du aus China wieder mitgenommen? Sind neue Fragen hinzu gekommen? Welche Widersprüche konntest/musstest Du wahrnehmen?

Das »Neue China« kann sicher kein Entwicklungsmodell für Länder der so genannte Dritten Welt sein. Darauf wird noch zurückzukommen sein, wenn es um die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus geht.

Ein wichtiges Element sozialistischer Entwicklungskonzeptionen ist die Solidarität und der freiwillige Einsatz – ohne materielle Anreize – zum Wohl der Gemeinschaft. Ich erinnere mich an zahlreiche Aussagen westlicher China-BesucherInnen aus den 70er Jahren, in denen die beispiellose Solidarität und Hilfsbereitschaft der ChinesInnen beschrieben wurde. Da wurde von selbstorganisierten Dienstleistungsbrigaden berichtet, die kochten, wuschen, unterrichteten, gegen ein ganz geringes Entgelt oder kostenlos. Uns sind keine Beispiele dieser Art begegnet, und es kann bezweifelt werden, dass sie den Wandel überlebt haben. Oft wiesen unsere chinesischen Gesprächspartner darauf hin, dass heute für alles bezahlt werden müsse, dass Geld die einzige Motivation für Leistung darstelle. Aber wir haben auch ein Beispiel für Solidarität angetroffen, bei der Initiative der WanderarbeiterInnen am Stadtrand von Peking, wo neben entlohnten MitarbeiterInnen auch Freiwillige arbeiten, z.B. StudentInnen. Ich denke, das wäre auch ein Feld, das zu bearbeiten sich lohnen würde.

IV. Wie würdest Du die Situation der staatlichen chinesischen Gewerkschaft beurteilen, a) in Bezug auf die Wanderarbeiter, b) in Bezug auf die Rahmenbedingungen und die Form der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und c) in Bezug auf ihre Rolle im Verhältnis Partei, Gewerkschaft, Kapital?

Bei der chinesischen Einheitsgewerkschaft handelt es sich um eine typische so genannte »Massenbewegung«, wie sie in allen Ländern mit autoritären Einparteienregierungen existieren: je eine Organisation für die Frauen, die Jugend, die Bauern und eben auch für die Arbeiter, die den Transmissionsriemen für die Anweisungen der Regierung in die Betriebe darstellen. Interessanterweise ist die chinesische Gewerkschaft nur in einem Bruchteil der Unternehmen verankert. Sie ist also nicht einmal ein Papiertiger und somit keine Gefahr für die Unternehmen. Insofern ist auch das Selbstverständnis der Gewerkschaften nicht erstaunlich, wie es uns in praktisch allen Gesprächen mit Gewerkschaftsvertretern begegnet ist: Sie verstehen sich als Brücke zwischen Arbeitskräften und Unternehmen bzw. Management. Teilweise ist das Management sogar Teil der Betriebsgewerkschaft. Hauptzweck der Gewerkschaft ist es, den Betriebsfrieden zu wahren. Zu diesem Zweck werden generell einmal im Jahr Personalversammlungen einberufen, auf denen die ArbeiterInnen und Angestellten – bei Honda heißen sie übrigens »associates«, also Partner, Teilhaber – Vorschläge, Klagen, Wünsche vortragen können, und wo der anwesende Chef Auszeichnungen und Preise verteilt. Es ist bezeichnend, dass – zumindest nach meinen Kenntnissen – kein einziger der Tausenden von Arbeitskonflikten, die in den letzten zehn Jahren stattfanden und weiterhin stattfinden, von der Gewerkschaft initiiert wurde. Das scheint logisch, da es kein Streikrecht gibt. Was wir dagegen gesehen haben – im Fall eines wilden Streiks in einem Zulieferbetrieb von Nokia in Shenzhen –, war, wie die Gewerkschaft auf den fahrenden Zug aufgesprungen ist und die Streikenden gerade mal mit einem Spruchband unterstützt hat. In diesem Fall ging es u.a. um die Durchsetzung der Forderung nach Auszahlung des Grundlohns von 70 Euro im Monat, wenn die Produktionsziele erreicht werden, und um die Nachzahlung von Nachtzulagen. Es handelte sich also um die Durchsetzung gesetzlich verankerter Forderungen, die sich eigentlich jede Gewerkschaft zu eigen machen sollte. Diese abwartende Haltung entspricht voll der offiziellen Gewerkschaftspolitik, wie uns auch in verschiedenen Gesprächen mit Gewerkschaftsvertretern bestätigt wurde.

Das Verhältnis Partei – Gewerkschaft – Kapital möchte ich mit den Worten der PR-Frau von Honda beschreiben, die uns informierte, dass die Beziehungen zwischen dem Unternehmen und der Gewerkschaftsvertretung im Betrieb »under the loving care of the government« stattfinden. Das ist sicher nicht immer und überall der Fall, aber so soll es offensichtlich sein. Wobei die liebevolle Fürsorge der Regierung offensichtlich mehr der Kapitalseite gilt. Das geht auch daraus hervor, dass in Fällen von Beschwerden bei den Arbeitsbehörden über die Verletzung von Arbeitnehmerrechten – vor allem bei Arbeitsunfällen – in der Regel die Unternehmensseite Recht bekommt und Strafen verhältnismäßig gering ausfallen. Das hängt damit zusammen, dass die Provinzregierungen von der Zentralregierung Planvorgaben erhalten, die das Volumen der Investitionen festlegen, die während des Planungszeitraums in der Provinz getätigt werden sollen. Da will man es sich verständlicherweise nicht mit den Investoren verderben.

V. Was würdest Du als aktuelle Hauptaufgaben bzw. Probleme der Gewerkschaften bezeichnen?

Hauptaufgabe ist in meinen Augen die Durchsetzung der Arbeitnehmerrechte, entsprechend dem kürzlich verabschiedeten Arbeitsvertragsgesetz, und zwar für alle Arbeitenden. Damit hätte die Gewerkschaft über Jahre hinaus genug zu tun. Da sie aber Teil des Systems ist, in dem Kapital und Regierung am selben Strang ziehen, wird die Bewältigung dieser Aufgabe zur Sisyphusarbeit, darin liegt m.E. das Hauptproblem.

Deshalb hat die Gewerkschaft auch kein Interesse an Selbstorganisation von ArbeiterInnen, weder auf betrieblicher noch außerbetrieblicher Ebene. Diese Initiativen werden eher von Nichtregierungsorganisationen (NRO) ergriffen bzw. unterstützt, die oft außerhalb der VR angesiedelt sind. Sinnvoll wäre es, diese Organisationen zu fördern, sowohl finanziell als auch durch Austausch, auch weil sie offensichtlich sehr viel mehr über die Globalisierungszusammenhänge wissen. Das befähigt sie auch eher als die Gewerkschaften, an Konzeption und Umsetzung solidarischer Aktionen mitzuarbeiten. Nehmen wir den Giftskandal bei der Spielzeugproduktion. Hier wurden von den Gewerkschaften generell die Zulieferfirmen verantwortlich gemacht, aber es wurde meist versäumt, darauf hinzuweisen, dass die Auftraggeber, in diesem Fall die Firma Mattel, den Preis bestimmt, zu dem produziert werden muss. Diese Vorgaben der Auftraggeber gegenüber ihren Zulieferern haben nicht nur schädliche Auswirkungen auf die KäuferInnen, sondern auch auf die ArbeiterInnen in diesen Firmen. Dieses Problem könnte international eher mit NRO als mit der chinesischen Gewerkschaft thematisiert werden. Ähnlich verhält es sich aber auch umgekehrt: Unterstützung für am Rande der Legalität arbeitende Initiativen von WanderarbeiterInnen wie diejenige, die wir am Stadtrand von Peking besucht haben, kann kaum von deutschen oder anderen europäischen Gewerkschaftsverbänden erwartet werden, sie kommt vor allem von so genannten INGOs (internationalen Nichtregierungsorganisationen), wie in diesem Fall OXFAM.

Das liegt sicher auch daran, dass diese Organisationen oft ein umfassenderes und tieferes Verständnis von der Bedeutung und den Auswirkungen der Globalisierung haben als die Gewerkschaften, nicht nur in China. Letztere haben – wie die Arbeitgeberseite – meist nur die eigenen Löhne und Arbeitsbedingungen bzw. ihre Wettbewerbsfähigkeit im Blick. Bezeichnend dafür war auch die Antwort der Gewerkschaftssekretärin von Guangzhou (Kanton) auf die Frage, wie Gewerkschaften auf die Drohungen der Investoren reagieren sollten, ihr Unternehmen ins Ausland zu verlagern: »durch Qualifizierung, um in den verbleibenden Unternehmen Arbeit zu finden.« Ich denke, dass es vor allem deshalb so schwierig ist, gemeinsame solidarische Aktionen zu konzipieren. Wie kann man z.B. eine internationale Kampagne gegen Lohndumping erwägen, wenn zwischen den Löhnen in derselben Branche ein Unterschied von 1:10 und mehr besteht, ganz zu schweigen von den Arbeitsbedingungen? Das kann nur thematisiert werden, wenn alle anderen Aspekte auch berücksichtigt werden.

VI. Wie schätzt Du die Situation in den ländlichen Regionen bzw. Provinzen bzw. die Perspektiven für deren Entwicklung ein? Wie würdest Du die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Konzepte zur ländlichen Entwicklung beurteilen?

Besonders brisant erscheint mir die Frage nach der ländlichen Entwicklung, die sich ja vor allem deshalb aufdrängt, weil immer noch mehr als die Hälfte der chinesischen Bevölkerung auf dem Land lebt, während immer weniger vom Land leben können. Nach der Phase der ländlichen Industrialisierung, mit den dörflichen Stahlwerken und anderen innovativen, aber teilweise wirklichkeitsfremden Initiativen, gab es in den 80er Jahren die Politik der TVI (Township and Village Industries), deren hauptsächliches Ziel es war, für die ländliche Bevölkerung Lohnarbeit zu schaffen, als zusätzliche Einkommensquelle zur Landwirtschaft. Damit wurden die Kleinbauern zu Nebenerwerbslandwirten. Der Vorteil lag darin, dass sie beides zugleich machen konnten – und sie blieben in ihrer Umgebung. Das wiederum sollten sie ja auch: Das »Hukou«-System, also die Registrierung ›am Ort‹, auf der die Sozialversicherungen basieren, ist darauf zugeschnitten.

Es gibt offensichtlich immer noch solche TVI-Betriebe, doch die Politik setzte Anfang der 90er Jahre eindeutig auf kapitalintensive Investitionen in speziellen Wirtschaftszonen und Industrieparks im Süden und an der Ostküste. Diese »Reformen« bedeuteten nach Aussagen unseres Gesprächspartners Prof. Wen Tiejun von der Renmin-Universität in Peking den Kollaps der TVIs und den Beginn der Arbeitsmigration. Die Arbeit kam nicht mehr zu den Arbeitskräften, sondern die Arbeitskräfte mussten sie oft Tausende von Kilometern weit entfernt suchen. Gleichzeitig verloren viele Bauern ihr bisschen Land durch Enteignungen ohne angemessene Entschädigung, für Infrastrukturvorhaben und Städtebau – und in jüngster Zeit z.T. wieder durch Industrieansiedlungen. Dies betraf in den letzten zehn Jahren 40 – 60 Millionen Bauern, und die Tendenz hält an: Erst am 15. Oktober 2007 ging die Meldung durch die Medien, dass die chinesische Regierung bis zu vier Millionen AnwohnerInnen des umstrittenen Drei-Schluchten-Staudamms zusätzlich zu den bereits 1,4 Millionen umsiedeln will. Viele von den umgesiedelten Bauernfamilien werden nicht wieder in der Landwirtschaft arbeiten. Sie können nur als Land- bzw. WanderarbeiterInnen ihren Lebensunterhalt verdienen.

Bereits heute gibt es 150 Millionen (manche nennen 200 Millionen) WanderarbeiterInnen in den Ballungszentren. Die Mehrheit von ihnen kommt vom Land, wo sie in der Regel ihre Familien zurücklassen. Die Landflucht erklärt sich einmal daher, dass das Land – eine Familie bewirtschaftet nicht einmal einen Hektar – nicht ausreicht, um eine Familie zu versorgen, und dass es auf dem Land immer noch kaum Gelegenheiten gibt, das zur Familienversorgung notwendige zusätzliche Geld zu verdienen. Die Regierungspolitik setzt auf großflächige Mechanisierung der Landwirtschaft. Das wird zur Konzentration in der Landwirtschaftsproduktion, zur Aufgabe der meisten kleinen Familienbetriebe und somit zu weiterer Abwanderung führen. Was wird aus den Hunderten Millionen WanderarbeiterInnen, die von einer Baustelle zur nächsten, als Hilfsarbeiter und Haushaltshilfen durch die Lande ziehen, weitgehend recht- und schutzlos? Professor Wen äußerte die These, in China habe sich das Industrieproletariat, d.h. die ehemaligen ArbeiterInnen in den staatlichen Industriebetrieben, zu einer neuen Mittelklasse entwickelt. Dafür gebe es ein neues Proletariat: ein duales, das aus den aus den Landgebieten migrierenden WanderarbeiterInnen und den zurückgebliebenen, gleichermaßen diskrimierten LandbewohnerInnen bestehe.

Und vor allem: Was wird aus den WanderarbeiterInnen und den Bauern, wenn sie alt sind? Nur die jungen WanderarbeiterInnen finden Arbeit, und sie haben kein Anrecht auf Altersversorgung, genausowenig wie die auf dem Land Zurückgebliebenen, weil davon ausgegangen wird, dass diese von ihrem Land leben können. Die Jungen werden die Alten nicht versorgen können, weil sie keine Arbeit mehr finden, und die Alten können nicht mehr vom Land leben, weil sie es verloren haben werden.

Darüber hinaus habe ich nicht den Eindruck, dass es ein spezielles Entwicklungskonzept für die ländlichen Gebiete gibt, zumindest gibt es keine Anzeichen für Vorstellungen und Planungen, die sich von der allgemeinen Entwicklung unterscheiden, die unter dem Motto »big is beautiful« zu stehen scheint. Das heißt konkret: Konzentration der Flächen und Betriebe, intensive Bewirtschaftung mit größtmöglicher Mechanisierung und massivem Einsatz von Chemiedünger und Pestiziden/Herbiziden. Die Folgen kennen wir aus eigener und anderer Erfahrung.

Wie könnte ein alternatives Konzept aussehen? Ich denke, die TVI waren eine gute Idee. Dadurch kamen zusätzliche Verdienstmöglichkeiten aufs Land, und es wurden ja hauptsächlich einfache Gebrauchsgüter produziert, die wiederum das Leben auf dem Land erleichterten. Die Menschen konnten in ihrer familiären Umgebung bleiben und damit auch ihre affektiven Bedürfnisse befriedigen.

Und die Idee einer menschenbezogenen ländlichen Entwicklung in China lebt weiter. Unser Gesprächspartner Wen Tiejun ist überzeugt, dass es nur der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zu verdanken sei, dass es möglich war, den Hunger zu besiegen. Außerdem sei die kleinbäuerliche Landwirtschaft umweltschonender als die großflächigen Monokulturen unter Einsatz von Mechanisierung, Chemiedünger und Pestiziden. Es sei auch demokratischer, wenn die Bauern und Bäuerinnen sich organisieren und selbst über ihre Produktionsweise und -ziele bestimmen könnten. Er selbst ist mit seinen Studenten in einer solchen Bewegung engagiert, die in die 20er-30er Jahre zurückreicht. Schade, dass wir das »Rural Reconstruction Center« nicht sehen konnten, wie ursprünglich vorgesehen, um uns ein Bild davon machen zu können.

Angesichts des äußerst robusten Kapitalismus, dem sich die chinesische Regierung verschrieben hat, besteht allerdings kaum Hoffnung, dass sich diese Vision einer menschen- und umweltgerechten ländlichen Entwicklung verwirklichen lässt. Die Frage, die mich am meisten beschäftigt, ist insofern die Systemfrage, aber ich denke, die muss am Ende gestellt werden.

VII. Welche Bedeutung hat die Geschlechterfrage vor dem Hintergrund der behaupteten Gleichberechtigung in Bezug auf die Wanderarbeiterproblematik bzw. der ländlichen Entwicklung? Welches Konfliktpotential würdest Du hier sehen?

Ich möchte hier mit einer Aussage des bereits erwähnten Buches von Claudie Broyelle »Die Hälfte des Himmels – Frauenemanzipation und Kindererziehung in China« von 1973 beginnen. Sie stammt aus dem Vorwort von Han Suyin, der damals bekanntesten chinesischen Autorin, die von der »tiefen Transformation« des Geschlechterverhältnisses in China spricht, vom »großen Sprung nach vorn der chinesischen Frauen«, in dem es nicht nur um »die Gleichberechtigung mit den Männern«, u.a. »wegen ökonomischer Vorteile« ging, sondern um eine andere, eine sozialistische Gesellschaft. Das wirft mehr als nur die Frage nach dem derzeitigen Stand der Gleichberechtigung auf. Dazu ist es sicher nützlich, zu den zwei wichtigsten Veränderungen zurückzugehen: zur rechtlichen Abschaffung von Diskriminierung und Missbräuchen in der Ehe und zur politischen Förderung der Geschlechtergleichheit im ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich. Durch das »Gesetz über die Ehe« von 1950 wurden Bigamie und Konkubinat sowie Kinder- und Zwangsheirat verboten. Als Voraussetzung für eine Ehe galt – und gilt – das gegenseitige freiwillige Einverständnis, Scheidungen sind kostenlos. Parallel dazu führte die Partei eine Kampagne zur Gleichstellung im ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich durch, die auch konkrete Angebote enthielt, z.B. Kinderkrippen, Schwangerschaftsurlaub, Ausbildung in bis dahin Männern vorbehaltenen Berufen, Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb und in der Partei. Eine komplementäre, in der damaligen Zeit als logisch und richtig erachtete Maßnahme, die uns heute als ungeheuerlich erscheinen mag, war die Zerschlagung der Familie als (Re)Produktions- und Konsumptionseinheit. Das geschah vor allem durch Auslagerung von bis dato durch Frauen erbrachte häusliche Dienstleistungen und die Schaffung von landwirtschaftlichen Produktionsbrigaden. Diese Politik wurde damals auch von westlichen Feministinnen begeistert begrüßt und zur Nachahmung empfohlen.

Leider gab es auf unserer Reise keine Gelegenheit, auch nur ansatzweise zu überprüfen, was davon übriggeblieben ist. Dazu bräuchte es weitaus mehr Zeit. Gleichwohl fiel mir auf, dass unter den Kadern, die wir trafen – sowohl auf Gewerkschaftsseite, im Management, von der Partei und den NRO – viele kompetente, überwiegend jüngere Frauen waren, die meist auch recht selbstbewusst auftraten. In den Frauenmagazinen werden zahlreiche Beispiele von erfolgreichen Unternehmerinnen vorgestellt, und auch an den Universitäten unterrichten viele Frauen, allerdings weniger in Spitzenpositionen, und sicher auch in unterschiedlichem Maß, abhängig von den Fächern. In der Industrieproduktion finden sich nach Aussagen der Gewerkschaftsvertreter in Gouangzhou mehr Männer in höheren Gehalts- und Lohnstufen als Frauen. Durchschnittlich verdienen Frauen zehn Prozent weniger als Männer und sind meist in arbeitsintensiven Industrien mit niedrigen Löhnen und in Teilzeit beschäftigt. Im Gegensatz zu den in den früheren Staatsbetrieben vorhandenen Kinderkrippen gibt es heute keine betrieblichen Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder, und die meist privaten Kindergärten kosten mehr oder weniger viel Geld, je nach Qualität und Angebot. Parallel dazu wächst der Bedarf der einkommensstarken Schichten an Dienstpersonal für den Haushalt. Um diesen Bedarf zu be-friedigen, werden in einigen ländlichen Regionen für migrationswillige Mädchen Kurse für Hausmädchen angeboten, während die Männer Ausbildung in Wachdienst und Gartenpflege bekommen. Man kann es »kapitalistische Normalisierung« nennen, es laufen die gleichen Prozesse wie überall ab. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Entstehung – oder ist es eine Wiederbelebung? – von Wohnbezirken, in denen überwiegend »Konkubinen« reicher Geschäftsleute, oft aus Hongkong, wohnen.

Noch schwieriger ist es, die Situation auf dem Land einzuschätzen. Ich habe keine verlässlichen Angaben darüber, wie sich die WanderarbeiterInnen nach Geschlecht aufteilen. Nach unterschiedlichen Angaben sind zwischen 60 und 70 Prozent von ihnen Männer. In den besuchten Dörfern waren es auch fast ausschließlich die Männer, die abwanderten. Nach anderen Quellen nimmt jedoch der Anteil der jungen Frauen zu. Wahrscheinlich ist das unterschiedlich, je nach Region bzw. Nachfrage. Manchmal gehen auch Ehepaare gemeinsam auf Arbeitssuche, aber das dürfte eher die Ausnahme sein, weil ein Ehepartner das Land bestellen und die zurückgebliebenen Familienangehörigen versorgen muss. Dieser Prozentsatz dürfte jedoch mit zu-nehmender Landlosigkeit auf Grund von Umsiedlungen wachsen. Auf jeden Fall kann davon ausgegangen werden, dass die Arbeitsbelastung des zurückgebliebenen Ehepartners durch produktive und reproduktive Aufgaben zunimmt, auch wenn ein Teil dieser Arbeit von den Großeltern übernommen werden kann. Falls diese jedoch zu Pflegefällen werden, wird die Arbeitsbelastung noch größer. Vom abgewanderten Ehepartner, der oft Tausende von Kilometern weit entfernt arbeitet und nur einmal im Jahr nach Hause kommt, meist zur Erntezeit, ist nur finanzielle Unterstützung zu erwarten, die allerdings den Löwenanteil des monetären Einkommens ausmacht. Das hat natürlich auch Folgen für die Beziehungen zwischen den Ehepartnern. In dem Film »Still Life« von Jia Zhang-Ke (der gerade in unseren Kinos läuft) stehen zwei Ehepaare im Mittelpunkt, deren Ehe durch die Migration zerbrochen ist. Es gibt zu denken, dass diejenigen in unserer Gesellschaft, die gleichzeitig die Notwendigkeit der Flexibilisierung der Arbeit unter dem Zwang der Globalisierung und die Notwendigkeit des Schutzes von Ehe und Familie predigen, darüber hinwegsehen, wie das Eine das Andere zerstört.

VIII. Welche Auswirkungen werden Deines Erachtens Entwicklungen in China auf die (Weiter-) Entwicklung des Kapitalismus haben?

Welche Auswirkungen werden die Entwicklungen in China auf den Kapitalismus haben? Eine schwierige Frage, der ich eine Gegenfrage entgegenstellen möchte: Was hat die Entwicklung in China mit Sozialismus zu tun? Denn die chinesische Führung behauptet ja, dass die derzeitige Entwicklung eine Phase auf dem Weg zum Sozialismus darstellt: Erst müssten die Mittel geschaffen werden, die später umverteilt werden können – was als »Sozialistische Marktwirtschaft« bezeichnet wird. Ich behaupte, dass das purer Etikettenschwindel ist. Das chinesische System ist ein eindeutig kapitalistisches, gekennzeichnet durch wachsende Ungleichheit, d.h. Verarmung auf der einen und Macht- und Geldkonzentration auf der anderen Seite. Das wird nicht durch Parteibeschluss umzukehren sein, wenn die Regierung bzw. die Partei entscheidet, dass der Zeitpunkt für die Umverteilung gekommen ist. Es ist diese gewollte Ungleichheit zwischen Land und städtischen Ballungs- und Wachstumszentren, zwischen bäuerlicher Bevölkerung und WanderarbeiterInnen einerseits und relativ gut bezahlten Fachkräften, aber vor allem Kapitaleignern mit Spitzengewinnen andererseits, die den chinesischen Entwicklungsmotor darstellt. Anders ausgedrückt: Es ist das Ausmaß an Ausbeutung unter der Führung der KPCh als kapitalistischer Staatsklasse, die wiederum eine stabile politische Lage garantiert, welche die chinesische Variante des Kapitalismus zu einer besonders erfolgreichen Form dieses Wirtschaftssystems macht. Letztendlich ist es die Macht der Partei, die den Unterschied zu den anderen kapitalistischen Volkswirtschaften ausmacht. Die Entscheidung des gerade abgeschlossenen Parteitags, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Zukunft auch soziale und Umweltfaktoren berücksichtigen soll, bedeutet keinen Richtungswechsel, sondern dient lediglich der Abfederung von wachsender Unzufriedenheit und Schäden, die das reibungslose Funktionieren des Systems beeinträchtigen könnten.

21. Oktober 2007

Eva-Maria Bruchhaus hat als Redakteurin im Afrikaprogramm der Deutschen Welle gearbeitet und war dann als Beraterin von Entwicklungshilfeorganisationen überwiegend in Afrika tätig. Jetzt ist sie im Ruhestand und im Vorstand von medica mondiale, einer Frauenorganisation, die sich für die Opfer von sexualisierter Gewalt in Kriegs- und Krisengebieten einsetzt.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10-11/07


(1) Pierre Moussa: »Les Nations Prolétaires«. Paris, PUF. 1959

(2) Claudie Broyelle: »Die Hälfte des Himmels – Frauenemanzipation und Kindererziehung in China«, Berlin, 1973


Siehe dazu auch:


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