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Updated: 18.12.2012 15:51
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MST-Kongress: Wie halten wir es mit Lula?

Mitte Juni fand in Brasilia der 5. Nationale Kongress der MST - Bewegung der Landlosen - statt: mit etwa 17.000 TeilnehmerInnen und Gästen aus 31 Ländern ein wahrhaft gigantomanischer Kongress. Der Kongress wurde weltweit beobachtet, einmal, weil es sich bei der MST um die größte organisierte soziale Bewegung des Kontinents handelt, und weil sie auch - etwa über die Via Campesina - im transnationalen Rahmen eine wichtige Rolle spielt. Nicht zuletzt aber auch, weil die Frage im Raum stand, wie sich die MST zur Regierung Lula positionieren würde. Und, vor allem Dingen, weil die MST an einer ganzen Reihe von Konfliktfeldern eine ausgesprochen aktive Rolle spielt - keineswegs nur bei der nach wie vor zentralen Frage der Landreform: Gentechnik-Lebensmittel und Eukalyptus-Monokulturen sind Projekte kapitalistischer Wirtschaftlichkeit, die sich zunehmend Widerständen durch Landbesetzungen ausgesetzt sehen... Die aktuelle Materialsammlung "Gegen den Agrarkapitalismus" vom Juli 2007.

Gegen den Agrarkapitalismus

Der 5. Kongress der MST war ein nationales Ereignis - auch die Gegner der Landlosenbewegung "würdigten" ihn ausführlichst. Erst recht die Mitglieder, Anhänger und Unterstützer der Bewegung, die dazu beitrugen, dass es ein Ereignis wurde. Um ein Bild vom gegenwärtigen Zustand dieser Bewegung, ihrer Entwicklung und Bedeutung zu bekommen, haben wir mit einer Reihe von Aktivisten, die der MST entweder angehören oder sie auf die eine oder andere Weise unterstützen gesprochen.

Die MST und Lula

Das Verhältnis zur PT-Regierung steht bei der aktuellen politischen Debatte natürlich im Zentrum. Zur Politik der MST in dieser Frage sagt Vitor Saldanha, langjähriger Aktivist und Kollektivbauer aus dem Bundesstaat Bahia: "Schau, das ist natürlich eine Art Spagat. Keiner muss heute noch sagen, dass die Regierung Lula eine große Enttäuschung ist - und nicht nur für jene, die sich in ihrem Kopf ausgerechnet hatten, es ginge um Sozialismus oder so, auch für jene, die realistischerweise von wichtigen Reformen geträumt hatten - nichts davon. Auf der anderen Seite gibt es Minderheitenströmungen und soziale Organisationen im Umfeld der PT, die immer noch Bündnispartner sind. Den endgültigen Bruch vermeiden, ohne sich zum Transmissionsriemen machen zu lassen, wie es andere getan haben, das ist der Standpunkt, der hinter diesem spagat steht, ein Spagat, der im übrigen selbstverständlich auch dazu führt, dass am linken Rand der Bewegung Abspaltungen entstehen".

Eine Position, die uns im Verlauf einer ganzen Reihe von Gesprächen immer wieder begegnet. Ademar Ferreira aus Nordminas, ebenfalls Kollektivbauer, fügt noch hinzu: "Du kannst ja sehen, die Sache, sich zu sehr auf eine Regierungspartei einzulassen hat der CUT (also: dem Gewerkschaftsbund) ohne Zweifel geschadet - die Transmissionsriemen leiden eben, wie bei den Kommunisten so auch bei den Sozialdemokraten. Auf der anderen Seite: einen totalen Bruch kännen wir uns gar nicht leisten, zumindest nicht in solchen Gegenden wie hier - und von denen gibt es immer noch viele - wo noch alte Verhältnisse herrschen, also bedrohte Fazendeiros des öfteren einfach jemand zum schiessen engagieren, da hilft es, wenn es hier und da Staatsanwälte und Richter gibt, die das nicht mehr zudecken".

Agrarkapitalismus - der Neoliberalismus auf dem Lande

Wenn noch alte Verhältnisse herrschen, sagte Ferreira und meinte damit vor allem die Entwicklung, die in der aktuellen politischen Analyse und Strategie der MST eine zunehmend wichtigere Rolle spielt: die Ablösund der "Herren des Landes" durch Aktiengesellschaften.

"Zwar", sagt Pedro Otoni, Jurist und lange in der Rechtshilfe für die MST aktiv, "werden immer noch in der Debatte vor allem die jeweilige Zahl der Landbesetzungen diskutiert und das ist auch wichtig, aber die Aktionen, die am meisten Debatten - und Haß - hervorgerufen haben, waren Aktionen eher - noch - symbolischer Art, wie die Besetzung von Gentechnikfeldern oder Papiermühlenplantagen. Wo früher als Gegner, etwa vor der Justiz, die Namen traditioneller Familien auftauchten, da stehen heute immer öfter Unternehmen wie Syngenta oder Monsanto oder Aracruz (Brasiliens größte Zellulosefabrik).

Und ein kurzer Blick auf Meldungen aus der letzten Zeit bestätigt diese These. Auf der Seite der MST im Web werden für die Zeit nach dem Kongress Meldungen über Besetzungen, bzw Aufhebungen von besetzungen und juristische Schritte unter anderem eben von diesen drei Unternehmen veröffentlicht. Ein Bericht wie der (portugiesische) redaktionelle Beitrag "Quilombolas reocupam território em posse da Aracruz Celulose" externer Link vom 23. Juli 2007 steht dafür einerseits als Beispiel, macht andrerseits aber auch deutlich, dass es neue Bündnispartner gibt - da Plantagen oft in eigentlich reservierte Ländereien hineinragen, sowohl der Indigenen-Reservate als auch jener wachsenden Zahl von registrierten Länderein der Nachkommen der Sklavennachkommen in den Quilombos.

So sieht es auch Pedro Otoni: "Selbstverständlich bedeutet neue Aspekte des Kampfes auch neue Aspekte aller Bereiche der Politik, inklusive der Bündnispolitik. Das betrifft Indigene und Quilombolas, aber ebenso auch ökologische Gruppierungen, städtische Gentechkritiker und schon seit längerem, und durchaus nicht von allen gerne gesehen, auch Kooperationen mit städtischen Wohnungslosen." Auf der anderen Seite bedeutet es aber auch zunehmende Distanzierung vom Regierungslager, inklusive der dazu gehörenden Bereiche der Gewerkschaftsbewegung. Der Bericht über die "urbanene Delegationen" beim Kongress "Organizações urbanas defendem unificação da luta dos trabalhadores" externer Link von Pedro Carrano vom 13. Juni 2007 bei der MST ist in diesem Sinne aufschlussreich - wer da war - und wer nicht.

Kongressberichte und Eindrücke

Neben der Sonderberichterstattung auf der MST-Seite selbst "5° Congresso Nacional do MST" externer Link gibt es auch auf der deutschen Seite der "Freunde der MST" die "Tagesberichte" vom 11. bis 15. Juni 2007 externer Link von Thomas Schmid, der am Kongress teilnahm.

Moacyr Pereira, der aus dem fernen Macapá nach Brasilia gereist war, war beeindruckt von der Themenbreite: "Es ging ja beileibe nicht nur um die Bilanz Lulas bei der Agrarreform, die milde gesagt, kein Ruhmesblatt ist. Es ging auch nicht nur um die Entwicklung auf den Ländereien, die oft genug sehr problematisch ist. Es ging auch um den Kampf gegen den Analphabetismus, um die Freire-Pädagogik in den MST Lagern, um Kampagnen gegen das Vergessen der zahllosen morde, aber auch die Kampagnen gegen die Schuldendienste oder für die Wiederverstaatlichung der Vale do Rio Doce oder um das "Verlegungsprojekt" des Rio Sao Francisco - mit anderen Worten um eine enorme Bandbreite gesellschaftlicher Fragen, wie eigentlich bei keiner anderen Organisation in Brasilien".

Und, wie er weiter ausführt: "Und das nicht nur für brasilianische Fragen - ob es um das Ernährungsforum in Mali ging oder um die Cocapflanze in den Anden, MST und Via Campesina sind nicht nur dabei, sondern spielen eine wesentliche Rolle bei der Organisierung von Aktivitäten..."

(Zusammengestellt und - telefoniert von hrw)


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