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Updated: 18.12.2012 15:51
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Belgiens Ende?

Interview mit dem Herausgeber der Zeitschrift „Etudes marxistes“ und Mitglied des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PVDA), Herwig Lerouge

Von Rosso Vincenzo*

Am vergangenen Sonntag (den 18.November 2007) demonstrierten nach Behördenangaben 35.000 Menschen im Zentrum von Brüssel gegen den zunehmenden flämischen und wallonischen Chauvinismus und die drohende Spaltung des Landes. Auf die Bevölkerungszahl bezogen (Belgien 10,5 Millionen, BRD : 82,4 Millionen) entspräche das in Deutschland knapp 300.000 Demonstranten. Auch wenn man bekanntlich Demozahlen stets mit Vorsicht genießen sollte, handelt es sich um eine beeindruckende und bedeutende Aktion, die von der Basis ausging. Die ARD-« Tagesschau» meldete am gleichen Tag dazu: «Die Bürgerbewegung geht auf eine Privatinitiative der in Lüttich lebenden Belgierin Marie-Claire Houard zurück, deren Petition zugunsten der Einheit des Landes in drei Monaten von 140.000 Menschen unterzeichnet wurde. Houard appellierte zu Beginn der Demonstration, dass diese eine Aufforderung an die Politiker sei, "ihre Sandkastenspiele zu beenden" und den Streit zwischen flämisch- und französischsprachigen Parteien beizulegen.» Zugleich bleibt die Gefahr einer Spaltung groß : «Angesichts dieser schweren politischen Krise glauben viele Belgier an ein Ende des Königreiches, meldete der öffentliches Rundfunksender RTBF nach der Befragung von 752 frankophonen Bürgern. 43 Prozent der Befragten meinten demnach, der Beschluss im Innenausschuss des Parlaments zur Teilung des Wahlbezirks von Brüssel und Umgebung sei "der Anfang der Zerschlagung Belgiens".»

Noch vor dieser Großdemonstration entstand das folgende Interview mit dem Herausgeber der Zeitschrift „Etudes marxistes“Herwig Lerouge aus Lüttich, der auch Mitglied des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Belgiens (PTB / PVDA) ist, das heißt der größten Organisation der belgischen radikalen Linken. Der PTB geht auf die Schüler– und Studentenproteste Ende der 60er Jahre zurück. Aus verschiedenen organisatorischen Umgruppierungs- und Vereinigungsprozessen entstand 1979 der PTB, der bis Mitte der 80er Jahre maoistische Positionen vertrat und – ebenso wie die meisten maoistischen Gruppen hierzulande – nicht nur den US-Imperialismus und die Ausbeutungs- und Expansionspolitik der übrigen NATO-Staaten bekämpfte, sondern auch die Sowjetunion als „sozialimperialistisch“ geißelte und bekämpfte. Ab 1985 kam es zu einer schrittweisen und umfassenden Änderung dieser Position. Die PTB hat heute gut 2.000 Mitglieder, die in den Gewerkschaften, vielen Basisinitiativen und fast allen außerparlamentarischen Bewegungen aktiv sind. Darüber hinaus leisten PTB-Aktivist(inn)en eine umfangreiche Basis- und Servicearbeit im Bereich der Gesundheitsversorgung und juristischen Unterstützung. Bei den Parlamentswahlen am 10.Juni 2007 erhielt der Parti du Travail de Belgique / Partij van de Arbeid van Belgie 0,84% der Stimmen.

Eine leicht gekürzte Fassung des folgenden Interviews erschien unter dem Titel „Die Gegenoffensive hat begonnen“ in der „jungen Welt“ vom 20.11.2007. Hier die komplette Originalversion:


Lange Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung sind in Belgien „normal“. In diesem Fall scheint die Sache allerdings noch schwieriger als früher. Was ist der Grund dafür?

„Erlaube mir vorab eine wichtige Feststellung: Belgien ist heute ein föderaler Staat, aber ohne föderale Parteien. Die PTB/PVDA einmal beiseite gelassen, gibt es keine Belgien-weiten Parteien. Es gibt nur flämische, französische und deutsche Parteien. Ein Belgier, der in Wallonien lebt, kann niemals gegen einen flämischen Politiker stimmen. Selbst dann nicht, wenn der acht Jahre lang sein Ministerpräsident war. Und umgekehrt gilt das natürlich genauso. Das bedeutet, dass die politische Agenda mehr und mehr von regionalen Interessen beeinflusst wird. Bei den letzen Wahlen auf Bundesebene im Juni 2007 sind die wichtigsten flämischen Parteien mit einem demagogischen, chauvinistischen Programm angetreten und haben Versprechungen gemacht, dass sie, wenn sie gewählt werden, einige spezifisch flämische Interessen durchsetzen werden, die nicht im Interesse der französischsprachigen Community liegen.

Die holländisch- und französischsprachigen Communities haben sich in den letzten 30 Jahren immer weiter voneinander isoliert. Es gibt keine landesweiten Medien mehr, nur noch wenige gemeinsame Institutionen und keine Form von Zweisprachigkeit. Selbst die Gewerkschaften wurden von diesen Tendenzen beeinflusst. Vor kurzem hat sich die zur FGTB/ABVV gehörende sozialistische Metallarbeitergewerkschaft entlang der Sprachenfrage gespalten.

Eine Welle von flämischem Nationalismus hat die meisten Parteien in Flandern in den letzten Jahren fest gepackt. Das ist ein großer Sieg für die separatistischen Parteien in Flandern. Ihre Vorstellung von Flandern (die mehr eine völkische denn eine geographische ist) hatte einen dramatischen Einfluss auf die landesweite Politik. ‚Wir spüren, dass der Standpunkt unserer Partei sehr schnell zu einem Mehrheitstandpunkt werden wird’, sagt Frank Vanhecke, der Vorsitzende des faschistischen Vlaams Belang (VB), der im Juni 12% der Stimmen bekam. ‚Unsere Sichtweisen werden jetzt von den anderen flämischen Parteien bestätigt. So kann unsere Partei nur gewinnen.’ Außerdem ist die flämische christdemokratische Partei CD&V ein Bündnis mit der NVA (einer kleinen separatistischen flämischen Partei) eingegangen, um stärkste Partei im Lande zu werden und den Posten des Ministerpräsidenten fordern zu können. Auf der französischen Seite schloss die französische liberale Partei MR ein Wahlbündnis mit der kleinen Brüsseler Partei FDF. Das ist eine radikale Partei der französischsprachigen Gemeinde Brüssels. Diese beiden radikalen französischen und flämischen Parteien sorgen dafür, dass die Verhandlungen sehr viel polarisierter sind als früher. Letztlich sind aber alle diese Parteien - in unterschiedlichem Maße - vom chauvinistischen Virus infiziert.“

Das klingt dramatisch. Teilst Du die Ansicht vieler Kommentatoren, die in den letzten Monaten die Gefahr einer Spaltung zwischen dem flämischen und dem wallonischen Landesteil und das Ende des Belgiens heraufbeschworen haben?

„Die Situation, vor der wir stehen ist, dass heute separatistische Parteien versuchen, die Bevölkerung dahin zu bringen, dass sie dieser Krise überdrüssig wird. In der Hoffnung, dass das zu einer resignierten Unterstützung der Unabhängigkeit Flanderns führt. Das Fortbestehen Belgiens ist zu einer offenen Frage geworden. Es gibt jedoch eine zunehmende, breite Reaktion unter Gewerkschaftern, Künstlern und Akademikern, die das verhindern will - auch in Flandern. Man kann sagen: Die Gegenoffensive hat begonnen. In der letzten Septemberwoche startete die von einem breiten Bündnis getragene Kampagne ‚Die Solidarität bewahren!’ Sie wurde von Hunderten von Gewerkschaftsaktivisten initiiert, die von vielen bekannten Künstlern, Akademikern, Journalisten und Schriftstellern unterstützt werden. Innerhalb von zwei Tagen wurde diese Petition von 15.000 Menschen unterzeichnet. Die beiden großen Gewerkschaftsbünde FGTB / ABVV und CSC / ACV erklären weiterhin, dass sie gegen eine Zersplitterung der Arbeitsmarktpolitik, der nationalen Tarifverhandlungen und der sozialen Sicherungssysteme sind. Sie sehen sehr genau, dass das der schnellste Weg ist, um die in der Vergangenheit erkämpften Errungenschaften der Arbeiter wieder zu verlieren. Es besteht kein Zweifel, dass diese Initiative zu einem radikalen Klimawandel beitragen und eine Solidaritätswelle schaffen kann, an der auch die politischen Führer nicht vorbeikommen.“

Nach dem, was Du sagst, handelt es sich bei diesem sog. „Sprachenstreit“ bzw. dieser „Staatskrise“ vielmehr um eine soziale Auseinandersetzung, um einen Verteilungskampf. Sehe ich das richtig?

„Absolut. Nach außen hin hat es immer den Anschein als habe die belgische Krise vor allem mit linguistischen Problemen zu tun. Das ist falsch. In den flämischen Grenzgemeinden rund um Brüssel ist der Prozentsatz der Einwohner, die kein Holländisch, sondern Französisch und Englisch sprechen, sehr hoch. Das sind häufig gut bezahlte Angestellte, die sich nach Wohnungen in Vorstädten mit viel Grün umschauen. Holländischsprachige Bewohner dieser Gemeinden behaupten, dass sie es sich nicht mehr leisten können, dort zu wohnen. Aber dasselbe passiert in Brüssel, wo ordinäre (französisch oder holländisch sprechende) Belgier von dem reicheren Personal der EU-Institutionen aus ihren Wohnungen verdrängt werden. Flämische Nationalisten machen aus diesem sozialen Problem ein Sprachenproblem.“

Kannst Du anhand einiger Zahlen einen kurzen Überblick über die Situation geben?

„Insgesamt ist es so, dass heute 6 Millionen Belgier holländisch und 3,5 Millionen französisch sprechen. Daneben gibt es in Ostbelgien eine kleine deutschsprachige Gemeinde von 70.000 Leuten. Und es gibt eine erhebliche Anzahl an Immigranten aus Italien, der Türkei und Nordafrika. In der Region Brüssel spricht ca. die Hälfte der Einwohner zu Hause Französisch. Ein weiteres Viertel spricht Holländisch und Französisch.

Wie auch immer, das Sprachenproblem ist im Laufe der Jahre immer zweitrangiger geworden und ist heute vor allem ein Vorwand. Der flämische Nationalismus hat sich zu einer Ideologie der neuen Bourgeoisie in Flandern entwickelt, die in den 60er Jahren ihren Aufstieg erlebte als die Region Wallonien in den wirtschaftlichen Niedergang geriet und Flandern zur einer der am stärksten prosperierenden Regionen Europas wurde. Flandern ist heute sozioökonomisch deutlich besser gestellt als Wallonien. Das Pro-Kopf-Einkommen (BIP je Einwohner) betrug 2005 in ganz Belgien 27.700 Euro, in Brüssel (dem Standort vieler internationaler Konzernzentralen) aber 54.905 Euro, in Flandern 27.300 € und in Wallonien nur 19.800 €. Ähnlich ist es mit der Arbeitslosigkeit. Die liegt heute in Charleroi, Liège (Lüttich) und La Louvière bei 20%.

Heute braucht Wallonien Flandern. Aufgrund der ökonomischen Ungleichheit gibt es erhebliche Transferzahlungen von Flandern nach Brüssel und Wallonien. Der finanzielle Transfer über die Steuer- und sozialen Sicherungssysteme vom flämischen zum französischsprachigen Landesteil wird auf 3 bis 6 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Diese Summe beläuft sich pro Person auf mehr als 1.000 Euro jährlich, das heißt 3 bis 4% des flämischen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das meiste davon hat mit der Tatsache zu tun, dass die Beschäftigten in den reicheren Regionen, wo es mehr Jobs gibt, mehr in die nationale Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bzw. in den Topf fürs Kindergeld etc. einbezahlen als sie herausbekommen. Denn die sind noch auf nationaler Ebene organisiert. Umgekehrt bekommen die ärmeren Regionen mehr heraus als sie eingezahlt haben. Einfach weil es dort mehr Erwerbslose und kranke Menschen gibt.

Die ärmeren Regionen decken sich übrigens nicht mit den Sprachgrenzen. Auch in Flandern gibt es arme und auch in Wallonien reiche Regionen. Die nationalistischen Parteien machen diese Probleme allerdings immer zu einem Sprachenproblem. Der Bezug, der hergestellt wird, ist der des ‚Nord-Süd-Transfers’. Diese Transfers sind allerdings nicht wirklich mit interregionalen Transferzahlungen in Europa zu vergleichen. Der Südosten Großbritanniens zum Beispiel wendet 12,6% seines Einkommens für die nationale Solidarität auf. Im Falle Flanderns sind es gerade mal 3,6%. In ihrer Agitation versuchen die flämischen Separatisten allerdings den Eindruck zu erwecken, dass Flandern allein alles besser könnte, d.h. wenn es nicht länger ‚die Bürde’ dieser Transferzahlungen mit sich herumschleppen müsste. Auf diese Weise hoffen sie eine Massenbasis für ihre separatistische Agenda zu schaffen. Heute ist allerdings die überwältigende Mehrheit der Leute - auch in Flandern - gegen die Trennung und gegen einen unabhängigen flämischen Staat.

Dennoch muss man sehen, dass diese ganze Agenda für mehr Autonomie etc. einen beispiellosen Angriff auf die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse in Belgien darstellt. Das ist ein Programm zur Spaltung der Organisationen der Arbeiterklasse und zur Schaffung einer Konkurrenz zwischen den Arbeitern der verschiedenen Regionen. Mit unterschiedlichen Löhnen, unterschiedlichen sozialen Sicherungen, unterschiedlichen Steuersätzen und Unternehmen, die die Arbeiter der einen nach Belieben gegen die Arbeiter der anderen Region ausspielen und sie mit Standortverlagerung erpressen können.“

Neben der Lösung der belgischen Staatskrise verlangt der Unternehmerdachverband VBO eine ganze Reihe sozialer „Reformen“. Was sind die wichtigsten Forderungen und befürchtest Du einen Generalangriff auf die Arbeiter und die Erwerbslosen in Belgien?

„Was neu ist und den separatistischen Standpunkten einen starken Rückenwind verschafft hat, ist die Tatsache, dass diese Positionen von einem großen Teil der flämischen Bourgeoisie unterstützt werden. Die flämische Bourgeoisie ist für ihre Anliegen sehr offen. Sie haben im Wahlkampf ihren traditionellen Forderungskatalog veröffentlicht: Geringere Besteuerung der Unternehmen, weitere Senkung der Arbeitskosten, noch mehr Flexibilität, längere Wochen- und Lebensarbeitszeit sowie die Abschaffung aller Frühverrentungssysteme. Sie wollen eine radikale Arbeitsmarktreform, so wie sie die Lissaboner EU-Agenda vorsieht. Das wollen sie im ganzen Land, aber sie schätzen, dass es leichter sein wird, das in Flandern durchzusetzen, wenn die Arbeitsmarktpolitik regionalisiert wird. Sie hoffen, dass sie in Flandern die starken föderalen Gewerkschaften und die stärkere Klassenkampftradition in Wallonien loswerden. Der Druck für eine größere flämische Autonomie unterscheidet sich nicht von denselben Tendenzen in den meisten der reichen Regionen Europas. Das ist ein Ausdruck der Krise des Imperialismus, wo die Konkurrenz härter und härter wird und wo sich die stärkeren kapitalistischen Konzerne der meisten sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse so schnell wie möglich entledigen wollen.

Als Urbain Vandeurzen Vorsitzender der VOKA, d.h. des führenden Arbeitgeberverbandes in Flandern, wurde, sagte er, dass er ‚ein strategisches Transformationsprogramm für Flandern’ will. ‚Mit dem Ziel die wirtschaftliche Position Flanderns in Europa zu stärken.’‚Auch wenn Flandern eine der wohlhabendsten und konkurrenzfähigsten Regionen in Europa ist, steht unsere Region vor einer Reihe enormer externer Herausforderungen. Inklusive Standortverlagerungen nach Osteuropa und der neuen Konkurrenz sowie der Chancen, die mit den wachsenden Ökonomien in China und Indien verbunden sind.’

Andere Unternehmerverbände in Flandern haben bereits erklärt, dass sie jede Form von vorzeitiger Verrentung so schnell wie möglich beseitigt sehen wollen. Sie forderten die Einführung des dänischen Modells einer zeitlichen Begrenzung der Arbeitslosenunterstützung in Belgien, wie es sie hierzulande bislang nicht gibt. Darüber hinaus haben sie das nationale Lohnabkommen (IPA) kritisiert, das von den föderalen Arbeitgeberverbänden VBO und UNIZO mit den Gewerkschaften abgeschlossen wurde. Das beinhaltet eine Übereinkunft über eine indikative Lohnerhöhung von 5% in den Jahren 2007 und 2008. Ihrer Ansicht nach beweist dieses Tarifabkommen, dass ‚die Unternehmer auf der föderalen Ebene keine Atempause mehr bekommen’.

Ein anderer Teil der belgischen Bourgeoisie, wie der Verband van Belgische Ondernemingen (VBO bzw. FEB), lehnt es ab, den Regionen eine größere Autonomie zu gewähren. Sie fürchten eine lange Periode politischer Instabilität, viele bürokratische Komplikationen und Konfusion, was die Regelungen anbelangt. Jeder achte Belgier arbeitet in einer anderen Region als der, in der er lebt. Sie fürchten, dass ihre internationale Glaubwürdigkeit Schaden nimmt. Und sie argumentieren, dass alle von Lissabon vorgesehenen Maßnahmen ohne diese Komplikationen umgesetzt werden könnten. Bürgerliche Parteien in der Region Wallonien unterstützen diesen Standpunkt und ergreifen alle möglichen Maßnahmen, um ihre Region auf das Niveau der Lissaboner Agenda zu bringen. Das heißt Ausschluss aller so genannten ‚unwilligen Langzeitarbeitslosen’ von sozialen Vergünstigungen, Steuererleichterungen für Unternehmen, Aktionen gegen kämpferische Gewerkschaftsgliederungen etc. Sie weisen darauf hin, dass der Wahlsieg der rechtsliberalen Partei in Wallonien auch in dieser Region die Reform des Arbeitsmarktes beschleunigen kann. Daher ist die Autonomiefrage nicht entschieden.“

Denkst Du, dass die Gewerkschaften darauf vorbereitet sind, die Arbeiterinteressen angemessen zu verteidigen?

„Nun, zumindest haben die wichtigsten Gewerkschaftsführer begriffen, dass die flämischen Unternehmer, wenn die Lohn- und Beschäftigungspolitik regionalisiert wird, nicht länger regionale oder Branchentarifverträge akzeptieren, sondern nur noch auf betrieblicher Ebene verhandeln werden. Sie werden nur noch dann Abkommen akzeptieren, wenn sie im Interesse der Kapitalisten sind. Deshalb widersetzen sich die Gewerkschaften der Spaltung, weil sie das ganze soziale Gebäude der Nachkriegsperiode zu zerstören droht und die Solidarität gefährdet. Sie bedroht auch ihre eigene Rolle als Organisation. Falls sich die flämischen Arbeitgeberverbände durchsetzen sollten und es keine regionalen oder Branchentarifverträge mehr gäbe, fiele auch die Verhandlungsrolle der Gewerkschaftsapparate weg. Außerdem wollen die flämischen Kapitalisten auch die Dienstleistungsfunktion der Gewerkschaften streichen. Das sagen sie allerdings nicht offen.“

Wie sieht die Gewerkschaftslandschaft in Belgien überhaupt aus?

„Mit einem Organisationsgrad von zwei Dritteln der Beschäftigten hat Belgien heute einen der höchsten Organisationsgrade. Die Vielfalt bei den Gewerkschaften ist historisch auf ideologische Unterschiede zurückzuführen. Die spielen aber eine immer geringere Rolle. Der älteste Gewerkschaftsbund ist die sozialdemokratische FGTB/ABVV (Fédération Générale du Travail / Allgemeen Belgisch Vakverbond, 1,2 Millionen Mitglieder). Der Vorsitzende dieser Gewerkschaft ist Vorstandsmitglied des Parti Socialiste. Die christliche Gewerkschaft (CSC, 1,7 Million Mitglieder) war ursprünglich eine «antisozialistische Gewerkschaft». Ihre Beziehungen zu Cd&V und CDH (d.h. der belgischen CDU) sind heute lockerer geworden. Vor allem in Flandern bildet die CSC allerdings noch immer ein wichtiges Wählerreservoire für die Christdemokraten. Daneben gibt es noch eine kleinere liberale Gewerkschaft (die CGSLB / ACLVB).

Die große Anzahl der Mitglieder hat auch damit zu tun, dass die Gewerkschaften auch Dienstleistungsgewerkschaften sind: Sie zahlen zum Beispiel das Arbeitslosengeld an ihre Mitglieder aus. Diese hohe Mitgliederzahl macht aber auch ihre Stärke aus. Hinzu kommt, dass es gibt keine Gewerkschaftsgesetzgebung gibt. Im Prinzip herrscht eine fast unbeschränkte Streikfreiheit.

Auf der nationalen Ebene gibt es noch Tarifverhandlungen, und auch auf der Ebene der einzelnen Wirtschaftszweige existieren kollektive Vereinbarungen mit bindender Wirkung für den jeweiligen Wirtschaftszweig als Ganzes. Auf der Unternehmensebene sind die Gewerkschaften durch Vertrauensleute, Betriebsräte und Sicherheits- und Gesundheitsausschüsse vertreten.“

Was ist mit der belgischen Linken? In Deutschland und Holland erleben neosozialdemokratische Parteien, wie die Linkspartei und die SP einen regelrechten Boom. Findet in Belgien etwas Ähnliches statt? Und welche Perspektiven hat die PTB/PVDA?

„Meines Erachtens hängen die Perspektiven der belgischen Linken eng mit der sog. ‚Staatsreform’, das heißt mit der künftigen staatlichen und sozialen Entwicklung zusammen. In der belgischen Geschichte wurde sozialer Fortschritt immer nur durch Einheit und durch Kampf erreicht. Jedes Mal, wenn es der Bourgeoisie gelang, die Arbeiter in verschiedene Nationalität zu spalten, gingen die Kämpfe verloren. Auch dieses Mal wird die Idee der Klassenkollaboration auf einer nationalistischen Grundlage wachsen, wenn dem kein Einhalt geboten wird. Dann wird es eine Phase erbitterter nationalistischer Agitation geben, die das Klassenbewusstsein unter den Arbeitern zerstören kann. Die Entfremdung der Arbeiter aus den verschiedenen Regionen wird zunehmen.

Deshalb hat die Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PVDA) seit ihrer Gründung klar Stellung gegen die föderalistische Entwicklung in Belgien bezogen und sich für die Einheit der Arbeiterklasse und des belgischen Volkes eingesetzt. Natürlich bedeutet Demokratie, dass die Rechte von Minderheiten überall geschützt werden müssen. Deshalb fordert die PTB/PVDA, dass die Brüsseler Region auf der Basis der realen sozioökonomischen Region Brüssel ausgedehnt wird. Innerhalb dieser Region sollte eine strikte Zweisprachigkeit eingehalten und gefördert werden. Beide Sprachen sollten an den Schulen unterrichtet werden. Es darf nirgendwo eine Diskriminierung geben.

Die PTB/PVDA unterstützt außerdem die von einigen antiseparatistischen Kreisen erhobene Forderung, eine föderale Wahlpflicht einzuführen. Wobei sich Politiker, die auf der Bundesebene Verantwortung tragen, dem Wählervotum im ganzen Land stellen müssen. Dies könnte eine Waffe gegen zunehmende nationalistische Demagogie in Wahlkampfzeiten sein. Außerdem wollen wir, dass über alle wesentlichen Bereiche, wie Soziale Sicherheit, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung, Lohnpolitik und Verkehrswesen auf der nationalen Ebene entschieden wird. Föderalisierung hat zu Ineffizienz, Verwirrung und Geldverschwendung und darüber hinaus zu einer Spaltung der Menschen geführt.

Gemeinsam mit den Gewerkschaften widersetzt sich die PTB/PVDA der Regionalisierung jedes Teils der Sozialversicherung und unterstützt die Wahrung der Solidarität zwischen den Regionen mit Hilfe dieser Mechanismen. Arbeitsgesetzgebung und Tarifverhandlungen sollten ebenfalls auf der nationalen Ebene verbleiben.

Anstatt vom ‚Geldstrom von Nord nach Süd’ zu reden, thematisiert die PTB/PVDA den sehr viel größeren Geldstrom von den Arbeitern zu den Kapitaleignern. Während der letzten 20% Jahre wurden 10% des BIP von den Arbeitern zu den Kapitaleignern verschoben. Jedes Jahr fließen unangemessenerweise 1,5 Milliarden € aus den Sozialkassen auf die Konten der multinationalen Pharmakonzerne, weil die belgische Sozialverscherung zu viel für Arzneimittel bezahlt. Das ist tatsächlich ein Skandal ! Wenn diese Transferströme gestoppt werden, lassen sich Probleme wie die Alterung der Bevölkerung leicht lösen. Um diese Probleme in Angriff zu nehmen, brauchen wir starke und vereinigte Gewerkschaften und eine klassenbewusste Arbeiterklasse. Zu beidem versuchen wir unseren Beitrag zu leisten und eine entsprechende Partei aufzubauen. Das ist umso wichtiger in einer Situation, in der vor allem in Flandern, die Sozialdemokratie in einer tiefen Krise steckt. Diese Krise hat vor allem mit ihrer blairistischen Politik zu tun. Aber auch in der Frage der Staatsreform vertritt sie Positionen, die die Spaltung des Arbeitsmarktes unterstützten und die heute von den Gewerkschaften, d.h. ihrer traditionellen Wählerbasis heftig bekämpft werden. Sie hat bei den letzten Wahlen eine sehr schwere Niederlage erlitten (- 6,8%) und unter vielen Mitglieder der beiden sozialdemokratischen Parteien herrscht heute große Konfusion.

Vor diesem Hintergrund gab es bei den Wahlen im Juni Versuche diese Wähler von links aus anzusprechen. Zum einen in Form einer Kandidatur des kurz zuvor gegründeten Komitees für eine Andere Politik (CAP) und zum anderen durch einen Öffnungsversuch der PTB. Was das CAP angeht, so ist leider nicht mehr daraus geworden als eine Wählerinitiative der trotzkistischen Gruppe LSP-MAS. Sie bekam dann auch nur 0,3 Prozent der Stimmen. Das war vorherzusehen. Ihre Kandidatenlisten waren keine wirkliche Verbreiterung.

Die PTB/PVDA hatte vorgeschlagen, gemeinsame Listen mit bekannten sozialistischen Oppositionellen aufzustellen. Das gelang allerdings nicht. Auch die PTB hat es nicht vermocht, ihre Listen breit zu öffnen. Ich denke, es ist heute noch zu früh, um eine breite Alternative bei den Wahlen zu schaffen. Es mag zynisch klingen, aber es muss erst eine noch tiefere Krise innerhalb der Sozialdemokratie geben.“

Vorbemerkung und Interview: Rosso

Der Name Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ externer Link Rubrik „Aktuelles“). Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch


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