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Updated: 18.12.2012 15:51
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Mobilisierungsaversion

Zur Diskussion um Nationalkeynesianismus und gewerkschaftliche Gegenstrategien in der Weltwirtschaftskrise

Werner Sauerborn* ist Mitautor des Positionspapiers »Weiter so – oder Krise als Chance?« des Arbeitskreises Weltwirtschaftskrise von ver.di Baden-Württemberg, das wir im express Nr. 11/2008 dokumentiert hatten. Im Anschluss an die dort formulierte Kritik an den defensiven und »nationalkeynesianisch« inspirierten Reaktionen der Gewerkschaften auf die Krise hat sich eine rege Debatte entwickelt: Neben der Replik von Ralf Krämer aus der Abteilung Wirtschaftspolitik des ver.di-Hauptvorstandes (s. express Nr. 12/2008) haben sich mit Richard Detje und Michael Wendl Kollegen aus der Redaktion des »Sozialismus« zu Wort gemeldet. Auf deren Beiträge bezieht sich Werner Sauerborn im Folgenden. Ebenfalls in dieser Ausgabe veröffentlichen wir einen Artikel von Geert Naber, der unserer Einladung zur Debatte gefolgt ist und die beiden bislang im express erschienenen Beiträge von Ralf Krämer und des AK WWK würdigt und kritisiert. Um einen leichteren, zeitungsübergreifenden Überblick der Debatte zu ermöglichen, ist eine Online-Publikation im Labournet Germany und auf der Homepage des »Sozialismus« geplant.

Warum jetzt große Debatten um Strategiefragen führen? Sind doch alle einig im Gewerkschaftslager, dass investitionsfördernde Konjunkturprogramme sinnvoll sind. Auch dass eine Mobilisierung gegen die absehbaren Folgen der Krise notwendig ist, ist bei ver.di z.B. inzwischen zumindest Beschlusslage. Dennoch: es ist zweifelhaft, ob die Gewerkschaften mit ihrer im Rheinischen Kapitalismus gründenden Aufstellung, Strategie und Ideologie der Wucht dessen, was auf die Lohnabhängigen und auf sie selbst als Institutionen zukommen wird, etwas Wirksames entgegen setzen können. Die Texte von Richard Detje [1], Ralf Krämer [2] und auch Michael Wendl [3], auf die im Folgenden eingegangen wird, lassen diese Zweifel eher wachsen.

Nationalkeynesianismus und/oder Mobilisierung?

Zu einer unstrittigen Selbstverständlichkeit erklären Richard Detje und Ralf Krämer »die Grundthese, dass es um die Entfaltung von Druck gehen muss, um die gewerkschaftlichen Anliegen durchzusetzen« (Krämer, S. 2). In dieselbe Richtung geht auch ein Grundsatzbeschluss des ver.di-Gewerkschaftsrats zur Wirtschaftskrise, der sich letztlich auf langwieriges Drängen dezentraler Gliederungen der Organisation auf eine Perspektive der Mobilisierung in der Auseinandersetzung mit der Krise festgelegt hat. [4] Allein dass es dazu überhaupt großen innergewerkschaftlichen Drängens bedurfte, dass fast drei Monate Krisenentwicklung ins Land gingen, bevor ein solches Bekenntnis erfolgte, und dass die ver.di Bundesebene, von IGM- und DGB-Führung ganz zu schweigen, nun doch nicht zu den ersten großen Demos (in Deutschland am 28. März in Frankfurt a.M. und Berlin) aufruft, legt die Vermutung nahe, dass im vorherrschenden Politikkonzept der Gewerkschaften angesichts der Krise Mobilisierung und Druckentfaltung eher etwas Äußerliches sind, der tonangebende Nationalkeynesianismus (NK) eher »mobilisierungsavers« ist, Mobilisierung also tendenziell eher als hemmend gilt.

Die Denkfigur des NK, auch wenn dem viele Beteuerungen entgegenstehen, ist das letztlich gemeinsame Interesse in der Krisenbewältigung, das es aufzudecken gelte: In seiner einzelwirtschaftlichen Gier verstoße das Kapital gegen das Allgemeinwohl und ruiniere damit seine eigenen Verwertungsbedingungen. Nun, da dies in der Krise schmerzhaft deutlich geworden sei, werde dieser neoliberale Irrtum sichtbar, und die Voraussetzungen stünden gut, sich im Sinne eines gemeinsamen Interesses auf politische Maßnahmen gegen die Krise zu verständigen. Jetzt müsse doch der Groschen fallen, so die verbreitete Hoffnung.[5] Vielleicht brauche es noch eine Informationskampagne oder mehr Kommunikation im Krisenmanagement (ohne es gleich Konzertierte Aktion oder Bündnis für Arbeit zu nennen), aber nicht unbedingt eine gewerkschaftliche Mobilisierung. Damit fördert das keynesianische Theorem die Passivität der am Ende Betroffenen, die, statt in das Räderwerk des Krisenmanagements einzugreifen, vor den Bildschirmen sitzen, den großen Krisenmanagern die Daumen drücken und hoffen, dass der Kelch an ihnen vorüber gehen möge.

Die traditionelle Popularität des Keynesianismus in der organisierten Arbeiterbewegung hat ihren Grund in der Illusion, man könne systemkonform und im Allgemeininteresse offensive Forderungen nach Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich und sozialer Sicherung stellen. Stattdessen lag aber das gerade Gegenteil davon im wirklichen, nicht irrtümlichen Kapitalinteresse (vor allem im deutschen Akkumulationsmodell), nämlich Agendapolitik, Sozialabbau und Tarifdumping, denn gerade das führte zu Weltmarktstärke und ermöglichte diese riesige Umverteilung nach oben. [6] Auch jetzt in der Krise gibt es dieses gemeinsame Interesse nicht und auch nicht wieder. Das Kapital distanziert sich nicht von seiner neoliberalen Gestalt, es hat nur Korrekturbedarf, was die Regulation der Finanzmärkte betrifft. Deren Fehlen hat sich als selbstzerstörerisch erwiesen, und so wird sich mit wirksameren internationalen Regeln für die Finanzmärkte eine typische kapitalistische Staatsfunktion auf globaler Ebene herausbilden. Der leibhaftige Neoliberalismus, wie wir ihn seit Jahren bekämpfen, mit seinen Privatisierungen, Lohndumping, Rentenkürzungen, Prekarisierungen, Studiengebühren, Arm-Reich-Gegensätzen soll nicht revidiert werden, ist nicht einmal ernsthaft geschwächt, sondern droht das Muster auch für die Abwälzung der Krisenfolgen zu werden. Was könnte die ungebrochene Lebendigkeit des Neoliberalismus besser symbolisieren als die Teilnahme von Leitfiguren des Neoliberalismus wie Ackermann und Rürup an der große Krisenrunde bei der Kanzlerin Mitte Dezember (während Ralf Krämer noch meint: »das Bündnis für Arbeit ist Geschichte«; S. 3)? Und was fördert die Illusion in eine korporatistische Krisenlösung mehr als die Teilnahme der Spitzen der deutschen Gewerkschaftsbewegung an dieser Runde? Auf diese Weise wird der real existierende Neoliberalismus nicht ins Wanken zu bringen sein. Dazu braucht es ein Subjekt. Und das müsste sich auf den Straßen und in den Betrieben konstituieren.

Neoliberalismus nur falsche Ideologie?

»Wenn mit der tiefen Krise der Finanzmärkte der Neoliberalismus tatsächlich am Ende ist, dann endet damit eine Herrschaft, gegen die die Gewerkschaften in den zurückliegenden 28 Jahren ... immer wieder gekämpft haben, ... von ihnen wird enormer Druck genommen, ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern sich, wenn (der Neoliberalismus) zu einer Non-Agenda im gesellschaftlichen Diskurs wird« (Detje, S. 37). Deshalb sei der »Kernpunkt für uns die ideologische Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus in Alltagsverstand, Medien und Politik« gewesen und sei es noch, so Ralf Krämer (S. 2), stellvertretend für den vorherrschenden politischen Ansatz der Gewerkschaften. Der Neoliberalismus soll in seiner Verlogenheit und in seinem Interessenbezug demaskiert werden, auch in den Köpfen der Lohnabhängigen. Dazu in Wort und Text vieles beigetragen zu haben, ist das unstrittige Verdienst von Detje, Krämer, Wendl und vieler anderer. Übersehen wird dabei jedoch, dass es sich wie bei jeder Ideologie nicht um ein freischwebendes Gedankengebäude handelt, sondern um das getreuliche theoretische Abbild des neuen globalen Kapitalismus, den es für die ProtagonistInnen des Nationalkeynesianismus fast nicht zu geben scheint (s.u.). Eine Ideologie bekämpfen zu wollen, ohne eine Antwort auf die ihr zugrunde liegenden geänderten Realitäten, ihre neuen Machtverhältnisse und Erpressungspotentiale und damit schließlich auch keine überzeugende Erklärung für die Krise der Gewerkschaften geben zu können, das ist die Sackgasse des Nationalkeynesianismus. [7]

Zugespitzt: was nutzt einer Belegschaft, deren Standort verlagert werden soll, oder der die Löhne mit Verweis auf die globale Wettbewerbsfähigkeit gekürzt werden sollen, die Erkenntnis, dass Neoliberalismus die Ideologie der Gegenseite ist und höhere Löhne volkswirtschaftlich besser wären? Ihr wäre besser geholfen, wenn sie mit ihrer Gewerkschaft der neuen Mächtigkeit des Kapitals nicht nur ideologisch, sondern auch machtpolitisch etwas entgegensetzen könnten. »Mobilisierungsavers« ist der Nationalkeynesianismus also auch, weil er die Ideologiefrage verabsolutiert, statt sich auch zu beziehen auf die realen Machtverhältnisse und auf alles, was strukturell einer Mobilisierung entgegensteht.

Streiken für ein Konjunkturprogramm? Wer ist Subjekt?

Recht hat Ralf Krämer, wenn er es nicht für realistisch hält, dass mit der Forderung nach einem »Konjunktur- und Zukunftsinvestitionsprogramm ... eine breite Streikbewegung zu entwickeln« (S. 2) ist. [8] Richtig, das passt irgendwie nicht. Während Krämer dies als Beleg für seine Skepsis gegenüber politischen Streiks dient, ist umgekehrt zu fragen, ob nicht die Wiederaneignung des in den 50er Jahren aufgegebenen politischen Streikrechts (das »Bad Godesberg der Gewerkschaften«, so Wendl, S. 4) für die anstehenden Auseinandersetzungen unverzichtbar ist, die nationalkeynesianische Programmatik sich aber nicht als mobilisierungsfähige Forderung anbietet. Zu fragen ist, ob hier nicht das Subjekt zum Objekt gerät, indem wirtschaftpolitische Forderungen, die gerade in ihrer nationalkeynesianischen Ausrichtung oft nicht überzeugen können [9], zur zentralen Agenda der Mobilisierung gemacht werden sollen, statt das verallgemeinerte unmittelbare Lebens- und Überlebensinteresse der Lohnabhängigen, des gewerkschaftlichen Subjekts, ohne Rücksicht auf eine volkswirtschaftliche Begründbarkeit zum Ausgangspunkt zu machen. Eine plausible gesamtwirtschaftliche Argumentation kann eine »hilfreiche« Ergänzung (Krämer, S. 2) sein, sollte sich aber nicht an die Stelle des ursprünglichen Anliegens setzen. Wenn Michael Wendl schreibt, die tarifpolitische Funktion einer Gewerkschaft bestehe »gerade nicht in der Propagierung eines bestimmten Typs von Wirtschaftspolitik – das hat höchstens flankierende Funktion, sondern in der Durchsetzung von Tarifverträgen« (S. 3), dann stellt eine so formulierte Selbstbescheidung den Zusammenhang angemessen dar. Typischer, wenn auch selten so klar, ist für die gewerkschaftlich verbreitete Denkungsart die folgende Argumentation, mit der eine Tarifforderung völlig auf den Kopf gestellt wird: »Wenn wir angesichts wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit eine deutliche Verbesserung unserer Einkommen fordern, dann handeln wir nicht aus egoistischen Gründen, sondern stellen uns der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.« [10] Das unmittelbare Interesse scheint illegitim, ja unsozial, seine Rechtfertigung erhält die Forderung erst durch den Verweis auf eine vermeintliche gesamtgesellschaftliche Sinnhaftigkeit, die sich wiederum aus ihrer binnenmarktstärkenden Wirkung ergebe (was an sich schon eine brutale Verkürzung darstellt). Beschäftigten, die kämpfen wollen, sollen, müssten, Forderungen aufs Panier zu schreiben, die im günstigen Fall mittelbar in ihrem Interesse liegen, ist mobilisierungsavers!

Mit Gewerkschaftsstrukturen von gestern gegen den globalen Kapitalismus?

Ein entscheidender Dissens liegt in der Frage, ob das Festhalten am Gewerkschaftsmodell des Rheinischen Kapitalismus unter den Bedingungen eines radikal veränderten Kapitalismus ein Grund der Schwäche der Gewerkschaften und im Sinne transnationaler Gewerkschaftsstrukturen und -strategien weiter zu entwickeln wäre, oder ob die bestehenden Gewerkschaftsstrukturen und -strategien nichts mit ihrer Defensive zu tun haben und daher weiterhin Grundlage der Auseinandersetzungen gegen die Krisenfolgen sein sollen, wie Richard Detje, Ralf Krämer und Michael Wendl dies im Kern vertreten. In diesen Gegensatz wollen sie sich jedoch nicht hineinziehen lassen. Selbstverständlich sei eine »keynesianisch orientierte Wirtschaftspolitik in ganz Europa anzustreben (Krämer, S. 2), und nach Detje ist »die Forderung nach einer stärkeren Europäisierung ... und Transnationalisierung gewerkschaftlicher Politik unstrittig« (S. 42).[11] Richtig ist dies insoweit, als die Gewerkschaften sich in letzter Zeit stärker mit europäischer Politik [12]beschäftigen, seltener auch mit darüber hinausgehender internationaler Politik. Dabei geht es meist um allgemeine Forderungen und Visionen zu Europa, wie sie auch Detje formuliert (Europäisches Sozialmodell, mixed economy; vgl. S. 42), manchmal auch um konkrete Forderungen und Mobilisierungen wie anlässlich der Port Package-, der Bolkestein- oder der drohenden Arbeitszeitrichtlinie, zu der die Gewerkschaften im Dezember 2008 allerdings nicht ernsthaft mobilisiert haben. Wie ein ehernes Gesetz scheint jedoch zu gelten, dass in diesen Diskussionen die Frage, was Europa oder der globalisierte Kapitalismus mit den Gewerkschaften selbst zu tun hat, ausgespart beleibt: Das Gewerkschaftsmodell des Rheinischen Kapitalismus scheint überhistorische Geltung zu haben, da können sich die ökonomischen Strukturen ändern, wie sie wollen, nationale Gewerkschaftsstrukturen bleiben! Und wenn, wie zu befürchten, die Weltwirtschaftskrise die Gewerkschaften weltweit in neue Organisationskrisen stürzen wird, dann wird, wenn sich nichts ändert, wohl wieder mit nationalen Fusionen reagiert, bis sich in Deutschland noch drei Multibranchengewerkschaften unter dem Dach eines vollends zur Bedeutungslosigkeit geschrumpften Deutschen Gewerkschaftsbundes wiederfinden!? Eigentümlich konservativ und unbeweglich erklären Gewerkschaftslinke das gegebene Gewerkschaftsmodell de facto für ahistorisch und sakrosankt. So endet Ralf Krämers Beitrag mit einem klaren Bekenntnis zum »Weiter so«: »Ausgangspunkt und zentral bleibt dabei der Kampf auf dem Terrain und für eine andere, heute machbare Politik der einzelnen Nationalstaaten«.

Bei einer solche Sichtweise kann nur verharren, wer die Veränderungen des Bezugsfelds, innerhalb dessen sich Gewerkschaften behaupten müssen, ignoriert, gering- oder fehleinschätzt. Dies macht sich an folgenden Argumentationen fest:

  1. Es gebe sie doch weiterhin die nationalen Institutionen, die nationalen Regierungen, die Arbeitgeberverbände mit ihrer neoliberalen Politik. Und sie hätten weiterhin Entscheidungskompetenz in den allermeisten politischen und tariflichen Fragen. Und weil sie real seien, müssten sie auch Adressat der Gewerkschaftsbewegung, und diese im Wesentlichen national aufgestellt bleiben.

    Die fundamentale Machtverschiebung im Klassenverhältnis infolge der Globalisierung des Kapitalismus bedeutet jedoch weder, dass es diese dezentrale Staatlichkeit und nationalen Institutionen nicht mehr gäbe, noch dass sie nicht mehr die formal Entscheidenden wären. Der globale Kapitalismus entfaltet seine Macht anders. Er ist (noch) keine örtlich, institutionell oder personal fixierbares Machtzentrum, sondern er ist ein globales Konkurrenzverhältnis, ein System entgrenzten Wettbewerbs um die besten Angebotsbedingungen bei Lohnkosten, Sozialstaatskosten, Steuerbedingungen, um möglichst weitgehende Ausbeutungsfreiheit bei Lohnabhängigen und Umwelt.

    Dieser globale Konkurrenzmechanismus entfaltet seine Macht über Bestrafungs- und Erpressungspotentiale all denen gegenüber, die sich diesen Konkurrenz- und Dumpingmechanismen widersetzen, also z.B. Gewerkschaften gegenüber, die Lohnforderungen stellen oder auf politischer Ebene um Mindestlohn, Rente mit 65 oder um soziale Daseinsvorsorge kämpfen. Die Erscheinungsebene der Macht, ihre Institutionen, Befugnisse und Entscheidungsvolumina mögen fast gleich geblieben sein, das Wesen der Macht ist aber ein anderes. Sie folgt einer globalen Logik, die sich natürlich weiterhin vor Ort konkretisiert und gegen die natürlich weiterhin vor Ort gekämpft werden muss. [13]

    In diesem neuen Kapitalismus sitzen die Gewerkschaften, eben weil sie sich nicht adäquat weiterentwickelt haben und sich weiter an vergangenen Klassenstrukturen orientieren, inzwischen strukturell am kürzeren Hebel des Machtwirkungsmechanismus. Komplementär gilt: Die Macht des Kapitals auf der globalen Ebene ist die Schwäche der Gewerkschaften ebendort. Erst ihr historisches Versäumnis, in dieser neuen kapitalistischen Arena Organisierung, Institutionen und Gegenmacht zu entwickeln, hat dem Kapital dieses neue Reich der Freiheit mit allen Chancen und Risiken des schrankenlosen Waltens beschert. Und wo es keine Gegenmacht gibt, gibt es für das Kapital auch keine Veranlassung, Strukturen und Institutionen der (Sozial-)Staatlichkeit zu entwickeln, mit denen gewerkschaftlicher Druck aufgefangen oder irgendwie integriert werden könnte. Arbeitgeberverbände auf globaler Ebene z.B. werden erst entstehen, wenn die Gewerkschaften auf dieser Ebene auf den Plan treten. Das zeigen geradezu lehrbuchmäßig die internationalen Reederverbände, die sich erst in Arbeitgeberfunktion etablierten, als die ITF-Section Maritim als de facto globale Gewerkschaft der Seeleute handlungsfähig wurde. Statt sich mit den Gründen dieses historischen Versäumnisses der Gewerkschaften zu befassen, dient die Nichtexistenz oder Bedeutungslosigkeit politischer Adressaten auf globaler Ebene dem Nationalkeynesianismus als Argument für die Aussichtslosigkeit gewerkschaftlicher Ausrichtung auf die transnationalen Ebenen: »Auf der europäischen und erst recht der globalen Ebene sind die Völker (?) von demokratischem Einfluss weitgehend ausgeschlossen« (Krämer, S. 2). Der Grund hierfür wird nicht in den ökonomischen Machtverhältnissen, sondern in der neoliberale Ideologie, wo immer sie herkommen möge, verortet. Die lange neoliberale Vorherrschaft habe »sich tief in den Strukturen und Rechtsgrundlagen und der Zusammensetzung von Organen eingeschrieben«, die zentralen Akteure, auf die Einfluss genommen werden müsse, seien daher die nationalen Regierungen (ebd.), deren Gegenpart eben nationale Gewerkschaften sein müssten.
  2. Wenn es denn negative Einwirkungen von globaler oder europäischer Ebene auf die Klassen- und Verteilungsverhältnisse vor Ort gebe, was immer weniger bestreitbar ist und bestritten wird, dann sei dies nur die Summe der jeweiligen nationalen Einflussnahmen auf die transnationale Handlungsebene und rechtfertige keine gewerkschaftliche Neuorientierung, sondern mache eine Verstärkung des Kampfes auf der jeweiligen nationalen Ebene erforderlich, von der dieser Einfluss ausgehe. »Die Durchsetzung einer anderen Politik in Europa geht nur auf dem Wege der Durchsetzung einer anderen politischen Orientierung in Deutschland und möglichst vielen anderen Nationalstaaten in Europa« (Krämer, S. 3). Die nationalen Regierungen agieren auf transnationalem Parkett nicht anders als auf nationalem: Sie versuchen die nationalen Wettbewerbsbedingungen in der globalen Standort- und Angebotskonkurrenz zu optimieren. Der Appell, sich dem von jeweils nationaler Ebene zu widersetzen, bleibt der beste Weg, solange es keine grenzüberschreitenden Gewerkschaftsstrukturen und Kämpfe gibt. Er ist jedoch so gut und gleichzeitig hilflos wie der Rat an jeden Einzelnen einer Belegschaft, beim Chef eine Lohnerhöhung zu fordern. Ohne Abstimmung, Koordination, gemeinsames Handeln droht jeder sich eine Abfuhr zu holen, und diejenigen, die am kämpferischsten auftreten, gewärtigen womöglich die größten Nachteile. Diese vielen einzelnen Niederlagen waren geschichtlich die Lehren, aus denen heraus sich Solidargemeinschaften und Gewerkschaften gebildet haben. Und dieser Lernprozess steht nun für die Gewerkschaften unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus wieder an.
  3. Das Plädoyer für den nationalen Ansatzpunkt scheint dadurch noch eine weitere Plausibilität zu erfahren, dass Deutschland »nicht irgendein kleines Land unter vielen« ist, sondern ein Land, »in dem die Umverteilung zugunsten des Kapitals in den letzten Jahren am massivsten durchgesetzt wurde« und zwar zulasten »der Verteilungsposition der Lohnabhängigen in den anderen europäischen Ländern«. (Krämer, S. 2). Dies beschreibt sehr zutreffend die Mechanismen des globalen Standortwettbewerbs, Deutschlands Rolle darin und die Notwendigkeit, gerade hier den Widerstand zu entwickeln. Aber in dem Maße, in dem dies besonders notwendig ist, ist es auch besonders schwer. Wenn den Gewerkschaften die Handlungsoption auf globaler Ebene fehlt, von der aus sich die Machtverhältnisse definieren, werden sie mehr oder weniger zwangsläufig auf die Rolle des Mitspielers innerhalb dieser Standortkonkurrenz verwiesen sein. Fehlt ihnen die adäquate Widerstandsebene, werden sie schwer daran zu hindern sein, die second-best-Variante zu verfolgen, und die heißt, auf die Behauptung der eigenen Arbeitgeber im globalen Wettbewerb und die damit verbundene Tantieme in Form von Arbeitsplatzabsicherung und relativen Lohnerfolgen zu setzen, die dann zumindest für die Stammbelegschaften dabei abfallen können. Die Chance, dass dieses traurige und unsolidarische Kalkül, der beste Verlierer unter den global Erpressten zu sein, aufgehen könnte, stehen nicht schlecht. Die auffällige Zurückhaltung, die die IGM-Führung bei der Vorbereitung sowie der nationalen und internationalen Koordination des Widerstands gegen die Krisenfolgen übt, könnte ein Indiz für dieses Kalkül sein.

Wie Gegenmachtstrategie entwickeln, ohne eigene Ohnmacht erklären zu können?

Für die Lohnabhängigen, vor allem außerhalb der Kernbelegschaften, und auch für die Gewerkschaften als Organisationen steht angesichts der dramatischen Krisenentwicklung einiges auf dem Spiel. Eine Gegenstrategie ist nicht erkennbar. So unstrittig zumindest rhetorisch ist, dass es dabei im Kern um die Entfaltung von Druck gehen muss, so unklar ist im gewerkschaftlichen Mainstream, woher dieser kommen soll. Schließlich bemühen sich die Gewerkschaften mit ihrem bisherigen Instrumentenkasten seit Jahren darum, ohne mehr erreicht zu haben, als noch größere Niederlagen verhindert zu haben, die ohne ihr Tun eingetreten wären. Die Resultate der Gewerkschaftspolitik der letzten zehn oder auch zwanzig Jahre sind wahrlich keine Begründung für ein allenfalls um ein paar Modifikationen angereichertes »Weiter so«. Im Gegenteil, diese Resultate werfen Fragen auf, deren Beantwortung Voraussetzung jeder erfolgreichen Gegenstrategie ist: Wie ist es möglich, dass die Gewerkschaften in Zeiten der Hochkonjunktur und sprudelnder Profite keine realen Einkommensverbesserungen durchsetzen können, dass sie die mühsam erkämpfte 35-Stunden-Wo-che fast flächendeckend wieder verloren haben, dass sie die Demontage wesentlicher Eckpfeiler der sozialen Sicherung (Rente mit 65, paritätische Finanzierung) nicht verhindern konnten und dass sie in Zeiten der Konjunktur und des Beschäftigungsaufbaus, in denen Gewerkschaften normalerweise wachsen und erstarken müssten, allen Tatarenmeldungen zum Trotz permanente Mitgliederverluste zu verzeichnen haben? Für diesen dramatischen Sachverhalt gibt es keine überzeugenden Antworten und Analysen, aber viele vordergründige, zirkuläre, personalisierende, oberflächlich soziologische Erklärungen: Wenn es allein die neoliberale Ideologie wäre, woher käme sie dann, warum ist sie plötzlich so erfolgreich? Wenn es eine neue Aggressivität und Rücksichtslosigkeit des Kapitals sein soll, war das Kapital dann früher weniger maßlos, bzw. wieso konnte diese neue Aggressivität soviel Spielraum bekommen? Wenn es konfliktscheue Führungen sein sollten, waren Heinz Kluncker oder Hans Maier radikalere Gewerkschaftsführer als Frank Bsirske oder Berthold Huber? Liegt es am Druck der Arbeitslosigkeit? Warum ist es in der Hochkonjunktur nicht gelungen, diese durch Arbeitszeitverkürzung abzubauen? Liegt es an neuen Arbeitsformen oder an einer soziologisch anderen Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse – warum erreichen Gewerkschaften diese neuen Gruppen nicht mehr, und warum ist ihnen das bei früheren Veränderungen eher gelungen usw.?

Ohne ein Verständnis der bisherigen Ohnmacht wird es keine neue Gegenmachtperspektive geben. Vordergründige betriebswirtschaftliche Organisationsentwicklungsansätze wie Chance 2011 bei ver.di oder Beschwörungen und Hauruck-Appelle à la Trendwende 2010 beim DGB werden auch mit weiteren Vordatierungen nicht funktionieren. Ein »weiter so« wird angesichts der Wucht der Krise für die Gewerkschaften allmählich existenzbedrohend. Andererseits sind Krisenzeiten bekanntlich Erkenntniszeiten, und vielleicht stehen die Chancen unter diesen dramatischen Bedingungen besser, dass sich die Gewerkschaften mit ihren gravierenden strukturellen Defiziten befassen und sich auf den langen Weg zu Widerstandsorganisationen im globalen Kapitalismus begeben. Einmal mehr gilt mit Bert Brecht: »Wer sich selbst versteht, wie soll der aufzuhalten sein?«

* Werner Sauerborn arbeitet für den ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/09


(1) Richard Detje: »Tod des Neoliberalismus – Krise der Gewerkschaften«, in: Sozialismus, Nr. 12/2008

(2) Ralf Krämer: »Wie Gegenmacht organisiert werden soll. Forderung nach der Verstärkung des Drucks auf Regierungen«, unter anderem erschienen in express, Nr. 12/2008, S. 2

(3) Michael Wendl: »Keynesianismus als Feindbild?«, in: Sozialismus Nr. 2/2009

(4) S. die gekürzte Fassung »Aktiv werden für eine soziale Antikrisenpolitik« in express, Nr. 12/2008 sowie die Langfassung auf: http://wipo.verdi.de

(5) »Was muss nach dem grandiosen Bankrott der Finanzmarktjongleure noch geschehen, bis die Politik bereit ist, umzusteuern?« Frank Bsirske in: ver.di publik, Nr. 11/2008

(6) Mit der realistischen Sicht dieser Klassenverhältnisse geht man nicht der Gegenseite und ihrer neoklassischen Doktrin auf den Leim, wie Michael Wendl meint (S. 3), sondern schafft bessere Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gegenstrategie.

(7) Entsprechend vordergründig erklärt Michael Wendl den tarifpolitischen Krebsgang der Gewerkschaften im Wesentlichen zu einem ideologischen Problem, das darin bestehe, dass die Tarifpolitik nicht auf die keynesianische Wirtschaftpolitik höre, ihr nicht folge, weil es »eine Art ›Firewall‹ zwischen den verteilungspolitischen und tarifpolitischen Analysen von IMK, WSI, aber auch dem eigenen Bereich Wirtschaftspolitik und der praktischen Tarifarbeit von ver.di« gebe. (S. 5)

(8) Ebenso wenig vorstellbar ist eine gewerkschaftliche Mobilisierung für das von Richard Detje skizzierte Modell einer europäischen Mixed Economy, das er als Antwort auf die Krise skizziert, vgl. S. 42.

(9) Im Detail ist z.B. zu fragen, ob die Forderung nach Wiedereinführung der Pendlerpauschale perspektivisch im ArbeitnehmerInneninteresse ist, oder ob die von der SPD inspirierte Forderung nach Geschenkgutscheinen, die betrieblich wegen ihres Strohfeuereffekts kaum mitgetragen wird, aber auf Platz zwei der ver.di-Forderungsliste gesetzt wurde, mobilisierungsfördernd wirkt. Generell ist zu fragen, ob die Verschuldungsfolgen einer keynesianischen Wirtschaftspolitik nicht zu leicht genommen werden. Auf welche Weise letztlich der Schuldenabbau erfolgt, ob durch Hyperinflation oder gar Währungsreform, ist schließlich auch eine Verteilungs- und damit Machtfrage. Man erinnere sich nur an die best-practise-mäßige Berufung der keynesianischen Linken auf das US-deficit-spending der Bush-Ära, das vermeintlich nur den einen Haken gehabt habe, dass es für Rüstungs- statt für Infrastrukturausgaben erfolgt sei.

(10) ver.di-Info, Nr. 2/2008 zur Tarifrunde Länder, Nov. 2008, S. 2

(11) Die Geringschätzung des Globalisierungskontextes zeigt sich auch in der fast synonymen Bezugnahme auf die europäische und globale Ebene. Ob aus geografischen oder anderen pragmatischen Gründen gilt das größere Interesse Europa. Europa ist jedoch nicht der Ausweg aus der Globalisierungsfalle, sondern eine lediglich erweiterten Ebene der Standortkonkurrenz, bei der es im Sinne der Lissabon-Strategie statt um deutsche um europäische Standortinteressen gegenüber anderen Wirtschaftsregionen der Welt geht.

(12) »Einem sozialen Europa die Zukunft geben. Manifest zur Europapolitik – Grundzüge eines alternativen Wirtschafts- und Sozialmodells für die EU«, Beschluss des ver.di-Gewerkschaftsrats vom 30.9./1.10 2008

(13) Die Sorge, im globalen Kapitalismus müsste zu Demos grundsätzlich nach Brüssel oder New York angereist werden, ist daher unbegründet.


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