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Updated: 18.12.2012 15:51
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Zhengzhou gegen Wall Street

Chinas Linke solidarisiert sich mit den Protesten in New York – und streitet über den Umgang mit der eigenen Elite

Die Demonstrationen gegen die Finanzoligarchie, die seit Mitte September in New York anhalten, haben in den US-Medien anfangs wenig Aufmerksamkeit gefunden. Starke Resonanz kam jedoch prompt aus China, wo ein Solidaritätsaufruf der linken Opposition Furore machte. Er blieb nicht folgenlos: Am 6. Oktober demonstrierten in Zhengzhou mehrere hundert Personen für die Unterstützung der „Wall Street Revolution“. Zwei Tage später folgte eine Kundgebung in Luoyang. Niemals seit Maos Tod war die Linke in China so stark wie heute. Aber sie ist auch zerstritten.

Chinas Staatsmedien behandeln Massenproteste im Ausland in der Regel sehr zurückhaltend – die Angst vor Nachahmungseffekten sitzt tief. Immerhin erlaubte sich ein Korrespondent der englischsprachigen China Daily ein paar bissige Bemerkungen zu der Frage, wieso denn in den USA, die sich als Musterland der Informationsfreiheit aufführen, von den Demonstrationen im Zentrum der ökonomischen Macht und der nicht unerheblichen polizeilichen Repression gegen sie so wenig zu hören war.

In der zweiten Oktoberwoche, als die politische Klasse der USA das Thema nicht mehr ignorieren konnte, begann auch die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua ausführlich zu berichten. Im chinesischen Internet indes hatte die „Wall Street Revolution“ schon vorher Wellen geschlagen. Auf Utopia (www.wyzxsx.com externer Link), der wichtigsten Plattform der neo-maoistischen Linken, erschien am 1. Oktober ein von 50 Intellektuellen, AktivistInnen und VeteranInnen unterzeichneter Aufruf zur internationalen Solidarität. (1)

Dass Straßenproteste, die von den USA bislang immer als Mittel zur Destabilisierung missliebiger Staaten benutzt wurden, sich jetzt gegen das Imperium selbst richten, wird als Beginn einer als bestimmende Tendenz des 21. Jahrhunderts erwarteten großen historischen Transformation von der „Elitedemokratie“ zur „Massendemokratie“ begrüßt. Unter Bezugnahme auf die seit der Finanzkrise von 2008 entstandenen Bewegungen in Europa, Lateinamerika, Nordafrika und dem Nahen Osten wird dazu aufgerufen, die demokratische Revolution der „99 Prozent“ überall voranzutreiben, in entwickelten wie in Entwicklungsländern, in „so genannten Demokratien“ wie in autoritären Staaten: „Die Welt gehört allen“, der vom ganzen Volk produzierte Reichtum soll allen zugutekommen, statt von einem Prozent korrupter Elite monopolisiert zu werden. IndustriearbeiterInnen in den Entwicklungsländern und Angestellte in den Metropolen werden als eine gemeinsame Klasse angerufen: das „moderne Proletariat“.

Als Verfasser dieses Manifests wird weithin der Pekinger Ökonom Zhang Hongliang vermutet, der gegenwärtig zu den prominentesten Intellektuellen der „Neuen Linken“ gehört – seine scharfe Ablehnung von genmanipuliertem Reis hat ihm einige Popularität eingebracht. Auf der Unterzeichnerliste steht er an zweiter Stelle. Den ersten Platz nimmt ein angesehener Veteran ein: Der 98-jährige Ma Bin war in den 1950er Jahren Direktor des Stahlwerks Anshan, dessen demokratische Betriebsverfassung von Mao als vorbildlich gerühmt wurde. Ma Bin ist in den letzten Jahren mehrfach mit kritischen Interventionen hervorgetreten – seine Reputation wirkt natürlich auch als Schutzschirm für leichter angreifbare Mitstreiter. Unter ihnen befinden sich einige weitere KP-VeteranInnen und Intellektuelle wie die Wirtschaftswissenschaftler Han Deqiang und Zuo Dapei oder der als Mao-Darsteller aus einer Fernsehserie bekannte Schauspieler Han Zhong, aber auch Betriebs- und UmweltaktivistInnen.

Im Text findet sich ein Hinweis auf die Bedeutung des Internets und der „politischen Kultur“ für die Entwicklung der Massendemokratie. Dass das ein Seitenhieb auf die eigene politische Führung ist, die in den letzten Jahren Restriktionen und Zensur verschärft hat, liegt auf der Hand, und es ist klar, dass die Solidarisierung mit tendenziell antikapitalistischen Sozialprotesten in den USA sich auf die Folgen des Kapitalismus im eigenen Land bezieht. Chinas neue Eliten werden in dem Aufruf auch offen angegriffen. Aber in der chinesischen Linken wird mit zunehmender Heftigkeit darüber gestritten, ob und in welchem Umfang man mit Staat und Partei kooperieren soll, um China wieder auf den sozialistischen Weg zu bringen. Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die sich in China als Linke bezeichnen, bezieht sich positiv auf Mao Zedong. Aber ob die Veränderung der nach seinem Tod entstandenen Verhältnisse auf dem Weg der Reform oder der Revolution erfolgen sollte, daran scheiden sich die Geister – Maos Ideen lassen beide Schlussfolgerungen zu.

Intellektuelle und HochschullehrerInnen wie Zhang Hongliang oder Han Deqiang gehören in der Regel dem „reformistischen“ Lager an – was letztlich auch die Voraussetzung ihres öffentlichen Wirkens ist. Viele von ihnen sind Parteimitglieder, die bei aller Kritik an den negativen Folgen der „Reform und Öffnung“ doch überzeugt sind, dass die Volksrepublik China mit ihren Institutionen verteidigt werden muss. Nur so bestehe die Möglichkeit, eine eigene Form basisnaher sozialistischer Demokratie zu entwickeln, statt den westlichen Liberalismus zu übernehmen. Letzteres wollen die vom Westen gehätschelten, vom chinesischen Staat verfolgten bürgerlich-liberalen Dissidenten wie Liu Xiaobo oder Ai Weiwei: Deren vor drei Jahren formulierte „Charta 2008“ läuft im Namen „universeller Werte“ auf die Forderung nach einem Mehrparteiensystem, der vollständigen Privatisierung der Produktionsmittel und dem Übergang von der gelenkten zu einer „freien und offenen“ Marktwirtschaft hinaus. Die staatsnahe Linke geht davon aus, dass ein politischer Umsturz nur solchen offen konterrevolutionären Bestrebungen zugutekommen könnte.

Der Globalisierungskritiker Han Deqiang, der im Jahr 2000 mit einem Buch gegen Chinas WTO-Beitritt bekannt wurde, hat in einem an den von ihm mitunterzeichneten Aufruf anknüpfenden Interview vor einem naiv-abstrakten Internationalismus gewarnt: Auf die Frage, ob nicht amerikanische und chinesische ArbeiterInnen sich gegen das internationale Kapital als gemeinsamem Feind zusammenschließen müssten, gibt er zu bedenken, dass dies äußerst schwierig sei.

Die Realität des globalisierten Kapitalismus beschreibt er mit einem Gleichnis: „Amerika ähnelt Gästen im Wohnzimmer, die chinesischen Chefs dem Koch in der Küche, die chinesischen Arbeiter sind der Fisch auf dem Schneidebrett.“ Natürlich wird der Fisch den Koch hassen, der ihm den Kopf abhackt. Aber der Fisch ist von sich aus nicht in der Lage zu verstehen, dass der Koch auch nur für andere arbeitet: Han Deqiang bezweifelt, dass das chinesische Proletariat spontan die Zusammenhänge des globalen Kapitalismus erkennen kann. Er sieht das heutige China nicht als sozialistisches Land, aber deswegen ist es seiner Auffassung nach noch lange nicht mit der imperialistischen Führungsmacht USA gleichzusetzen. Han glaubt, dass in China nur ein patriotisches Klassenbündnis ein Bewusstsein der Zusammenhänge der weltweiten Kapitalverwertung und einen alternativen Entwicklungsweg ermöglichen kann: Der Fisch und der Koch müssten irgendwie kooperieren, wenn sie sich nicht zum Nutzen der imperialistischen „Gäste“ gegeneinander ausspielen lassen wollen. Diese national-maoistische, „reformistische“ Position ist die in den Diskussionen bei Utopia vorherrschende – dort werden oft recht schrille nationalistische Töne angeschlagen, die eine weit verbreitete Stimmung zum Ausdruck bringen.

Der Hoffnungsträger der staatsnahen Linken heißt Bo Xilai. Der eloquente und gebildete Linkspopulist, Sohn des Revolutionshelden Bo Yibo, ist seit 2007 Parteisekretär der Großstadtregion Chongqing. Seine dortige Politik sprach sich schnell herum: Bo diskutierte im Fernsehen mit Streikenden, statt sie zu kriminalisieren, bekämpfte mit harter Hand erfolgreich die Korruption, legte Sozialprogramme auf und setzte ein Revival der „roten Kultur“ in Gang.

Sein „Chongqing-Modell“ steht für eine pragmatische linke Politik, die nicht an den Grundlagen der „Reform und Öffnung“ rüttelt, aber sozialen Ausgleich schafft und das Wertevakuum der von Markt und Wettbewerb zerrissenen Gesellschaft füllt. Das trifft den Nerv vieler ChinesInnen. Bos Popularität hält die Zentrale in Atem: Anfang 2010 wurde er in einer Online-Umfrage des KP-Zentralorgans Volkszeitung zum „Mann des Jahres 2009“ gewählt. In Anbetracht seines Alters kommt Bo Xilai bei der 2012 turnusgemäß anstehenden Neubesetzung der Führungsspitze nicht als Partei- oder Regierungschef in Frage; auch unabhängig davon würde die zu zentristischem Ausgleich neigende KP sicher nicht einen exponierten Flügelmann wie ihn auf den Schild heben. Man erwartet aber, dass er in den Ständigen Ausschuss des Politbüros – das alles entscheidende höchste Parteigremium – aufsteigen wird. Das wäre ein weiterer Sprung in der seit Jahren anhaltenden Verschiebung des politischen Diskurses nach links.

Es gibt offenbar aber auch eine wachsende radikale Untergrundszene aus großenteils jüngeren AktivistInnen, die auf die seit einigen Jahren wieder entflammte Liebe der Spitzenfunktionäre zu Mao nichts geben und jeden Kompromiss mit der neuen Bourgeoisie ablehnen. Ihrer Ansicht nach ist die KP nach Maos Tod unwiderruflich im Sumpf des Revisionismus versunken und zu einer faschistischen Partei der Kapitalistenklasse entartet. Um sie zu stürzen, wird der Aufbau einer neuen marxistisch-leninistisch-maoistischen Partei angestrebt. VerfechterInnen dieser Position können nicht offen agieren. Es ist aber davon auszugehen, dass allerhand konspirative ML-Zirkel existieren.

Am 6. Oktober kam es laut eines Berichtes der in den USA ansässigen China Study Group in Zhengzhou zu einer Demonstration, die für die Unterstützung der „Wall Street Revolution“ warb. Das ist ein bemerkenswertes Ereignis, insofern es sich erstmals um eine öffentliche Solidarisierung mit einer sozialen Protestbewegung im Ausland handelt. Der Charakter der Losungen war klar internationalistisch.

Dass das in Zhengzhou geschah, ist keine Überraschung: Die Hauptstadt der Provinz Henan ist seit Gründung der Volksrepublik eines ihrer wichtigen Industrie- und Eisenbahnzentren. Unter den ArbeiterInnen der Staatsbetriebe hat sich ein starkes sozialistisches Bewusstsein erhalten. Zhengzhou gilt als maoistische Hochburg, in der sich regelmäßig RentnerInnen zur Mao-Lektüre im Park treffen. (2) Auf Fotos der Kundgebung sind vorwiegend ältere TeilnehmerInnen zu sehen. Von wem die Mobilisierung ausging, ist nicht bekannt – auf jeden Fall müssen es InternetnutzerInnen gewesen sein.

Am 8. Oktober wurde auf einer Kundgebung gegen den US-Imperialismus im gut hundert Kilometer westlich von Zhengzhou gelegenen Luoyang gleichfalls zur Solidarität mit der Bewegung des amerikanischen Volkes aufgerufen. Die OrganisatorInnen werden im Umfeld der Utopia-Gruppe vermutet.

Der revolutionäre Utopismus der radikalen MaoistInnen dürfte im heutigen China mit seinen sozialen Ausdifferenzierungen allerdings gesamtgesellschaftlich keineswegs hegemoniefähig sein. Und es spricht einiges für die Befürchtung der gemäßigteren Linken, dass ein solcher linker Radikalismus eher zum Zerfall der Volksrepublik als zur Gewinnung einer realistischen sozialistischen Perspektive beiträgt. Andererseits zeigt die pragmatisch-realpolitische Linke teilweise eine bedenkliche nationalistische Schlagseite, von der beispielsweise ein Gefahrenpotenzial in ethnischen Konflikten zwischen Han-ChinesInnen und nationalen Minderheiten ausgeht. Hier werden noch viele Lernprozesse nötig sein.

Artikel von Henning Böke in ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis Nr. 565 vom 21.10.2011. Wir danken dem Verlag für die Freigabe!

Anmerkungen

1) Die englische Übersetzung “Message from Chinese activists and academics in support of Occupy Wall Street” ist zu finden unter http://chinastudygroup.net externer Link. Die Unterzeichnerliste war bei Redaktionsschluss nur auf Chinesisch enthalten, und es fehlt ein Abschnitt gegen Ende, in dem der Geist der Mao-Zedong-Ideen und der chinesischen KommunistInnen beschworen wird.

2) 2005 wurden dort vier Rentner verhaftet, die ein Flugblatt verteilt hatten, das unter der Überschrift „Mao Zedong ist für immer unser Führer“ im Kulturrevolutions-Stil den „kapitalistischen Weg“ der „Revisionisten“ anprangerte. Zwei von ihnen wurden wegen Verunglimpfung von Deng Xiaoping und Jiang Zemin (Staats- und Parteichef der 1990er Jahre, trieb kapitalistische Reformen voran) zu Haftstrafen verurteilt, die sie inzwischen wohl abgebüßt haben.


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