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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Warum sollte das allererste menschliche Bedürfnis - die Nahrung - eine Ware bleiben?"

Carina Aparecida Andrade de Freitas hat inzwischen viele Erfahrungen im Anbau von Gemüse - im eigenen Garten. Die Studentin der Kommunikationswissenschaft an der Katholischen Universität von Belo Horizonte lebt in einem von den Volksbrigaden besetzten größeren Haus am Stadtrand des 4 Millionen Konglomerats. Und, wie viele der in der städtischen Obdachlosenbewegung aktiven Menschen in Brasilien, haben auch sie und ihre Gruppierung enge Beziehungen zur Bewegung der Landlosen. Und die politische Debatte die diese über die MST national wie weltweit vorantreiben, läuft unter dem Stichwort "Nahrungssouveränität", für das inzwischen die internationale Vereinigung Via Campesina als organisierte Vertretung steht. In dem Telefoninterview "Nahrung darf keine Ware sein" wollten wir von einer Basisaktivistin aus einer Stadt wissen, wie die Menschen dort die Probleme sehen - und zu lösen versuchen.

Nahrung darf keine Ware sein

Wieviele Menschen wohnen in dem Haus, wo Du auch wohnst?

So ungefähr 250, zwei Drittel davon Kinder, es nimmt noch zu, noch ist etwas Platz, aber wir sind schon dabei, neue Besetzungen vorzubereiten.

Was für Menschen sind das?

Nun querbeet sozusagen, allerarten, die sich keine Wohnung oder Haus leisten können, viele Erwerbslose und Tagelöhner, aber auch eine Reihe Studenten aus ärmeren Familien, so wie ich. Aber auch welche, die einfach mit ihrem Mindestlohn nirgends unterkommen.

Gibt es viele besetzte Häuser in BH?

Das weiss niemand so ganz genau, denn es gibt zum einen Projekte von politisch orientierten Gruppierungen, die manches Mal recht eifersüchtig über ihre Bestände wachen, zum anderen gibt es natürlich auch eine ganze Reihe von spontanen Besetzungen in dem Sinne, das einfach jemand Bedürftiges in ein leeres Haus einzieht und andere folgen, ganz ohne politische Organisation. Und das quer durch das immense Stadtgebiet, in ganz unterschiedlichen sozialen Vierteln, erst recht in den zum Ballungsraum gehörenden Kleinstädten. Wir jedenfalls haben Kontakte zu rund 2.000 Menschen in etwa 15 besetzten Gebäuden.

Was ist die Ursache dieser Besetzungen, ich meine die unter der individuellen Not liegende?

Nun zum einen gibt es natürlich die klassische Spekulation mit Grund und Boden. Es gibt Leute, die lassen Häuser bewusst leer stehen, um Abrißprämien zu erhalten. Es gibt eine Stadtplanung, die vor allem auf den Verkehr zielt, wie etwa die im Bau befindliche Ausfallstraße zum Flughafen. Das hat selbst in den 110 Jahren, die es BH erst gibt, schon zu verschiedensten grundsätzlichen Veränderungen der ganzen Stadt geführt. Und es gibt das Sicherheitsbedürfnis, das zu geschlossenen Siedlungen oder, mehr in der Stadt, bewachten Hochhäusern führt.

Welche Veränderungen zum Beispiel?

Nun, wenn Du alte Fotos anschaust, dann war die Avenida Afonso Pena einst eine Allee mit Sitzbänken zwischen den Fahrspuren, parkähnliche kleine Anlagen, das gibt es heute nicht mehr - da konnten damals auch noch arme Leute sitzen und mal einen Kaffee trinken, heute muß manmehr Geld haben, um sich dort aufzuhalten, aber da selbst will eh niemand mehr, weil man, selbst wenn es noch Bänke gäbe, sowieso nur zwischen Autos säße. Und die großen Straßen haben alte Viertel umgegrempelt.

Gibt es jetzt in diesen Besetzungen Veränderungen, also sind es mehr, gibt es unterschiedliche Ansätze?

Ja wir haben rein statistisch gesehen ungefähr 2 Prozent der Bevölkerung, die keine oder nur eine extrem prekäre Bleibe haben - dabei sind wohlgemekt die normalen Favelas nicht mitgezählt. Und es gibt in der Stadt- bzw Regionalplanung eine grosse Koalition - zwischen den beiden Parteien, die die letzte Stichwahl für den Präsidenten unter such ausgemacht haben, der Präfekt ist von der PT, schon rund 15 Jahre lang mit einem Koalitionszwischenspiel, der Gouverneur ist von der PSDB, aber die grossen Entwürfe machen sie zusammen. Und wir haben Tausende leerstehende Wohnungen - das wird nicht sehr an die große Glocke gehängt, um nichts zu provozieren, wie man sagt, aber es pricht sich herum, und die Zahl der Besetzungen nimmt in der Tat rapide zu. Und die Ansätze sind klar verschieden: Wir beispielsweise versuchen, mit einigem Erfolg, unter anderem zu einem kleinen Zentrum für die Nachbarschaft zu werden, wo viel passiert und auch einige Angebote gemacht werden. einmal die -woche Kino - es gibt ja keine Kinos mehr, nur noch in Shoppings und da darf man als Armer kaum rein und kann es sowieso nicht bezahlen.

Aber es gibt doch auch so etwas wie den sozialen Wohnungsbau?

Ja, COHAB zum Beispiel gibt es - da ist ungefähr jedes Haus dreimal bezahlt, bis es gebaut wird, sagt der Volksmund. Und dann wird das zumeist auf der Wüste gebaut, also dort, wo es kaum oder gar keine Infrastruktur gibt, das könnt ihr in Europa sogar im Kino sehen. Und das interessante ist, dass zwar viel Pomp gemacht wird mit Beteiligungshaushalten in den Städten, dass aber bei solchen Bauprojekten keine Mitwirkung vorgesehen ist, in der Regel noch nicht einmal eine Befragung. Und die Tradition aus den neuen Favelas ist es ja, das selbst in die Hand zu nehmen, gemeinsam für alle zu bauen, um Strom und Wasser zu kämpfen, an das knüpfen wir an, ohne den Bestand den anderen zu überlassen. Das ist natürlich dann der ständige Kampf um die Legalisierung.

Gibt es bei den Besetzungen - so weit ich weiss, nehmen sie ja auch in den anderen großen Städten zu - irgendwelche bemerkbaren politischen Einschnitte?

Ja, ich würde sagen der Einschnitt schlechthin ist die Gründung der MTST gewesen, die Bewegung der Arbeiter ohne Unterkunft, das hat zu einer wesentlichen Verbreiterung der Sache geführt - und das hat nichts damit zu tun, wie man zu dieser Organisation steht, heute gibt es viele andere, auch da gab es interne Auseinandersetzungen und so weiter, aber das hat damit nichts zu tun, es war das Signal.

Eines, von dem die Propaganda sagt, es sei sozusagen ein Kind der Landlosenbewegung MST.

Ja ein "Kind" auf jeden Fall - denn da hat man eine Idee übernommen, selbst für sich zu sorgen, kollektiv und solidarisch. Ob die MST bei der Gründung wirklich mitgeholfen hat, weiss ich nicht, das ist ja schon Jahre her - aber man muss auch sehen, dass auf jeden Fall die städtische Linke sich nie um diese Menschen gekümmert hat.

Dafür würde ja auch sprechen, dass es bei vielen solchen Besetzungen Bestrebungen gibt, zumindest Gartengemüsebau zu betreiben, oder?

Naja, ich weiss nicht. Ich sehe das eher so, dass es halt zwei Grundbedürfnisse des Menschen gibt, die schon so lange privatwirtschaftlich geregelt werden, das sich die meisten, auch Linke, daran gewöhnt haben. Aber warum sollte das allererste Grundbedürfnis, zu essen, eigentlich dem privaten Profit unterworfen werden? Es gibt heute in mehreren Ländern Südamerikas relativ breite Selbstanbaubewegungen, in Brasilien ist das eher noch klein.

Ja ich habe davon aus Venezuela gelesen, da stellt es aber die Medienmeute in der Regel als Notstandsmaßnahme dar.

Klar, wenn es Knappheit gibt, werden solche Lösungen gesucht, aber gerade in Venezuela gibt es die Förderung solcher Sachen schon viel länger. Und wir hier haben ja die herrliche Welt der Supermärkte, wenn man bezahlen kann. Aber wir denken, wir können hier sehr viel selber machen und sind, was einige Gemüsesorten oder Früchte angeht, mit unseren Gärten autark, sogar ich habe es gelernt und ich konnte vorher gar nichts, aber wir haben erfahrene Leute dabei. Gerade in Brasilien wäre es natürlich wichtig, Reis und Bohnen anbauen zu können, aber das ist ein Problem - aber wir sind dabei, mit Kooperativen aus dem MST Bereich über entsprechende Abkommen zu reden. Ach ja (lacht) und die bessere Cachaca als im Supermakrt haben wir auch produziert, sagt die ganze Nachbarschaft.

Was macht ihr mit eventuellen Überschüssen?

Na ja, wir haben schon welche. Wir haben einen kleinen Tauschladen für die Nachbarschaft, da versorgt sich zum Beispiel ein Chemiker mit einigen Dingen und im Tausch dafür hat er unsere Böden analysiert, so dass wir jetzt wirklich sagen können, schadstoffrei. Wir versuchen das halt so zu machen, dass es keine Kauferei wird. Mag sein, dass das theoretisch nicht sauber ist, schliesslich leben wir im Kapitalismus, aber es schafft auf jeden Fall soziale Beziehungen, die nicht normal sind.

(Das Gespräch führte Helmut Weiss)


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