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Updated: 18.12.2012 16:00
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Die Funktionäre besitzen die Gewerkschaft nicht

Interview mit Ivan Saldias über Gewerkschaftspolitik und die Wirtschaftskrise in Chile

Ivan Saldias ist Mitglied der politisch-gewerkschaftlichen Strömung CPS, einem Netzwerk unabhängiger gewerkschaftlicher Organisationen in Chile, das er in den letzten Jahren mit aufgebaut hat. Die Zeit der Militärdiktatur verbrachte er in Haft, bevor er sechzehn Jahre im Exil in Deutschland lebte. Seit seiner Rückkehr nach Chile arbeitet er an der Reorganisation der unter der Diktatur zerschlagenen Gewerkschaften. Er engagiert sich außerdem bei der Vereinigung der ehemaligen politischen Gefangenen und ist im Vorstand der Ethischen Kommission gegen Folter aktiv.

ak: Wir erleben eine weltweite Krise des Neoliberalismus. Wie ist das neoliberale Musterland Chile von dieser Krise betroffen?

Ivan Saldias: Kurz nachdem die Krise in den USA begonnen hatte, wurden die Auswirkungen auch in Chile sichtbar. Wie du schon erwähnt hast, war Chile unter der Diktatur ein neoliberales Experimentierfeld. Bis heute ist dieses Wirtschaftsmodell in der Verfassung verankert. Chile ist das einzige Land in Lateinamerika, das wirklich fast alles privatisiert hat. Nicht nur staatliche Infrastruktur, Telefon, Wasser, Energie etc., sondern auch die Verantwortung für Erziehung, Gesundheit, Wohnen und Altersversorgung.

Das neoliberale Modell hat das Land komplett auf den Export ausgerichtet, die Importzölle wurden radikal gesenkt. Auf Grund der starken Weltmarktorientierung schlägt nun die Krise auch in Chile stärker durch. So hat z.B. die Holzindustrie einen großen Teil an die Bauindustrie in den USA geliefert. Mit der dortigen Immobilienkrise sind nach nur wenigen Tagen in Chile drei große Firmen geschlossen und 100.000 Menschen auf die Straße gesetzt worden.

Später gab es auch in der Lachsindustrie Schwierigkeiten. 6.000 Leute wurden entlassen. Auch im Obst- und Gemüsesektor gibt es Schwierigkeiten, denn dessen Hauptexportwege führen in die USA.

Noch sind aber die Folgen der Krise nicht so drastisch spürbar. Dadurch, dass sich der Kupferpreis in den letzten fünf bis sechs Jahren fast verdoppelt hatte und noch immer etwa 20 Prozent der Kupferproduktion in staatlicher Hand liegen, haben die öffentlichen Haushalte noch ein bisschen Geld und der Staat bezuschusst die privaten Konzerne. Die eigentliche Pleite des Systems kommt erst noch. In 2009 wird es zu Massenentlassungen kommen.

Hat sich durch die Krise die öffentliche Diskussion über das neoliberale Modell geändert?

Nein. Die Regierung ist mit diesem Modell völlig einverstanden. Viele Leute, die früher revolutionär waren oder mit Allende zusammenarbeiteten, haben das Modell akzeptiert und wollen es allenfalls humanisieren. Die Regierung und die Massenmedien - in Chile sind fast alle - privat sagen, dass wir wegen des gesparten Kupfergeldes, gut vorbereitet seien auf die Krise. Bisher gibt es keine öffentliche, kritische Diskussion über das Thema, lediglich einige Proteste der KupferminenarbeiterInnen und Demonstrationen, die die Verwendung des Kupfergeldes für Sozialprogramme fordern.

Wir erwarten derzeit keine Massendemonstrationen aus der Arbeiterbewegung, sondern hauptsächlich von den sozialen Sektoren. Die Proteste der letzten Jahre waren vor allem von den SchülerInnen getragen, denen es um die Verhinderung der weiteren Privatisierung des Bildungssystems ging. Außerdem von denjenigen, die sich gegenüber dem Staat für den privaten Wohnungsbau verschuldet hatten und ihre Wohnungen und Häuser zu verlieren drohten. Der Staat hat diesen SchuldnerInnen das ausstehende Geld erlassen. Auch den SchülerInnen ist es mit ihren Protesten gelungen, das Privatisierungsgesetz zu verhindern.

Für die Arbeiterbewegung gibt es unter der Zivilregierung heute bessere Mobilisierungsbedingungen. Vielen Leuten sitzt zwar noch immer die Diktatur im Nacken, aber die Repression ist nicht mehr so stark wie damals. Die Menschen haben den Unterschied realisiert und bewegen sich mehr.

Aber es gibt immer noch die Arbeitsgesetzgebung aus der Zeit der Diktatur. In Artikel 161 heißt es, dass ArbeitnehmerInnen jederzeit "aus betrieblichen Gründen" entlassen werden dürfen. Dies ist ein enormes Instrument in der Hand der Unternehmen. Sie spielen es rücksichtslos gegen Versuche gewerkschaftlicher Organisierung aus. Deshalb ist die chilenische Arbeiterbewegung noch immer sehr schwach. Nur elf bis zwölf Prozent sind organisiert, im Bereich privater Unternehmen sogar nur höchstens sieben Prozent. Damit lässt sich durch Streiks kaum noch Druck ausüben.

Dennoch habt ihr in den letzten zehn Jahren einiges erreicht. Kannst du kurz darauf eingehen, was sich verändert hat?

Es gibt qualitativ eine neue Form von Arbeiterbewegung. Wir haben gelernt, wie wir innerhalb des neoliberalen Modells kämpfen können. 46 Prozent der chilenischen Arbeitskräfte wechseln innerhalb von 18 Monaten zwei- bis fünf Mal den Arbeitsplatz. Es ist sehr schwer, diese Leute zu organisieren. Außerdem gibt es zahllose Sub-Sub-SubunternehmerInnen. Die traditionelle chilenische Arbeiterbewegung hat diese neuen Bedingungen nicht verstanden. Ein Teil kämpft heute noch mit den alten Methoden.

In den 18 Jahren ziviler Regierungen ist aber eine neue Generation entstanden. Sehr wichtig für uns war die SchülerInnenbewegung, die ihre eigene Protestkultur entwickelt hat. Demokratie innerhalb der eigenen Strukturen spielte eine hier eine ganz große Rolle. Sie haben sich geweigert, VertreterInnen zu benennen, lediglich rotierende SprecherInnen gewählt und dadurch gebrochen mit den Traditionen der klassischen sozialen Organisationen. Früher gab es eine reine Stellvertreterpolitik. Die FührerInnen der alten Organisationen machten mit den Mitgliedern, was sie wollten. Heute entscheiden horizontal organisierte, autonome Versammlungen. Für die Arbeiterbewegung war es interessant zu sehen, wie die Jugendlichen agierten.

Heute treffen wir uns wöchentlich in einem offenen Raum. Gewerkschaftsmitglieder und -führerInnen, ArbeiterInnen, StudentInnen, junge Berufstätige usw. Immer wieder kommen neue Leute hinzu, die von anderen mitgebracht werden. Es gibt viele, die kommen und sagen, an meinem Arbeitsplatz gibt es eine Gruppe von Leuten, die sich gerne organisieren würde und dabei Unterstützung braucht. Und dann entscheiden wir zusammen, wie wir das machen. Mit jenen GewerkschafterInnen, die bestimmte gemeinsame Grundüberzeugungen teilen, treffen wir uns regelmäßig unter dem Kürzel CPS, das für Corriente Político-Sindical, politisch-gewerkschaftliche Strömung, steht.

Welche Grundüberzeugungen sind das?

Innerhalb der CPS haben wir vier Prinzipien für Gewerkschaftsarbeit entwickelt. Das erste Prinzip ist die Autonomie der Entscheidung, unabhängig von Staat, Unternehmen, Kirche oder NGOs. Das bedeutet nicht, dass wir keine Mitgliedschaften in Parteien, Kirchen oder NGOs erlauben. Aber mitdiskutieren und mitentscheiden dürfen die Leute nur als GewerkschafterInnen bzw. ArbeitnehmerInnen. Früher kamen in der Arbeiterbewegung immer wieder Leute, die sagten: ich spreche im Namen von der und der Partei. So kamen nur ideologische Diskussionen zu Stande.

Das zweite Prinzip ist das der Demokratie. Die FunktionärInnen besitzen die Gewerkschaft nicht, sondern sind lediglich ihre SprecherInnen. Entscheiden muss die Basis; an deren Entscheidungen auf Gewerkschaftsversammlungen sind die FunktionärInnen gebunden.

Das dritte Prinzip ist das Klassenbewusstsein. Der Neoliberalismus hat das Klassenbewusstsein erfolgreich ideologisch bekämpft und durch eine Selbstwahrnehmung ersetzt, in der es heißt, es gäbe keine Klassen mehr, wir seien alle eine Familie aus Kapital und Arbeit. Die ArbeitnehmerInnen und GewerkschaftsführerInnen müssen heute wieder klar verstehen, dass es gegensätzliche Klasseninteressen gibt. Sie verstehen das auch, weil sie täglich sehen, wie es funktioniert.

Viertens ist es wichtig, dass die Gewerkschaften vom Arbeitsplatz aus gegründet, aufgebaut und entwickelt werden. Warum? Weil es eine Schwäche der chilenischen Arbeiterbewegung ist, dass sich die FunktionärInnen sehr weit von der Basis entfernt haben. Das System spielt damit. Sie geben den AnführerInnen besondere Posten, laden sie ein, am selben Tisch miteinander zu sprechen, geben ihnen das Gefühl, wichtig zu sein. Am Ende arbeiten viele GewerkschaftsführerInnen gar nicht mehr oder nur noch wenig, und sie wissen nicht, was im Betrieb los ist. Die Frage, ob GewerkschaftsführerInnen arbeiten müssen, haben wir noch nicht gelöst. Es gibt verschiedene Meinungen und es gibt noch immer hauptamtliche FunktionärInnen. Aber ohne Anbindung an Arbeitsplatz und Basis vertreten die nur ihre eigene Meinung.

Ein fünftes Prinzip, das wir diskutieren, ist, dass Gewerkschaften politisch sein müssen, dass sie ihren Blick nicht allein auf die betrieblichen Verhältnisse einengen dürfen. Gewerkschaften müssen auch die allgemeine gesellschaftliche Situation sehen, die Lebensverhältnisse in den Vierteln, Bildungs- und Gesundheitsfragen usw.

Nach diesen Prinzipien arbeiten wir. Die CPS funktioniert horizontal. Wir haben keine hierarchische Vertretung. Die Mitgliedsorganisationen der CPS behalten ihre Autonomie, veröffentlichen ihre eigenen Erklärungen und führen eigenständig Aktionen durch. Sie können anderen Dachverbänden angehören, agieren jedoch nach den vier Prinzipien der CPS. Die Leute kommen aus den unterschiedlichsten Interessen heraus zu uns, meist, um über konkrete Gewerkschaftsprobleme zu sprechen. Wir diskutieren dann, tauschen Erfahrungen aus. Und aus der Gruppe heraus kommen Ratschläge. Und am Ende sagen wir: "Heute warst du auf unserer Versammlung, bald kommen wir zu eurer."

Was macht ihr auf diesen Versammlungen?

Unsere Überlegungen und Methoden kommen aus der Befreiungspädagogik Paolo Freires aus Brasilien. Als zentrales Werkzeug setzen wir den mapeo de la producción ein, ein Konzept, dass jedem Arbeiter und jeder Arbeiterin ermöglicht zu verstehen, wie und was und wofür er oder sie produziert. Der zentrale Punkt ist, dass mapeo alle ArbeiterInnen eines Produktionsprozesses umfasst. Es gibt zwei Ziele: den Leuten den ganzen Produktionsprozess zu verdeutlichen und ihnen auf diese Weise die Kontrolle darüber zu ermöglichen.

Da die ArbeiterInnen aus allen Bereichen eines Produktionsprozesses kommen, beginnt mapeo damit, dass jeder und jede ihren jeweiligen Arbeitsschritt gegenüber den anderen darstellen. Dann lernen alle, wie die ganze Produktionskette und der Produktionsprozess funktionieren. Die ArbeiterInnen bemerken plötzlich auch andere Sachen, z.B. an welcher Stelle mehr Arbeitsunfälle passieren und vermehrt Berufskrankheiten auftreten. So können die GewerkschaftsführerInnen sich konkret an die Unternehmensleitung wenden und Verbesserungen fordern.

Genauso arbeiten wir hinsichtlich der Löhne. In der Keramikindustrie z.B. haben die Leute gesehen, dass der Quadratmeter Keramik am Ende zu einem bestimmten Preis verkauft wird. Sie dokumentieren, wie viel Quadratmeter sie im Jahr produziert haben. Sie können - zumindest grob - die Materialkosten der Einsatzstoffe und ihre Löhne zusammenrechnen. Mehrwertsteuer und andere Kosten, z.B. Verwaltung etc., kommen hinzu. Sie können ausrechnen, was die Produktion eines Quadratmeters den Arbeitgeber ungefähr kostet. Plötzlich wissen sie, wie viel dieser mit ihrer Arbeit verdient, erkennen, was Mehrwert ist, ohne dass wir das frontal erklären. Sie rechnen sogar, wie viele Stunden sie arbeiten müssen, um für den Arbeitgeber ihren jeweiligen Lohn zu erwirtschaften. In den Lohnverhandlungen macht sie das stark, weil sie auf ihre eigene Information aufbauen.

Eine Reihe von Gewerkschaften arbeitet bereits so. Sie lernen, den Produktionsprozess zu kontrollieren. Und dann ist es auch nicht mehr erforderlich zu streiken, wir spielen mit der Produktivität. Wenn Leute entlassen werden, arbeiten die anderen weniger; die ArbeiterInnen haben jetzt die Kontrolle über die Produktivität.

Interview von Knut Rauchfuss mit Ivan Saldias über Gewerkschaftspolitik und die Wirtschaftskrise in Chile im ak 535 vom 16.1.2009 - wir danken!

Anmerkung: Kontakt zu CPS unter lacorrientesindical@yahoo.es


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