Home >Diskussion > Wipo > Finanzen > Finanzmarktkrise 2008 > hirsch1 | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Krise?! War da was? Überlegungen zu einem andauernden Problem – von Joachim Hirsch* Anfang Februar hat die Deutsche Bank ihre Bilanz für das Jahr 2009 gezogen: Man hat ein Plus von fünf Milliarden Euro gemacht und folgerichtig die Krise für beendet erklärt. Die Chance für das Kapital, als die Joachim Hirsch im express Nr. 4/2009 die größte Wirtschaftskrise der Geschichte der BRD beschrieben hatte, hat die Deutsche Bank also genutzt. Aber weder die Perspektive noch die Bilanz einer Bank ist verallgemeinerbar und als Diagnose für die gesamte Gesellschaft tauglich. Darauf aufmerksam zu machen, die entsprechende Propaganda zu kritisieren und an der Möglichkeit anderer als kapitalistischer Vergesellschaftungsformen festzuhalten, ist und bleibt – erst Recht in der Krise – Aufgabe kritischer Publizistik, so das Resümee von Joachim Hirschs Referat, das er bei der letzten Mitgliederversammlung der AFP hielt und das wir hier dokumentieren. Man könnte den Eindruck haben, als sei die Krise gar nicht so schlimm gewesen, oder zumindest sei das Schlimmste überstanden. Ein Fehlalarm also wie bei der Schweinegrippe? Doch nicht ganz. Während die Krise von den PolitikerInnen schon wieder schöngeredet wird, stimmt man gleichzeitig die Bevölkerung auf schwere Lasten ein. Diese werden in der Tat enorm sein und sich auf lange Zeit erstrecken. Und vorüber ist die Krise keineswegs. Von einem neuen Aufschwung kann kaum die Rede sein, viele Banken sind nach wie vor de facto pleite, und auch Staatsbankrotte sind inzwischen nicht mehr ausgeschlossen. Vor allem: Sowohl Unternehmen wie Regierungen führen genau die Politik weiter, die zu dem Debakel geführt hat. Von den ökonomischen Daten her handelt es sich um die schwerste Krise seit den dreißiger Jahren der letzten Jahrhunderts. Sie als »Finanzkrise« zu bezeichnen war und ist Schönfärberei, die glauben machen will, es handle sich um eine Art Unfall, der durch bessere Regulierung hätte vermieden werden können, oder sie sei dem verantwortungslosen Handeln einiger gewissenloser Finanzjongleure zu verdanken. In Wirklichkeit handelt es sich um eine klassische kapitalistische Großkrise, wie sie regelmäßig alle Jahrzehnte vorkommt. Es ist eine Überakkumulationskrise, die dadurch hervorgerufen wurde, dass angesichts einer global immer ungleicher werdenden Einkommensverteilung, der damit verbundenen Konsumschwäche und eines gleichzeitig beschleunigten Rationalisierungstempos die Möglichkeiten für profitable Investitionen im produktiven Sektor geringer wurden. Deshalb flossen die nach der neoliberalen Wende enorm gestiegenen Profite zunehmend in die Finanzspekulation. Die dadurch erzeugte Finanzblase konnte die kritische ökonomische Situation eine Zeit lang verdecken, musste aber irgendwann platzen. Im Herbst 2008 war das der Fall. Ein Unterschied zur Krise der dreißiger Jahre liegt in den staatlichen Reaktionen – Unternehmensrettungen und Konjunkturprogrammen – die kurzfristig besser wirkten und nicht dazu führten, die Krise noch weiter zu verschärfen. Angesichts der dadurch erzeugten Staatsverschuldung kann diese Politik indessen nicht unbeschränkt fortgesetzt werden. Nicht zuletzt entfaltet sie keine »reinigenden« Wirkungen. Ein Beispiel dafür ist die Abwrackprämie, die an den strukturellen Überkapazitäten der Automobilindustrie nichts ändert. Größere Firmenzusammenbrüche wurden zwar vermieden (und damit auch die Eigentümer geschont), doch gleichzeitig wird die Krise damit sozusagen auf Dauer gestellt und zeigt ihre ökonomisch und vor allem sozial desaströsen Wirkungen erst allmählich. Die herrschende Politik lässt sich so charakterisieren:
Die Ungleichheit der Einkommensverteilung wird dadurch weiter vorangetrieben, also gerade die Entwicklung verschärft, die zur aktuellen Krise geführt hat. Hinzu kommt die absehbar weitere Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Infrastruktur im Gefolge der nun anstehenden Sparpolitik. Es ist einigermaßen überraschend, dass größere soziale Bewegungen und Proteste angesichts dieser Zumutungen und des offensichtlichen Versagens des Wirtschaftssystems bisher weitgehend ausgeblieben sind. Während sich die Unternehmer noch mit gewissen Legitimationsproblemen herumschlagen, können sich die Regierungen, die das Debakel mitzuverantworten haben, als Retter darstellen. Über die Gründe für den ausbleibenden Widerstand kann man nur spekulieren: Wird immer noch darauf vertraut, dass es die politisch Herrschenden doch irgendwie richten werden? Lähmt die Angst vor der immer unsicherer werdenden Zukunft? Sind soziale Zersplitterung und Vereinzelung inzwischen so weit voran geschritten, dass kollektive Aktionen jenseits der folgenlosen Stimmabgabe bei Wahlen unwahrscheinlich geworden sind? Oder kann man sich einfach keine besseren Verhältnisse mehr vorstellen und hofft, trotz der gesellschaftlichen Misere privat irgendwie durchzukommen? Jedenfalls macht es diese Situation möglich, dass das business as usual weiter geht. D.h. die Politik, die zur Krise des neoliberalen Kapitalismus geführt hat, wird im Grundsatz nicht verändert. Ein Beispiel dafür ist das im herrschenden Neusprech sogenannte »Wachstumsbeschleunigungsgesetz« der schwarz-gelben Koalition, das die Reichen begünstigt, spätere Steuer- und Gebührenerhöhungen für die Masse der Leute nach sich ziehen wird und damit genau das Gegenteil von dem bewirkt, was es angeblich soll. Gleichwohl bedeutet die aktuelle Weltwirtschaftskrise wohl eine erneute säkulare Wende in Bezug auf die Gestalt des Kapitalismus, ähnlich wie das schon beim Übergang vom fordistischen Nachkriegskapitalismus zum neoliberal-marktradikalen Postfordismus im Gefolge der Krise der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu verzeichnen war. Einiges deutet darauf hin, dass der extrem marktradikale durch einen wieder stärker staatlich gemanagten Kapitalismus ersetzt wird, bei dem jedoch nach wie vor die unternehmerischen Profitinteressen absolute politische Priorität haben. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zugunsten des Kapitals gerade durch die Krise weitergeht. Der Monopolisierungsprozess verstärkt sich, die Verflechtungen von Kapital und Staat werden noch direkter und enger. Wir könnten es also mit einer neuen Variante des Staatsmonopolkapitalismus zu tun bekommen. Insgesamt bedeutet dies einen weiteren Schritt hin zu dem, was Poulantzas als »Autoritären Etatismus« bezeichnet hat, d.h. zu einem erweiterten Staatsinterventionismus im unmittelbaren Interesse des Kapitals bei gleichzeitig fortschreitender Entdemokratisierung. Die schon länger anhaltende Krise der liberalen Demokratie und der Repräsentation wird sich so vertiefen. Was tun? Zunächst einmal muss realisiert werden, dass trotz des ökonomischen Debakels die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus immer noch intakt ist. Dies nicht nur, weil sie sich inzwischen bis in die kleinsten Verästelungen alltäglichen Denkens und Verhaltens durchgesetzt hat und weil die massenmediale Industrie und Propagandaapparatur ungehindert weiterwirkt. Wichtiger noch ist, dass nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Debakel der Sozialdemokratie keine politischen Alternativen mehr sichtbar zu sein scheinen. Dazu kommt die Krise der Demokratie, d.h. der fehlende Glaube, im Rahmen liberaldemokratischer Institutionen überhaupt noch etwas verändern zu können. Angesichts dieser Situation gewinnt der Kampf um Hegemonie, d.h. um die Deutungshoheit für gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen eine zentrale Bedeutung. Unter Hegemonie versteht man die allgemein verbreiteten, über Klassengrenzen hinweg akzeptierten und institutionell abgesicherten Vorstellungen von einer guten und vernünftigen Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft. Die neoliberale Hegemonie wurde nach der Krise des Fordismus und im Zuge der Globalisierungsoffensive seit den achtziger Jahren erfolgreich durchgesetzt. Sie ist immer noch mächtig und bestimmt wesentlich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Handlungspotentiale. Um den Kampf gegen diese geht es vor allem und nicht so sehr um einzelne Reparaturen und Veränderungen am bestehenden System. Dieser Kampf kann sich nicht in Kritik erschöpfen, sondern bedarf der Entwicklung alternativer Konzepte, d.h. eines gegenhegemonialen Projekts. Es geht darum, die Perspektiven einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Bedingungen dafür sind grundsätzlich gar nicht so schlecht. Die neoliberale Hegemonie hat einen Schlag abbekommen, der noch länger nachwirken wird und von dem sie sich nicht unbedingt wieder erholen muss, zumal die Krise keinesfalls zu Ende ist und ihre Folgen erst allmählich sichtbar werden. Wichtig ist vor allem, dass durch das ökonomische Debakel mit allen seinen Folgen das Wirtschaftssystem selbst wieder zur Debatte gestellt worden ist. Die Frage ist allerdings, wie ein gegenhegemoniales Projekt bestimmt und von wem es hervorgebracht werden könnte. Dies ist nicht ganz einfach zu beantworten, vor allem wenn man die bestehenden politischen Konstellationen betrachtet. Dabei fällt auf, dass der neoliberalen ideologischen Hegemonie auf Seiten der (Rest-) Linken ein eigentümlicher Konservatismus entgegen steht, ein Konservatismus, der darin zum Ausdruck kommt, sich politisch und gesellschaftlich an den vermeintlich besseren Verhältnissen des fordistischen Nachkriegskapitalismus zu orientieren, d.h. an der Phase einer noch halbwegs intakten Arbeits- und Wachstumsgesellschaft. Dies ungeachtet der Tatsache, dass der Fordismus selbst ein krisenhaftes und gesellschaftlich diskriminierendes System war und dass er seine Durchsetzung historisch einmaligen sozialen Kräfteverhältnissen auf nationaler wie internationaler Ebene – nicht zuletzt die Niederwerfung des Faschismus und die Systemkonkurrenz des kalten Krieges – verdankt hatte. Dabei wird auch nicht bedacht, dass er auf einer rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruhte und schon deshalb kein tragfähiges Modell für die Zukunft darstellt, dass die Arbeitsgesellschaft traditionellen Musters infolge der immer rascher voranschreitenden Rationalisierungsprozesse nicht mehr besteht und dass gesellschaftliche Ungleichheiten und die Verschiedenheit der sozialen Lagen erheblich gewachsen sind. Die Vorstellung einer Rückkehr zu vermeintlich besseren Zeiten des Kapitalismus ist deshalb illusorisch. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auf kurze Sicht ist es sicher nicht falsch, auf traditionelle keynesianische Instrumente zu setzen, also insbesondere auf Lohnerhöhungen und Konjunkturprogramme (sofern sie wirklich welche sind und nicht nur Klientelbedienung). Auch Arbeitszeitverkürzungen wären dringend notwendig. Wenn eine solche Politik Erfolg haben sollte – was angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse allerdings fraglich ist – bedeutete dies jedoch zugleich die Stabilisierung eines Gesellschaftsmodells, das keine Zukunft hat und das selbst nicht nur ökonomisch höchst krisenhaft ist. Deshalb muss im Zentrum einer emanzipativen Politik das Bemühen stehen, grundsätzlich andere Formen der Vergesellschaftung theoretisch wie praktisch anzuvisieren. Es geht dabei nicht um revolutionäre Strategien im traditionellen Sinne und auch nicht um die Verwirklichung fertiger Gesellschaftsmodelle. Neue Formen der Vergesellschaftung beziehen sich auf einen komplexen Zusammenhang und umfassen die Konsummuster, die Lebensweisen, die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Geschlechterverhältnisse und den Umgang mit der Natur. Was also anstünde, wäre nicht so sehr eine politische, sondern eine Kulturrevolution, in der sich die herrschenden Vorstellungen von einem guten und vernünftigen Leben verändern. Die heute bestehenden Vergesellschaftungsformen und Lebensweisen sind weder längerfristig haltbar noch unbedingt wünschenswert. Man denke dabei nur an den sich immer destruktiver äußernden Zirkel von Leistung, Arbeit und Konsum.
Das heißt, dass es für eine emanzipative Veränderung der Gesellschaft nicht den einen, zentralen Ansatzpunkt gibt, sondern dass diese von mehreren Ebenen und von vielen Bereichen ausgehen müsste. Und natürlich lässt sich das nicht allein auf einzelstaatlicher Ebene verwirklichen. Sie muss sich ebenso auf die politischen Prozesse und Institutionen auf europäischer Ebene beziehen, und vor allem bedarf es einer intensiven und auf Dauer gestellten internationalen Kooperation gesellschaftlich-politischer Bewegungen und Initiativen. Die Entwicklung von Überlegungen, Konzepten und praktischen Ansätzen in dieser Richtung ist die zentrale Voraussetzung dafür, die Linke politisch wieder sprachfähig zu machen. Es käme darauf an, erste Schritte durchzusetzen, Erfahrungen zu sammeln, Möglichkeiten praktisch erlebbar zu machen. Was nottut, ist ein radikaler Reformismus, d.h. die schrittweise Veränderung der grundlegenden Vergesellschaftungsformen. Schrittweise, d.h. »reformistisch« muss eine solche Politik sein, weil Erfahrungen gemacht und Lernprozesse stattfinden müssen, weil die Konturen einer humaneren und freieren Gesellschaft erst allmählich ausformuliert werden können; radikal deshalb, weil sie auf die Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse zielt. Wer? Von den etablierten politischen Organisationen, auch den Gewerkschaften ist in dieser Beziehung nicht viel zu erwarten. Die Parteien sind zu taktisch operierenden Stimmenmaximierungsapparaten verkommen und auch von ihren personellen Kapazitäten her kaum mehr in der Lage, über den Tellerrand des Bestehenden hinauszublicken, geschweige denn alternative gesellschaftliche Entwürfe hervorzubringen. Selbst mit der Verwaltung eines immer weniger haltbaren gesellschaftlichen Status Quo scheinen sie ziemlich überfordert. Wirkliche Alternativen müssen daher von gesellschaftlichen Initiativen und Projekten ausgehen. Es ist notwendig, dass die vorhandenen kritischen und oppositionellen Kräfte theoretisch und politisch wieder auf die Höhe der Zeit kommen, d.h. neue gesellschaftliche Entwürfe anvisieren und praktische Schritte vorschlagen. Ansätze dazu gibt es durchaus, wenn auch oft noch bereichs- und interessenspezifisch, vereinzelt und zersplittert. Zentrale Bedeutung hat daher die Verbreiterung und Intensivierung einer alternativen Öffentlichkeit über traditionelle Organisations- und Bewegungsgrenzen hinweg. Nicht zuletzt käme es darauf an, historische Erfahrungen aufzuarbeiten und interessante Entwicklungen andernorts zur Kenntnis zu nehmen. So ist von der brasilianischen MST und den mexikanischen Zapatistas in Bezug auf politische und ökonomische Selbstverwaltung einiges zu lernen, ebenso wie aus den Ansätzen zu einer demokratischen Verwaltung der sozialen Infrastruktur in Venezuela, den partizipativen Haushalten in Brasilien oder mit den Versuchen zum Aufbau selbst organisierter Sozialversicherungssysteme in Bangladesh. Bei all dem hätte kritische Publizistik eine wichtige Aufgabe. * Joachim Hirsch, Prof. em. am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften Frankfurt a.M., arbeitet im online-Publikationsprojekt »links-netz« (ehem. Links-Redaktion) mit. www.links-netz.de. Dort finden sich auch weitere Beiträge zur Krise sowie zum Thema »Infrastrukturpolitik«. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/10 |