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Updated: 18.12.2012 15:51
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Umbruch in Tunesien und Ägypten: Auch eine (vorläufig?) schwere Niederlage für den französischen Imperialismus

Die im Juli 2008 durch Nicolas Sarkozy in Paris ausgerufene „Union für das Mittelmeer“ (UPM), der als Gründungsmitglieder die Europäische Union und ein Dutzend Mittelmeer-Anrainer vom südlichen Ufer angehören, zählte zu ihren Stützpfeilern die tunesische und die ägyptische Diktatur. Ihre beiden Vizepräsidenten waren Sarkozy und Hosni Mubarak. Diese Regionalstruktur hat nun ein ernsthaftes Problem... Ebenso wie die aktuelle französische Außenminister Michèle Alliot-Marie. Sukzessive Veröffentlichungen ergaben in den letzten Wochen, dass sie nicht nur politisch das tunesische Regime stützte, sondern zugleich auch ganz persönlich dessen Nutznießerin war. Nicht zuletzt hat auch der (neue) französische Botschafter in Tunis, Boris Boillon, jetzt ganz massive Probleme. Am vergangenen Samstag demonstrierten mehrere Hundert Menschen in der tunesischen Hauptstadt für seinen Rauswurf...

„Ich hatt’ einen Kameraden“, mag die zackige französische Außen– (und frühere Verteidigungs- sowie Justiz-)ministerin Michèle Alliot-Marie wohl bei sich gedacht haben. Und schon war er wieder verloren. Ihr tunesischer Amtskollege Ahmed Abderraouf Ounaïes quittierte am 13. Februar notgedrungen seinen Dienst, den er erst gut vierzehn Tage zuvor angetreten hatte, als er bei der Umbildung der provisorischen Regierung am 27. Januar 11 ins Kabinett aufgenommen worden war.

Das Motiv für seinen Rücktritt: übertriebene Anbiederei bei der französischen Ministerin, welche in Tunesien äußerst schlecht ankam. Besonders, wenn es sich ausgerechnet um Alliot-Marie handelt. Alles, was Alliot-Marie im Augenblick anfasst, geht anscheinend kaputt...

Eine in Tunesien denkbar unbeliebte Ministerin

Die Dame – auch „MAM“ genannt, mit den Initialen ihres Namens - hat sich jedenfalls in Tunesien nun wirklich äußerst unbeliebt gemacht. Erst hatte sie am Dienstag, den 11. Januar – drei Tage vor der fluchtartigen Ausreise des früheren Präsidenten Zine el-Abidine Ben ’Ali – dessen Regime, in einer Rede vor der französischen Nationalversammlung, ausdrücklich Polizeihilfe angeboten. Ihre Begründung lautete, Frankreich habe „das Know-How“, um sowohl Ruhe und Ordnung herzustellen als auch nicht unnötig viele Leute dabei zu töten. Doch es blieb nicht bei Sprüchen. Wie sich später herausstellte, erteilte Alliot-Marie am 12. Januar 11 eine Ausfuhrgenehmigung für die Lieferung von mehreren Tonnen – mutmaßlich mehreren Dutzend Tonnen - von Tränengas und „Sicherheitsmaterial“ an Tunesien.

Das Material wurde dann am Freitag, den 14. Januar - wenige Stunden vor der Ausreise Ben ’Alis in Richtung Saudi-Arabien & Exil - am Pariser Flughafen Roissy blockiert. Nicht etwa durch die Regierung, sondern durch untere Zollbeamte, die meinten, dass etwas mit den Ausfuhrpapieren nicht stimme, und lieber erst einmal das Wochenende über abwarten wollten. Am darauffolgenden Montag (17. Januar) entdeckte die französische Regierung dann den Schlamassel, den sie eifrig zu verwischen suchte, indem sie behauptete, selbst die Zurückhaltung der Waffenlieferung angeordnet zu haben.

Alliot-Marie: private Profite von der befreundeten Diktatur

Aber damit war es noch nicht genug. Denn ab Anfang Februar dieses Jahres stellte sich zu allem Überfluss auch noch heraus, dass Alliot-Marie sich zwischen Weihnachten und Jahresende 2010 in Tunesien aufgehalten hatte. Dort war im Landesinneren die Revolte bereits am Brodeln. Aber die französische Ministerin machte Urlaub. Allerdings nicht wie die Billigtouristen: Sie wurde kostenlos von Tunis aus im Privatjet eines tunesischen Milliardärs transportiert, in einen Badeort (Tabarka) und später noch in eine Oase im wüstenhaften Süden Tunesiens. Ihr freundlicher Gönner, Aziz Miled, zählte zu den Hauptprofiteuren des mafiösen tunesischen Systems unter Ben ’Ali.

Plötzlich lauter Opfer...

Alliot-Marie versuchte zwar, ihn nachträglich als „Opfer“ der Diktatur Ben ’Alis hinzustellen: Er habe eine Firma besessen, von der er 20 Prozent Kapitalanteile an einen Schwiegersohn des Präsidenten – den berüchtigten Mafiosi Belhassen Trabelzi – habe abgeben müssen. Dies entspricht durchaus üblichen Geschäftspraktiken des Familienclans rund um Ben ’Ali, die ihm zum Teil auch von der reichen Oberklasse vorgeworfen wurden.

Um Miled als „Opfer“ durchgehen zu lassen, muss man die Wirklichkeit aber doch ziemlich stark zurecht rücken: Der Mann war unter anderem Mitglied des 350köpfigen Vorstands von Ben ’Alis Staatspartei RCD. Er zählte zu den Unterzeichnern des Aufrufs von 65 Prominenten, die noch vor fünf Monaten Ben ’Ali – wie auf Bestellung – öffentlich dazu aufforderten, auch im Jahr 2014 nochmals für ein weiteres Mandat zur Verfügung zu stehen. Und wie sich einige Tage nach Ausbruch der Affäre herausstellte, wurde sein Privatjet eifrig durch die engere familiäre Umgebung von Präsident Ben ’Ali genutzt. (Vgl. dazu näher Artikel externer Link) Und ’Aziz Mileds Guthaben in der Schweiz waren in den letzten Wochen zeitweilig eingefroren worden, weil er zu der (bislang) regierungsnahen Mafia im Tunesien Ben ’Alis gezählt wird. Derzeit werden seine Konten in Tunesien durch die Übergangsbehörden überwacht, um eine eventuelle Kapitelflucht sofort aufzuspüren und ihr einen Riegel vorzuschieben.

Aber heute, nach dem Sturz Ben ’Alis, wollen alle möglichen seiner Geschäftspartner plötzlich Opfer gewesen sein. Sogar europäische Großkonzerne, die bislang von ihren Verbindungen zum Clan an der Macht profitieren hatten, um sich Quasi-Monopolstellungen auf dem tunesischen Markt zu Lasten auch des einheimischen Kapitals zu sichern. Etwa der Schweizer Konzern Nestlé: Er hatte seit den siebziger Jahren eine starke Stellung in Tunesien inne. 40 Prozent der Anteile an seiner Filiale gehörten tunesischen Staatsunternehmen, die aber ab 2006 durch den Clan der Trabelzis – die Schwiegerfamilie Ben ’Alis – aufgekauft wurden. Letzterer übernahm die 40prozentigen Anteile, jedoch ohne über die Börse zu gehen, so dass Nestlé durch ihren Weiterverkauf keinen Gewinn einstrich. Durch einen stark ideologisch gefärbten Artikel in der Pariser Abendzeitung Le Monde sollte in der ersten Februarhälfte Nestlé nunmehr als Opfer der Ben ’Ali-Diktatur präsentiert werden: Der Konzern sei dort „erpresst“ worden. (Vgl. Artikel externer Link) Doch wer eifrig Geschäfte mit der Mafia treibt, sollte sich nicht darüber beschweren, es mit zwielichtigen oder allzu egoistischen Partnern zu tun zu haben.

Alliot-Maries lukrative Aufenthaltsgründe – und ihr (reicher) Gönner

Scheibchenweise kamen inzwischen weitere Aspekte der Wahrheit ans Tageslicht, jeden Tag ein neues Faktum. Dazu trugen erheblich mehrere aufeinander folgende Ausgabe der investigativen Journalismus betreibenden (und nebenher auch satirischen) Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ bei: Ihre Nummern vom 02. Februar, 09. Februar und 16. Februar schlugen beim französischen Außenministerium jeweils bleischwer ein.

Man musste der Ministerin die Einzelheiten schon aus der Nase ziehen, nachdem sie zunächst auf eine Weise log und log, die beinahe schon wieder amüsant war. Zuerst hatte sie beispielsweise behauptet, sie sei nur ganz zufällig am Flughafen von Tunis durch ihren alten Freund Miled in Richtung Tabarka mitgenommen worden – „als Anhalterin per Flugzeug“, wie die Presse daraufhin höhnte. Später hatte sie noch behauptet (so wörtlich), „der Selbstmord des Arbeitslosen, der die tunesischen Unruhen auslöste“, sei „erst gegen Ende meines Aufenthalts erfolgt“. Doch der 26jährige Mohammed Bou’aziz hatte sich bereits am 17. Januar 2010 im zentraltunesischen Sidi Bouzid mit einer brennbaren Flüssigkeit begossen und angezündet. Also über eine Woche, bevor die französische Ministerin überhaupt in das Land einreiste. Ab dem 18./19. Dezember flammten Unruhen in Sidi Bouzid, ab dem 24. Dezember in weiten Teilen Zentral- und Westtunesiens auf.

Die prosaische Wahrheit ist diese: Alliot-Marie und ihre Eltern hielten sich nicht rein zu touristischen Zwecken im Lande auf, sondern auch für Immobiliengeschäfte. Am 30. Dezember 2010 unterzeichneten sie in ihrem Hotel in Tabarka (das ’Aziz Miled gehört) einen Vertrag, der eine Investition ihrerseits in eine bislang Miled gehörende Maklerfirma vorsah. Die Alliot stockten das Kapital der Immobilienfirma um 325.000 Euro auf und kauften zudem ’Aziz Miled die bislang ihm gehörenden Anteile ab. Alles in allem ein rundes Sümmchen, quasi ein Millionengeschäft. Warum der geplante Immobilienkauf nicht direkt, sondern auf dem Umweg über eine Einlage in eine Maklergesellschaft getätigt wurde, kann sich nur aus einem einzigen Grund erklärt: Es sollte Anonymität gewahrt bleiben, die Identität der französischen Käufer sollte möglichst nicht publik werden.

Die Eltern der Ministerin erwarben von ’Aziz Miled ein Luxusgrundstück in Ghammart, einem Nobelvorort von Tunis (vgl. die Skizze des Grunstücks in der französischen Sonntagszeitung ,JDD’ vom 20. Februar 11). Um dort bauen zu können, musste man im Tunesien Ben ’Ali schon enge Kontakte zum Regime oder dessen Günstlingen besitzen. Denn wie der ,Canard enchaîné’ unterstrich: Um in Tunesien Grund & Boden erwerben zu können, benötigt man mindestens die Zustimmung des Gouverneurs, im Zweifelsfall auch des Innenministers.

Und damit nicht genug: Wie inzwischen amtlich bestätigt wurde, hat die französische Außenministerin während ihres damaligen Aufenthalts, Ende Dezember, ferner mit Noch-Präsident Ben ’Ali telefonisch kommuniziert (vgl. Artikel externer Link). Bislang noch dementiert wird allerdings eine neuere Information (vom 21. Februar), wonach Alliot-Marie denaben auch noch Ben ’Alis Innenminister – Rafik Hedj Belkacem - sowie den berüchtigten Chef seiner Präsidentengarde, den inzwischen inhaftierten Ali Seriati, getroffen haben soll. (vgl. Artikel externer Link) Dies hatte jedenfalls das tunesische Wochenmagazin ,Tunis Hebdo’ behauptet. (vgl. dazu auch Artikel externer Link)

Auch eine französische sozialdemokratische Politikerin, die (u.a.) Ex-Justizministerin Elisabeth Guigou, unterhielten übrigens innige geschäftliche und quasi-politische Beziehungen zu besagtem ’Aziz Miled. (vgl. Artikel externer Link) Mehrere Wochen nach der tunesischen demokratischen Revolution, Mitte Februar 2011, trat Elisabeth Guigou nun nachträglich aus dem Vorstand eines gemeinsam mit ’Aziz Miled – er zählte zu den wichtigsten Sponsoren - betriebenen Think Tanks zurück. Was manche Kommentator/inn/en dazu veranlasste, ihr glatte Heuchelei vorzuwerfen... (Vgl. Artikel externer Link)

Karriereknick für die zackige Ministerin

Dass Alliot-Marie erst als politische Stütze der tunesischen Diktatur und – infolge der Enthüllungen - wenige Tage später auch noch als persönliche Nutznießerin von Gefälligkeiten ihrer Oligarchie erschien, bekam ihr auch in Frankreich nicht gut. Im Laufe der ersten Woche im Februar 2011 verlor sie rapide an Sympathiewerten: In Umfragen verlor sie binnen Tagen satte 25,6 Prozent an positiven Meinungen und fiel auf nur noch rund 28 Punkte. Doch ihre Vorgesetzten, Premierminister François Fillon und Präsident Nicolas Sarkozy stellten sich energisch hinter sie, auch wenn Sarkozy sich kurzfristig überlegt haben soll, sie aus taktischen Gründen zu feuern. Fillon verteidigte sie umso vehementer.

Nur einen Tag später wurde dann jedoch klar, warum er mit solchem Eifer in die Bresche gesprungen war: Auch Fillon hatte auf ähnliche Weise von der Großzügigkeit eines autoritären Regimes in der Region profitiert. In seinem Falle nicht in Tunesien, sondern in Ägypten, wo er sich in den Tagen nach Weihnachten 2010 aufhielt. Von Kairo wurde aus er mit einem Flugzeug, das Präsident Hosni Mubarak ihm gratis zur Verfügung stellte, nach Südägypten und zum Tempel in Abu Simbel gebracht. Später wurde er auch auf einem Schiff aus der Regierungsflotte über den Nil befördert. François Fillons Einsatz für „seine“ Ministerin (die er bislang nicht ausstehen konnte) war also aus ureigenem Interesse erfolgt. Und François Fillon wiederum, um sich abzustützen und nicht etwa durch seinen obersten Boss in Richtung Ausgang geschubst zu werden, zog seinerseits Nicolas Sarkozy mit hinein: Unter welchen Bedingungen er sich in Ägypten aufhielt, das sei an der Staatsspitze durchaus Usus gewesen, verlautbarte er, „bei (den Präsidenten) François Mitterrand, Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy“. Es geht zu wie bei Mafiosi: Riskiere ich zu stolpern, sichere ich mich ab, indem ich damit drohe, einen Anderen zu belasten und mit hineinzuziehen! Sarkozy dürfte über dieses öffentliche Manöver nicht allzu begeistert gewesen sein...

Sei es, wie es sei: Rücktrittsforderungen an die Adressen von Justizministerin (oder Premier) sind vorerst einmal vom Tisch gewischt, auch wenn vielleicht nach den Bezirksparlamentswahlen im März 11 noch eine Regierungsumbildung bevor steht. Dadurch, dass er selbst ,geoutet’ wurde, hat er die – eigentlich „fällige“ – Ministerin Alliot-Marie vor einem unfreiwilligen Abgang beschützt. Jedenfalls zu dem Zeitpunkt...

Nach Tunesien durfte sie allerdings vorläufig nicht mit, als französische Regierungsmitglieder am heutigen Tage (21. Februar) dorthin reisten. Wirtschafts- und Finanzministerin Christine Lagarde sowie Regierungssprecher & Europaminister Laurent Wauquiez reisten in die tunesische Hauptstadt – so lautet die Überschrift eines Presseartikels, in einem konservativen Wochenmagazin – „um zu korrigieren und zu reparieren“. (Vgl. Artikel externer Link) Die Auswahl der beiden Vertreter war „auf Wunsch von Präsident Sarkozy und Premierminister Fillon“ hin erfolgt, verlautbarte es aus dem Außenministerium. Dessen Ressortleiterin Alliot-Marie durfte dagegen in Tunis nicht dabei sein. Die Ministerin redete sich darauf hinaus, dass sie ohnehin angeblich seit längerem für diesen Zeitraum eine Reise nach Brasilen geplant habe. (Vgl. Artikel externer Link) Doch der allgemeine Eindruck war ein anderer... << „Calamity MAM“, bitte bleib’ zu Hause! >>, lautete das Motto in Paris!

„Union für das Mittelmeer“: kleiner Defekt...

Solche kleinen Gefallen sind natürlich nur Symptome und Nebeneffekte einer politischen Kumpanei, welche gerade die französische Regierung sehr weit trieb. Hatten doch das tunesische und das ägyptische Regime Schlüsselpositionen in der „Union für das Mittelmeer“ (UPM) inne, die Nicolas Sarkozy im Juli 2008 in Paris gegründet hatte: Ihre beiden Co-Präsidenten waren niemand anders als Sarkozy und der langjährige ägyptische Staatschef Hosni Mubarak. Das Sekretariat sollte ursprünglich in Tunis angesiedelt werden, ging dann allerdings im Endeffekt nach Barcelona, um an den 1995 in der katalanischen Metropole lancierten „Euromed“-Prozess für eine „Partnerschaft im Mittelmeerraum“ anzuknüpfen. Im Unterschied zum „Barcelona-Prozess“, bei dem Nichtregierungsorganisationen (NGO) und die Zivilgesellschaft jedenfalls theoretisch noch einbezogen werden sollte, basierte die UPM vollständig auf einer Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und den - oft monarchischen oder diktatorischen - Regimes auf der anderen Seite des Mittelmeers. Eine der Hauptaufgaben der Union sollte Sarkozy zufolge die Bekämpfung unerwünschter Migration im Mittelmeerraum sein.

Nunmehr hat die UPM jedoch ein manifestes Problem, brachen doch in den letzten Wochen zwei ihrer wichtigsten politischen Stützpfeiler in sich zusammen: die tunesische und die ägyptische Diktatur. Die nähere Zukunft der „Mittelmeerunion“, die - unter anderem aufgrund der latenten Konflikte zwischen dem Mittelgliedsstaat Israel und seinen Nachbarn - bereits in den vergangenen Monaten eher schlecht als recht funktioniert hat, ist nun höchst gefährdet.

Außenminister ’rausgekickt

Zumindest im Augenblick funktioniert unterdessen die Demokratie am Südufer des Mittelmeers offenkundig besser als auf dessen Nordseite. Denn während Alliot-Marie zwar an Sympathien einbüßte, ihren Job aber derzeit nicht ernsthaft zu verlieren droht, wurde in Tunis ihr Ministerkollege geschasst.

Am 04. Februar 11 – also zwei Tage nach Ausbruch der ersten Affäre um Alliot-Maries letzten Aufenthalt in Tunesien - hatte Ounaïes sich in Paris aufgehalten und sich geradezu kriecherisch gegenüber seiner französischen Amtskollegin verhalten. Er hatte es als den „Traum“ seines Lebens bezeichnet, mit der Amtsinhaberin in Paris zusammenzutreffen. „Ich höre Frau Alliot-Marie gern unter allen Umständen und an allen Orten zu“, fügte er hinzu, und die Außenministerin der früheren Protektoratsmacht als angebliche „Freundin Tunesiens“ bezeichnet. Drei Tage später hatten deswegen Angestellte und Beamte seines Ministeriums in Tunis gegen ihn protestiert und ihn ausgepfiffen. An jenem 07. Februar wusste der arme Außenminister sich nicht anders zu helfen, als seine Sachen zu packen und zu gehen. Sechs Tage später erfolgte dann seine Rücktrittserklärung – kurz bevor die europäische Außenkommissarin Catherine Ashton auf offiziellem Besuch in Tunis eintraf.

Am 21. Februar 11 wurde nun auch sein Nachfolger ernannt, der bisherige langjährige Karrierediplomat Mouldi Kefi. Er wird neuer tunesischer Außenminister. Zuvor hatte er den früheren Staatspräsidenten Habib Bourguiba und Ben ’Ali als Botschafter u.a. in Prag, Berlin/DDR und Moskau gedient, später auch in mehreren westafrikanischen Staaten sowie in Indonesien.

Neuer französischer Botschafter: „Sarkozys BB“ trifft nicht auf Gegenliebe

Nicht nur Alliot-Marie ist in Tunesien, nach dem Sturz des Diktators Ben ’Ali, nicht sonderlich wohlgelitten. Auch ihr bisheriger Repräsentant in Tunis – der dort ansässige französische Botschafter Pierre Ménat – gab keine sonderlich gute Figur ab, nachdem der befreundete Potentat nicht länger da war. Denn Ménat hatte buchstäblich bis in die letzten Stunden des alten Regimes hinein diesem die Treue gehalten. Und er legte dabei eine fast schon bemerkenswerte Verblendung an den Tag: Noch am 14. Januar 2011 war er überzeugt davon, dass die Rede des Präsidenten vom Vorabend – 13. Januar – das Ruder noch einmal werde herumwerfen und das Regime retten könne. (Vgl. Artikel1 externer Link aber auch Artikel2 externer Link) - Anmerkung: Der in einem früheren Artikel an dieser Stelle zitierte französische Botschafter in Tunis (vgl. hier externer Link) ist hingegen nicht Pierre Ménat. Letzterer war 2006 noch nicht in Tunis ernannt worden; es handelte sich damals um seinen Vorgänger, Serge Degallaix, Botschafter von 2005 bis 2009, der aber auf ebenso borniertem Pro-Regime-Kurs fuhr. Im Unterschied zu dessen US-amerikanischen Diplomatenkollegen, die ein bisschen umsichtiger waren...

Nach den Veränderungen an der tunesischen Staatsspitze war Pierre Ménat deswegen unmöglich haltbar. Es erschien der Exekutive in Paris opportun, ihn so schnell wie möglich auszutauschen, und so wurde dringlich Ersatz für ihn gesucht. Ihn fand Präsident Nicolas Sarkozy in Gestalt eines seiner Spezis, des 41jährigen Babyface-Diplomaten Boris Boillon, der in den Jahren 2009/2010 als französischer Botschafter in Baghdad resierte (und zuvor ein Befürworter der militärischen Invasion im Iraq von 2003 gewesen war). Er schien in den Augen Sarkozys der geeignete Mann am geeigneten Platz zu sein – immerhin spricht der (in Algier aufgewachsene) junge Diplomat auch Arabisch, im Gegensatz zu vieler seiner Amtskollegen.

Doch, ach wehe!, und erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Denn Boris Boillon, auch als „Sarkozys BB“ (ausgesprochen wie ,bébé’, französisch für „Baby“) bezeichnet, eckte - so schnell wie er nur irgend konnte – in Tunis gehörig an. Zunächst einmal sorgte der Modus seiner Ernennung für Aufsehen: Boillon wurde am 26. Januar dieses Jahres zum Botschafter in Tunis berufen. Doch an diesem Tag gab es keinerlei funktionierende Regierung, denn diese befand sich gerade in der Umbildung (im Zuge zäher Aushandlungen zwischen der ersten Übergangsregierung vom 17. Januar, dem Gewerkschaftsdachverband UGTT und der Anwaltskammer von Tunis). Neu gebildet wurde die, derzeit amtierende, Übergangsregierung am 27. Januar dieses Jahres. Der neue Botschafter war aber bereits am Vortag ernannt worden. Dies bedeutet, unter Umgehung der üblichen demokratischen Gepflogenheit – welche zum Mindest-Umgangston zwischen souveränen Staaten zählt -, wonach eine entsendende Regierung zuvor dem Aufnahmeland den neuen Amtsinhaber vorschlägt und dessen Einverständnis abwartet.

Dafür konnte Boris Boillon vielleicht noch nichts, mag dies doch der Trampeltier- & Elefanten-Diplomatie Nicolas Sarkozys geschuldet sein. Doch es ging nicht lange, bis der neue französische Botschafter sich auch höchstpersönlich in die Nesseln setzte.

Bei einem Essen mit tunesischen Journalist-inn-en am Donnerstag, den 17. Februar reagierte er auf bestimmte Nachfragen hin höchst unwirsch. Und blaffte eine der anwesenden Journalistinnen an, er werde nicht auf ihre „dämliche“ (débile) Frage antworten – denn „so primitiv“ sei er nicht, in jede „Falle“ zu tappen (Anmerkung 1). Die Journalistin hatte Boris Boillon nach eventuellen Visa-Erleichterungen für Tunesier/innen bei Reisen nach Frankreich befragen wollen (woraufhin er eine extrem schwammige Antwort abgab); und nach dem Verhalten der französischen Außenministerin Alliot-Marie, worüber „BB“ kategorisch zu diskutieren verweigerte. Die Szene, auf Video festgehalten, wurde in Windeseile über Facebook und Internet bekannt. Und am Samstag, den 19. Januar demonstrierten dann mehrere Hundert Tunesier/innen vor der französischen Botschaft in Tunis: „Boillon, hau ab!“ (,Dégage’, wie zuvor auch der Hauptslogan gegen Präsident Ben ’Ali gelautet hatte.) Am Abend äußerte der Botschafter dann im tunesischen Fernsehen eine Bitte um „Entschuldigung“. (Vgl. Artikel1 externer Link und Artikel2 externer Link oder Artikel3 externer Link) Und durfte der offizielle Repräsentant Frankreichs sich auch einmal einen Zacken aus der Krone brechen...

Zu allem Überfluss wurde nun am 21. Januar 11 auch noch ein Video bekannt, das noch nicht alt ist – es stammt vom November 2010 – und eine Passage eines Fernsehauftritts zeigt, in welcher Boris Boillon den libyschen Diktator Muammar al-Qadhafi verteidigt. (Vgl. Artikel externer Link) Dies kommt im Augenblick nicht sonderlich gut an; am selben Tag, an dem die libysche Diktatur Teile der Hauptstadt Tripolis durch die eigene Luftwaffe bombardieren ließ... Boris Boillon hatte im Jahr 2007, als damaliger diplomatischer Berater Nicolas Sarkozys, den Staatsbesuch des libyschen „Revolutionsführes“ Qadhafi in Paris organisiert. (Vgl. dazu Artikel1 externer Link und Artikel2 zu diesem Besuch externer Link)

Dass Boris Boillon zur selben Zeit auch noch unqualifizierten Angriffen der rechtsextremen Politikerin Marine Le Pen ausgesetzt ist (die ihn am 20. Februar am Fernsehen dafür attackierte, dass er ein Foto von sich auf eine Webseite stellte, auf welchem er in Badehose zu sehen ist), ist purer Zufall. Die Badehosen-Affäre ist langweilig und steht auf einem völlig anderen Blatt.

Die europäischen Mächte versuchen ihren Einfluss zurückzugewinnen

Dass die Ambitionen des französischen Botschafters und „Sarkozy-Boys“ ziemlich zurückgestaucht wurden, ist vorläufig ein positiver Ausgang der Dinge. Ebenso der Hinauswurf des gar zu unterwürfigen Außenministers - von dem nur leider zu befürchten ist, dass er auf Dauer folgenlos bleibt. Im März 2011 möchte die EU in Tunis einen „Kongress über politische und ökonomische Reformen“ – den Congrès de Carthage, bennant nach jenem Vorort von Tunis, wo der Präsidentenpalast liegt - abhalten. Die Länder des Nordens möchten definitiv ihre Kontrolle über den Übergangprozess nicht aufgeben.

Ein weiteres Einfallstor für künftige Diktate des Nordens ist der Wille der Europäischen Union, „unerwünschte Migration“ zu verhindern, nachdem Mitte Februar d.J. innerhalb einer Woche insgesamt rund 5.000 Tunesier auf der zu Italien zählenden Insel Lampedusa anlandeten. Die relativ plötzliche Fluchtbewegung ist das Resultat eines lange aufgestauten Drucks: Bislang war es im Polizeistaat Tunesien gefährlich gewesen, über Auswanderungspläne zu sprechen, da die Diktatur im Auftrag der EU-Mächte von den Letztgenannten unerwünschte Migration zu unterbinden trachtete. Der Wegfall des extremen polizeilichen Drucks hat dafür gesorgt, dass einige Tausend junge Erwachsene die Gelegenheit nutzten, nach dem Motto „Jetzt oder nie!“ Viele EU-Politiker malen deswegen nun das Gespenst einer angeblich drohenden Katastrophe an die Wand, das Italien Berlusconis möchte gar eigene Polizisten direkt nach Tunesien entsenden.

Innenpolitische Aspekte des (angekündigten) Umbruchs

Im Inneren des Landes konnte sich die provisorische Regierung in Tunesien, die am 27. Januar formiert worden war, zunächst stabilisieren – trotz massiver Proteste, zuletzt der massenhaften Demonstrationen vom 20. Februar für den Rauswurf der früheren Kader des Ben ’Ali-Regimes aus der Übergangsregierung. Zu ihnen zählt nicht zuletzt der aktuelle Premierminister, Mohamed Ghannouchi, der diese Funktion bereits seit November 1999 ununterbrochen bekleidet. Von den versprochenen Reformen, die zumindest eine demokratische Revolution vollenden würden, befinden sich die meisten bislang noch im Projektstadium – wie die versprochen Überarbeitung der Verfassung - bzw. stellen ein bloßes Versprechen dar. Unterzeichnet worden (am 20. 02.) ist dagegen zumindest die versprochene Generalamnestie für bisherige politische Häftlinge. Dabei dürfte es noch einen Streit um deren Reichweite geben, da von staatlicher Seite versucht wird, „terroristische Gefangene“ – zu denen neben echten islamistischen Extremisten auch einige Gewerkschafter, die fälschlich als angebliche Ultraislamisten angeklagt wurden, gehören. Nach offiziellen Zahlen sind zudem seit dem Umbruch im Januar d.J. insgesamt 72 Häftlingen durch die Gefängniswärter ermordet worden; es gibt eine höher liegende Dunkelziffer.

Zu den wenigen, bisher real verabschiedeten demokratischen Reformen zählt ferner die Unterschrift Tunesiens unter mehrere Zusatzprotokolle zur Internationalen Anti-Folter-Konvention. Letztere Konvention selbst war 1988 durch das Ben ’Ali-Regime unterzeichnet worden, hatte aber in dessen Praxis keinerlei hindernde Wirkung auf die bislang sehr verbreitete Folterpraxis gehabt.

1) LETZTE MINUTE: Wie wir nachträglich erfahren, war die solcherart durch den Sarkozy-Boy-Botschafter zusammengestauchte Journalistin zufällig auch noch die Korrespondentin der französischen Nachrichtenagentur AFP. Lustig, lustig! >

Bernard Schmid, Paris, 23.02.2011


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