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Updated: 18.12.2012 16:00
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"Greater Middle East": Demokratisierungs- oder Herrschaftsprojekt?

Von Bernhard Schmid

Die Ergebnisse des Referendums waren bereits am Vortag seines Stattfindens in der regimenahen Presse bekannt gegeben worden: 80 Prozent Beteiligung, 95 Prozent Ja-Stimmen. Und so kam es denn auch, zumindest wenn man den amtlichen Angaben Stellen Glauben schenkt. Wovon Jacques Chirac in den letzten Wochen nur träumen konnte ­ sein ägyptischer Amtskollege schaffte es spielend: Eine hohe Zustimmungsrate bei einem "maßgeschneiderten" Referendum, das er am 25. Mai dieses Jahres abhalten ließ, schien ihm sicher. Dabei ging es auch noch um ein nobles Anliegen, nämlich um einen "historischen Schritt" zur "Demokratisierung" des Landes. Soweit die offizielle Darstellung.

Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Hohe Beteiligung? Auch wenn an diesem Tag die öffentlichen Transportmittel ­ ein wichtiges Problem für die Einwohner des Großraums Kairo, wie so vieler Metropolen der "Dritten Welt" ­ für jene kostenlos ausfielen, die einen Stempel im Wählerausweis vorweisen konnten, nahmen nur wenige Ägypter an der Abstimmungsfarce teil. Dies berichten westliche Journalisten, etwa Claude Guibal für die Pariser Libération, aus Kairo. Demokratisierung? Die Verfassungsänderung, die per "Volksabstimmung" abgesegnet werden sollte, erlaubt zukünftig erstmals die Abhaltung von Präsidentschaftswahlen mit mehr als einem Kandidaten. Den Testfall sollen die kommenden Präsidentenwahlen im September dieses Jahres darstellen. Aber der nunmehr erstmals vorgesehene "Pluralismus" bleibt unter engster Kontrolle: Nur solche Kandidaten können sich bewerben, die entweder einer offiziell anerkannten "legalen Oppositionspartei" angehören ­ damit scheiden so gut wie alle Oppositionskräfte aus ­ oder von mindestens 250 Abgeordneten des nationalen oder eines der regionalen Parlamente unterstützt werden. Ein Kunststück, wenn gut 90 Prozent der Mandate durch die Regimepartei, die "Nationale Demokratische Partei", kontrolliert werden. Im Endeffekt läuft wohl alles darauf hinaus, dem tunesischen "Modell" zu folgen. Bei den dortigen Wahlen von 1999 und 2004 traten neben Amtsinhaber Zine ben Abidine Ben Ali auch jeweils ein oder zwei Sparringpartner an. Diese betonten eifrig, "nicht gegen, sondern mit Ben Ali zu kandidieren" und wurden nicht müde, die angeblichen großartigen Erfolge des Präsidenten zu loben und zu betonen.

Beobachter der ägyptischen Politik vertreten einhellig die Ansicht, bei dem Referendum handele es sich um das legitimatorische Feigenblatt eines hinter den Kulissen eifrig vorbereiteten Machtübergangs von Hosni Mubarak - der sich um sein fünftes Präsidentschaftsmandat bewirbt - auf den Präsidentensohn Gamal Mubarak.

So steht es derzeit um den "unaufhaltsamen Elan der Demokratisierung" in einem jener Schlüsselländer, die US-Präsident George W. Bush in seiner letzten Rede zur Lage der Nation vom 2. Februar 2005 ausdrücklich als Testfelder einer außenpolitischen Initiative seiner US-Administration benannte. In seiner Rede führte Bush unter anderem aus: "Um Frieden und Stabilität im Greater Middle East zu befördern, werden die Vereinigten Staaten mit unseren Freunden in der Region zusammen arbeiten, um die gemeinsame Bedrohung durch den Terror zu bekämpfen, während wir einen höheren Maßstab der Freiheit durchsetzen. Hoffnungsvolle Reformen sind in einem Bogen, der von Marokko über Jordanien bis Bahrain reicht, bereits am Greifen. Die Regierung Saudi-Arabiens kann ihre Führung in der Region beweisen, indem sie die Rolle ihres Volkes bei der Bestimmung seiner Zukunft vergrößert. Und die große und stolze Nation Ägyptens, die den Weg zum Frieden im Mittleren Osten zeigte, kann jetzt den Weg zur Demokratie im Mittleren Osten zeigen."

Die genannte außenpolitische Initiative, die in den letzten anderthalb Jahren ­ und vor allem in der Anfangsphase unmittelbar nach ihrer Ausrufung - viel Staub aufwirbelte, hört auf den Programmnamen Greater Middle East. Es handelt sich um ein umfassendes politisches Projekt, das mit Eingriffen in die Verhältnisse der gesamten geographischen Großregion von Marokko bis Pakistan einher gehen soll. In jüngster Zeit ist es zwar um die offiziell proklamierten Ziele eher still geworden, doch prägt das Grundmuster des Greater Middle East-Programms zweifellos weiterhin die Außenpolitik der westlichen Führungsmacht.

Vorgeschichte des Greater Middle East-Projekts

Seit dem Spätherbst 2003 hat die US-Administration sich ein offizielles Ziel auf ihre Fahnen geschrieben: die Durchsetzung der Demokratie in einem Bogen, der von Marokko über Ägypten, die arabischen Golfländer und den Iran bis nach Pakistan reicht. Der Name Greater Middle East und die Auswahl der betroffenen Länder müssen dabei freilich vielen Einwohnern der betroffenen Region als eher willkürlich erscheinen. Denn in Marokko und Algerien rechnet man sich nicht gerade zum "Mittleren Osten" ­ diesen Begriff benutzt man dort, wenn man von Saudi-Arabien oder Syrien spricht, während man die eigene Gegend als Nordafrika bezeichnet. Ferner bestehen doch, neben einer gemeinsamen Problematik aus Sicht des Westens in Gestalt des Islamismusproblems sowie der Frage des Zugangs zu wichtigen Rohstoff-Lagerstätten, auch wesentliche Unterschiede zwischen Ländern wie Tunesien oder Türkei einerseits und Afghanistan oder dem Yemen andererseits. Alle diese Ländern zählen nach offizieller Lesart zum Greater Middle East.

Den Grundstein für das Projekt legte US-Präsident George W. Bush mit einer Ansprache vom 6. November 2003 vor der Stiftung National Endowment for Democracy (wörtlich: "Erst-, Grundausstattung für Demokratie"), die 1983 unter Ronald Reagan als gemeinsamer Think-Tank von Vertretern beider großer US-Parteien gegründet worden und an jenem Tag am Sitz der Industrie- und Handelskammer der USA versammelt war.

Was ist die National Endowment for Democracy?

Diese Organisation, abgekürzt NED, diente damals, in den frühen achtziger Jahren, als strategische Denkfabrik in einer aggressiven, expansiven Phase der US-Politik. Unter der Präsidentschaft von Ronald Reagan versuchte das US-Establishment zu jener Zeit, das "Vietnam-Trauma" der Jahre nach 1975 zu überwinden und zu einer offensiven Haltung auf der internationalen Bühne zurückzukehren. Die Sowjetunion sollte, durch politischen und an manchen Orten der Welt auch militärischen Druck (in Gestalt von Stellvertreterkriegen), auf ihre Grenzen zurückgeworfen werden. Ihr Einfluss auf die, aus der Phase der Entkolonialisierung in Afrika und Asien hervorgegangenen jungen Regime in der "Dritten Welt" sollte zurückgedrängt oder gebrochen werden.

Die Denkfabrik NED sollte also in erster Linie dem Kampf gegen den sowjetischen oder marxistischen Einfluss weltweit dienen. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkt lag zu Anfang in der offensiven Bekämpfung des "marxistischen Einflusses" in Mittelamerika, namentlich in Ländern wie El Salvador und natürlich im sandinistisch regierten Nicaragua. Dennoch waren die Ziele etwas weiter gesteckt. Denn um diese planetare Auseinandersetzung zu gewinnen, so hatten führende Köpfe des US-Establishments erkannt, musste man über einen positiven formulierten, Unterstützung erheischenden und mit scheinbar unangreifbaren "Wertvorstellungen" verbundenen Diskurs verfügen. Die rein antikommunistisch begründete Abwehr gegen das "Böse" genügte dafür nicht. Daher kümmerte NED sich auch schon früh um das Problem der ­ vorsichtigen ­ Demokratisierung in autoritär geführten, pro-westlichen Staaten, die bis dahin als antikommunistische Bollwerke unterstützt worden waren.

So unterstützte NED beispielsweise bürgerlich-demokratische, etwa christdemokratische, Kräfte in Chile. Dort hatte sich die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet am 11. September 1973 mit maßgeblicher Unterstützung der USA ­ letztere ist längst ein offenes Geheimnis ­ an die Macht geputscht. Um die von der Regierung der Unidad Popular unter Salvador Allende ausgehende "sozialistische Gefahr" zu bannen, war Pinochet der richtige Mann gewesen. Nur zog dessen Regime nunmehr, auf längere Frist hin betrachtet, zu viel Hass und ein zu negatives Image auf sich. Deswegen war es strategisch klug, auf ihre allmähliche Ablösung durch ein bürgerliches Regime zu setzen. Tatsächlich wurde in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein Ablösungsprozess durch die Diktatur selbst, unter Druck der USA und anderer westlicher Staaten, in Gang gesetzt. (In Westdeutschland wollte ein Teil der CSU das nicht begreifen, der auch entgegen diesem strategischen Kurswechsel am befreundeten Folterer Pinochet festhalten wollte, so der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann. Hatten doch Freunde des CSU-Politikers, darunter die Professoren Lothar Bossle und Dieter Blumenwitz, der Pinochet-Diktatur ihre 1980 verabschiedete Verfassung geschrieben.) Nach dem Ergebnis einer Volksabstimmung über seinen Verbleib an der Macht, im Frühjahr 1988, leitete Pinochet selbst den allmählichen, kontrollierten Übergang ein. Beim Regimewechsel wurde vor allem darauf geachtet, dass die "Errungenschaften" des neoliberalen Wirtschaftsmodells, das Pinochet dem Land in anderthalb Jahrzehnten aufgezwungen hatte, nicht angetastet würden. Man könne das ganze Vorgehen auch als "Fassenbereinigung" bezeichnen.

In ähnlicher Form, und auch mit Unterstützung der US-Denkfabrik NED, wurde 1986 auf den Philippinen eine Ablösung des bisherigen Diktators Ferdinand Marcos durch die gewählte Präsidention Corrazon "Corry" Aquino eingeleitet. Washington begrüßte diese Wachablösung, die namentlich durch von NED verteilte Gelder unterstützt worden war. Die Regierung in Manila wurde so auf eine breitere soziale Basis gestellt, da Teile der Mittelschichten nunmehr neben der traditionellen Oligarchie mit regierten. Die US-Militärbasen auf der Inselgruppe wurden nicht angetastet.

Nicht zuletzt aber eilte NED der bedrohten und bedrängten Demokratie in einem Land wie... ­ Frankreich zu Hilfe. Dort hatte die Französische kommunistische Partei von Juni 1981 bis Juni 1984 an einer Regierungskoalition teilgenommen, bevor sie diese in völlig lädiertem Zustand verließ, da wesentliche Teile ihrer Basis sich in der Zwischenzeit enttäuscht abgewandt hatten. Ihre dreijährige Regierungsbeteiligung unter Präsident François Mitterrand hatte aber in Washington einige Alarmglocken lâuten lassen. Auch über das Ende der Präsenz von vier KP-Ministern im französischen Kabinett hinaus flossen deswegen erhbliche Geldmittel der National Endowment for Democrazy nach Frankreich. Die ­ ursprünglich einmal linksradikale, damals aber bereits linksliberale ­ Pariser Tageszeitung Libération enthüllte erstmals in ihrer Ausgabe vom 27. November 1985, wobei sie zahlreiche Faksimile-Dokumente veröffentlichte, dass zu jenem Zeitpunkt jährlich 1,3 Millionen Dollar von NED an Empfänger in Frankreich flossen. Eine der solcherart finanziell unterstützten Organisationen war die rechte Studentengruppierung UNI (Union national inter-universitaire), die 1984/85 noch durch NED mit jährlich 575.000 Dollar aus US-Staatsmitteln unterstützt wurde. Die heute noch existente UNI ist ein vor allem antikommunistisch ausgerichteter Aktivistenverband, aus dem in den achtziger Jahre sowohl Politiker der neogaullistischen Partei RPR ­ zumindest aus dem zweiten Glied ­ als auch Kader des rechtsextremen Front National (FN) hervor gingen. Infolge der Libératon-Berichte stellte der US-amerikanische Think Tank NED jedoch seine finanazielle Unterstützung auf französischem Boden schrittweise ein.

Die damals, in der letzten Phase des Kalten Krieges unter Ronald Reagan, als weltweite « Demokratisierungsoffensive » ettikettierte Vorgehensweise für die weltweite Durchsetzung von US-Interessen wurde zu Beginn dieses Jahrzehnts inhaltlich wieder aufgenommen. Jetzt soll es darum gehen, die Demokratiedefizite im Nahen und Mittleren Osten ­ wo tatsächlich zahlreiche autoritäre, diktatorische und monarchische Regime existieren ­ zu beheben. Im Hintergrund steht natürlich unter anderem das politisch-strategische Wettrennen um die größten Vorräte an energetischen Ressourcen auf diesem Planeten.

Worum geht es also in dem Greater Middle East-Plan?

Im Kern drehte George W. Bushs Rede vom November 2003 vor dem NED sich um das Vorhaben, durch eine von außen kommende Initiative die Einführung der Demokratie in den "islamischen" Ländern durchzusetzen. Im eklatanten Widerspruch zu diesem offiziell gesteckten Ziel stand freilich das auch damals gleichzeitig ausgesprochene Lob für eine Reihe autokratisch regierter Länder wie etwa mehrere Golfmonarchien, darunter Saudi-Arabien, und das marokkanische Königreich für ihre angeblichen Fortschritt in dieser Richtung.

Konkreter gefasst wurde das Projekt durch ein Arbeitspapier, das durch die in London erscheinende, liberale arabischsprachige Tageszeitung Al-Hayat (Das Leben) am 13. Februar 2004 publiziert wurde. Bereits ein paar Tage zuvor war das Mittelost-Programm estmals auf internationaler Ebene offiziell debattiert worden, nämlich bei der NATO-Sicherheitskonferenz in München, wo die US-Vertreter um Zustimmung der europäischen Regierungen für ihr Konzept warben. Dort sprach vor allem der republikanische US-Senator Richard Lugar zum Thema. Dass die NATO die erste transnationale Instanz ist, bei der über das Projekt diskutiert wurde, ist keineswegs Zufall: Den US-Plänen zum künftigen Greater Middle East soll das nordatlantische Militärbündnis dort eine wesentliche Rolle bei der "Stabilisierung" des Großraums übernehmen. Derzeit allerdings liegt die Planung dafür bei der NATO auf Eis, weil beim letzten Gipfel der Militärorganisation, Ende Juni 2004 in Istanbul, die Widersprüche zwischen den westlichen Großmächten in diesem Zusammenhang aufbrachen. Die US-Administration wollte der NATO gern eine ­ eher symbolische denn reale ­ Rolle im besetzten oder "befreiten" Irak zukommen lassen: Die Nordatlantische Allianz sollte eine Funktion bei der Ausbildung irakischer Militärs und Polizisten übernehmen. Da dafür jedoch bereits detaillierte Programme der US-Armee im nationalen Alleingang erarbeitet wurden, deren Umsetzung begonnen hat, vermuteten vor allem Deutsche und Franzosen, in Wirklichkeit gehe es weniger um wirkliche Vollmachten für die NATO-Verbündeten denn um ein bloßes Hineinziehen in die politische Verantwortung für das Schicksal des Irak. Deswegen opponierte vor allem der französische Präsident Jacques Chirac ­ der sich im Nachhinein durch Kanzler Schröder etwas im Stich gelassen fühlte - in Istanbul explizit gegen die Übernahme einer solchen Rolle durch die NATO im Irak. Daraufhin wurde das Programm im Juli zwar dennoch angeleiert, aber auf eine sehr symbolische Präsenz der NATO heruntergekocht. Da der Irak generell als Präzendenzfall für die angebliche "Demokratisierung" der Region dienen soll, ist die Beteiligung der Nordatlantischen Organisation an den Plänen nunmehr fragwürdig geworden; vieles wird wohl eher nationalen Alleingängen überlassen bleiben.

Ferner sind in dem Greater Middle East-Projekt institutionelle Reformen, wirtschaftspolitische Richtlinien - im Sinne einer Verstärkung "marktwirtschaftlicher Orientierungen", bitte schön! - und sicherheits- bzw. militärpolitische Vorgaben auf das Engste miteinander verknüpft. Unter der Überschrift "Wirtschaftliche Chancen" wird angekündigt, es solle in den betreffenden Ländern zu einer "wirtschaftlichen(n) Transformation ähnlich jener, welche die ex-kommunistischen Länder des östlichen Europa unternommen haben" kommen. Die Armen und Lohnabhängigen könnten darin freilich eher eine Drohung denn ein Versprechen erblicken...

Als besonders vorbildhaft werden die Bestrebungen zur Herausbildung regionaler Freihandelszonen, wie die im November 1995 auf einem Gipfel in Barcelona lancierte "euro-mediterrane Partnerschaft", bezeichnet. Diese soll bis im Jahr 2010 zum radikalen Abbau von Zollschranken im Warenverkehr zwischen der EU und Ländern wie Marokko oder Tunesien führen. Das aber wird dafür sorgen, dass ein Großteil der noch vorhandenen (Klein-)Industrie in diesen Ländern durch die wirtschaftlich weitaus stärkere Konkurrenz aus dem Norden plattgewalzt werden wird. Folgerichtig werden diese Ländern sich auf wirtschaftliche "Nischen" zu spezialisieren haben, wie dies in Tunesien bereits mit der Tourismus- und Dienstleistungsindustrie für Urlauber aus den Wohlstandsländern sowie mit Zulieferbetrieben für die europäische Autoindustrie der Fall ist. Auch werden sich wohl einige Betriebe aus dem tertiären Sektor ansiedeln. So arbeiten bereits heute 600.000 Personen in Marokko und Tunesien und weitere 400.000 im übrigen französischsprachigen Afrika in Call Centers französischer Unternehmen; auch Algerien will sich nunmehr als Standort bewerben. Neben der Europäischen Union wollen nunmehr die USA, die vor einigen Monaten durch ein Freihandelsabkommen mit Marokko den Anfang machten, sich "binnen 10 Jahren" um eine umfassende regionale Freihandelszone bemühen.

Neben der NATO wird in dem Programm auch namentlich der Welthandelsorganisation WTO explizit eine wichtige Rolle zugedacht. Das erklärte etwa der US-Experte Russel Mead vom Council of Foreign Relations bei einem Auftritt in Algier am 13. April 2004, der in der örtlichen Niederlassung der Friedrich-Ebert-Stiftung stattfand. Auf die Nachfrage algerischer Journalisten, warum seine Regierung Marokko einen privilegierten Platz einräume, antwortete Mead: "Weil Marokko in seinen Beziehungen mit der Welthandelsorganisation WTO fortgeschritten ist." Alle Ländern der Region sollen der internationalen Wirtschaftsorganisation beitreten und sich damit auch ihrem Investitionsschutz-Regime unterwerfen. Algeriens Beitritt zur WTO wird ­ nach siebenjährigen Beitrittsverhandlungen, in denen Algerien eine Fülle von Maßnahmen zur wirtschaftlichen "Liberalisierung" akzeptieren musste ­ vor dem nächsten Gipfel der Organisation, im Dezember 2005 in Hong-Kong, erwartet. Seit wenigen Wochen ist nunmehr sogar von einem Beitritt des Iran, der bislang abseits stand, zur WTO die Rede.

Algerien war anfänglich "der" gute Schüler in der Greater Middle East-Klasse der US-Adminstration. Denn die algerische Regierung war, neben jener der Golfmonarchie Qatar, zunächst das einzige arabische Regime, das sich explizit positiv auf die offiziell zu dem Programm gehörende Demokratisierungsabsicht bezog. Ein Haken ist dabei nur, dass Algerien gleichzeitig mitnichten einen Demokratisierungsprozess, sondern im Gegenteil eine neue autoritäre Wende durchläuft. Doch es stört nicht, wenn der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika, der ­ auf Einladung Bushs hin ­ als einziger arabischer und afrikanischer Staatschef am vollen zweitägigen Programm des G8-Gipfels im Juni 2004 in Sea Island (Georgia/USA) teilnehmen durfte, dann zu Hause ein paar krumme Dinge anstellt. Etwa ihm unangenehm aufgefallene Journalisten unter fadenscheinigen Vorwürfen in¹s Gefängnis steckt, und sei es der Chefredakteur einer der größten Tageszeitungen wie Mohammed Benchicou von Le Matin, der im Juni zu zwei Jahren Haft verdonnert wurde; seit Ende Juli 2004 kann die postkommunistische Tageszeitung gar nicht mehr erscheinen. Denn seit seiner Wiederwahl im April zeigt Bouteflika sich wild entschlossen, die bis dahin in Algerien gegenüber allen anderen arabischen und afrikanischen Ländern (mit Ausnahme Südafrikas) einmalige Pressefreiheit nunmehr abzuschaffen.

Doch darum geht es nicht, so wenig wie um die Frage, wie demokratisch es wirklich in einem Land zugeht. Entscheidend ist, ob der politische Führungsanspruch, der mittels des Greater Middle East-Projekts formuliert wird, anerkannt und ein positiver Bezug auf US-amerikanisch oder allgemein "westliche" Interessen formuliert wird. In Wirklichkeit geht es vor allem darum, eine "Bereinigung" der Fassaden jener Regimes, die diesen Prozess positiv akzeptieren, vorzunehmen: Ihnen wird eine erfolgreiche "Demokratisierung" bescheinigt, während dieses Etikett den sich feindlich verhaltenden Regimen verweigert wird - ihnen droht die Isolierung und, im Extremfall, ein ähnliches Schicksal wie der früheren irakischen Diktatur unter Saddam Hussein. Bleiblich freilich ein solcherart mit dem "Demokratisierungs"-Label positiv ausgezeichnetes Regime bei autoritären und repressiven Praktiken, dann bietet sich eine Generalrechtfertigung an: Der "Kampf gegen den Terrorismus". Denn der Antiterrorismus gehört ebenfalls zu den Pfeilern der neuen Allianz, welche die US-Administration mit bestimmten Regimes der Region einzugehen gedenkt. Unter diesem Etikett lässt sich freilich soziale Aufstandsbekämpfung ebenso gut verkaufen wie der Einsatz gegen tatsächliche radikale Islamisten, wie die Praxis zahlreicher Regime (zuletzt in Usbekistan) eindrücklich belegt.

Im Hochsommer 2004 wurde dann das ganze Vorhaben zunächst umbenannt, nachdem europäische Regierungschefs und Vertreter der US-Administration sich auf dem G8-Gipfel von Sea Island einen Streit um Etiketten geliefert hatten. Vor allem Frankreichs Präsident Jacques Chirac versuchte sich damals zum Wortführer der arabischen Staatschefs aufzuschwingen, die sich durch "den Missionarismus in Sachen Demokratie" der USA bedroht fühlten. In Wirklichkeit sind deren Interessen freilich auch bei Bush gut aufgehoben, soweit sie nur das Spiel mitspielen, wie dessen Lob für die autokratischen Machthaber in Marokko, Ägypten und sogar Saudi-Arabien deutlich macht. In der Folgezeit wurde das Projekt offiziell in Middle East Partnership Initiative (MEPI) umbenannt, auch wenn Bush bei seiner programmatischen Rede vom 2. Februar 2005 weiterhin die alte Bezeichnung benutzte.

Im Herbst 2004 eröffnete das MEPI-Programm ein regionales Verbindungsbüro in Tunis. Die tunesische Hauptstadt erscheint als Sitz einer Demokratisierungsinitiative wirklich bestens geeignet: Am 24. Oktober 2004 wurde dessen Staatschef Zine el-Abidine Ben Ali ­ ein ehemaliger General und Polizeioffizier, der dereinst in US-Militärschulen ausgebildet wurde - zum vierten Mal "gewählt", und zwar mit (offiziellen) 94,5 Prozent der Stimmen. Wer möchte, kann darin einen wichtigen demokratischen Fortschritt erblicken. Denn bei den drei voran gegangen Wahlen (von 1989, 1994 und 1999) hatte Ben Ali jedes Mal über 99 Prozent der offiziellen Stimmenanteile auf sich vereinigt. Die Demokratisierung kommt mit Volldampf voran!

Einige "Modellfälle"

Doch seit Februar dieses Jahres und der Mobilisierung auf den Straßen des Libanon, die auf den Mord am ehemaligen libanesischen Premierminister Rafik Hariri vom 14. Februar dieses Jahres folgte, üben sich einige westliche Medien in Euphorie. Nicht nur in US-amerikanischen Medien war einige Wochen lang von einem "Schwung der Demokratisierung" die Rede, der mit der so genannten "Revolution" in der Ukraine vom November/Dezember 2004 verglichen wurde. Einige Autoren führten die angeblich stattfindende demokratische Revolution unmittelbar auf den Druck, den die USA mittels der Greater Middle East-Initiative ausübten, zurück und wünschten dementsprechend eine weiterhin offensive Außenpolitik der US-Administration gegenüber der Region.

Beispielsweise schreibt Georg Baltissen im März dieses Jahres in der taz: "Nach der samtenen in Prag, der orangenen in Kiew nun die baumstarke und bibelträchtige Zedernrevolution in Beirut. Die Demokratie ist auf dem Vormarsch, selbst im despotisch regierten Orient. Dass sie von US-Gnaden ist, mildert die Freude darüber nicht." Die "Kampagne", so behauptet der Verfasser des taz-Kommentars, stamme "direkt aus dem US-Außenministerium". Die angebliche Zedernrevolution bilde ein "erfreuliches Nebenprodukt" einer, so endet der Kommentar, "eben nicht wirkungslosen US-Politik in der Region." Dass die Springerpresse zum gleichen Zeitpunkt in ein ähnliches Horn bläst, verwundert nicht. Ebenso wenig die zeitgleiche Euphorie über die unaufhaltsamen demokratischen Revolutionen auf der Homepage (www.wadinet.de) des Wadi e.v. unter Thomas von der Osten-Sacken und Thomas Uwer: Nach eigenen Angaben (ebenda) erhält dieser Verein für seine Projekte in der Region Geld von US AID, einer entwicklungspolitischen Agentur des US-Außenministeriums. Wie so oft entpuppt sich diese "Nichtregierungsorganisation" als Handlanger einer Regierung, wenngleich nicht der "eigenen", sondern eher der US-Administration.

Doch wie steht es nun wirklich um die Fortschritte bei der Demokratisierung der Region, die von diesen und anderen Stimmen vor allem zu Beginn dieses Frühjahrs laut bekundet wurden?

Dabei gilt es zunächst, zwischen den Einzelbeispielen der verschiedenen betroffenen Länder zu unterscheiden. Im Falle des Libanon existierte tatsächlich, während einiger Wochen, eine gesellschaftliche Massenbewegung gegen die syrische Vorherrschaft. Ihren Ursprung hat sie jedoch nicht in der US-Außenpolitik und ihren seit zwei Jahren proklamierten Zielen, sondern in den seit mehreren Jahren aufbrechenden Widersprüchen vor Ort. Syrien okkupierte den Libanon als "Schutzmacht" seit dem Abkommen von Taef (in Saudi-Arabien) von 1989, das seinerzeit unter US-amerikanischer und saudischer Schirmherrschaft abgeschlossen wurde. Darin wurde Damaskus ­ mit Billigung der US-Administration ­ diese Rolle zugesprochen. Dagegen regten sich periodisch immer wieder Widerstände, vor allem seitens der christlichen Community des seit Jahrzehnten konfessionell aufgeteilten Libanon. Sicherlich fühlten deren Vertreter aufgrund einer im September 2004 verabschiedeten Resolution des UN-Sicherheitsrats, die einen syrischen Rückzug fordert, mehr und mehr Oberwasser. Die Resolution wurde auf Druck der USA und Frankreichs hin verabschiedet, die durch die libanesischen Christen als befreundete Vormächte betrachtet werden ­ vor allem Frankreich, das in der Zeit zwischen den Weltkrieg ein Völkerbunds-Mandat über den Libanon inne hatte. Der Mord an Rafik Hariri, dessen genaue Hintergründe nach wie vor nicht aufgeklärt sind, hatte insofern nur eine Katalysatorenwirkung.

Vor allem aber hat die Mobilisierung keinen Demokratisierungsimpuls ausgelöst, insbesondere weil die konfessionelle Proporz-Aufteilung der libanesischen Politik nicht überwunden wurde. Zwar gingen die Christen und die Sunniten, aus deren Community der ermordete Hariri stammte, anfänglich gemeinsam auf die Straße ­ während die große schiitische Bevölkerungsgruppe ihrerseits (von "ihren" politischen Organisationen Hizbollah und Amal) zu Gegendemonstrationen, gegen einen syrischen Rückzug, aufgerufen war. Durch die Bewegung gegen die syrische Vorherrschaft wurden aber gleichzeitig die alten Warlords aus den Jahren des libanesischen Bürgerkriegs wieder nach oben gespült, wie die christliche Rechte und den Drusen-Anführer Walid Dschumblatt ­ an dessen Händen außergewöhnlich viel libanesisches Blut klebt, der aber im Februar und März 2005 quer durch alle französischen Zeitungen als "der Führer der demokratischen Opposition" durchgereicht wurde. Gleichzeitig nahmen die Proteste teilweise einen wild chauvinistischen Charakter an, und hunderttausende syrische Arbeiter verließen den Libanon fluchtartig aus Angst vor den pogromartigen Übergriffen, die begonnen hatten. Am Ende des bewegten Frühjahrs blieb von der ursprünglichen Bewegung fast nur noch die christliche Rechte übrig. Bei den, am 29. Mai begonnen und in Etappen durchgeführten, Parlamentswahlen galt auch weiterhin das konfessionelle Proprozsystem. Und beispielsweise in Beirut blieb die Wahlbeteiligung unterhalb der 30 Prozent, da viele Leute - aus gutem Grund - ohnehin annahmen, es handele sich um ein von vornherein abgekartetes Spiel.

Anders liegen die Fälle Ägyptens und auch Saudi-Arabiens, die beide in Bushs Rede vom 2. Februar 2005 als Testfälle einer Demokratisierung beschrieben wurden. In beiden Fällen handelt es sich ausschließlich um politische Reformen, die von ­ aus US-Sicht ­ befreundeten Regimes "von oben" eingeführt werden.

Im Falle Saudi-Arabiens geht es um die erstmalige Einführung einer Stimmmöglichkeit für die Untertanen des wahhabitischen Königreichs. Wenn man aber die genaueren Modalitäten kennt, wird offenkundig, dass die konkrete Reform herzlich wenig mit Demokratie zu tun hat: Durch die - ausschließlich männlichen - Untertanen gewählt werden können lediglich die Hälfte der Mitglieder von kommunalen Gremien, deren anderen Hälfte durch das Königshaus ernannt wird. Die solcherart gebildeten kommunalen Räte haben im Wesentlichen nur beratende Funktionen in einem eng umrissenen Rahmen. Die kommunalen "Wahlen" fanden Ende Februar im östlichen Landesteil und Mitte April an der Westküste um Dschiddah statt. Gewählt wurden fast ausschließlich "moderate Islamisten". Ohnehin können säkulare, selbst bürgerliche Kräfte sich in Saudi-Arabien nur unter größeren Schwierigkeiten betätigen. Und die Gewählten ­ die den Muslimbrüdern nahe stehen ­ dürften in vielerlei Hinsicht wohl wirklich eher gemäßigtere Ansichten haben als die wahhabitischen Tugendwächter, die über das Königreich wachen.

Auch in Ägypten handelt es sich, wie oben dargestellt, um eine vorwiegend kosmetische "Demokratisierungsreform". Dagegen hat sich seit Anfang des Jahres erstmals eine breitere Oppositionsbewegung unter dem Bündnisnamen Kefaya (Es reicht!) herausgebildet, die gegen eine neue Amtszeit von Präsident Mubarak und einen Machtübergang auf seinen Sohn eintritt. Bei einer Demonstration der Oppositionsallianz am 25. Mai, am Tag der Abstimmungsfarce, kam es zu heftigen Gewalttaten von Mubarak-Anhängern. Die Jubelägypter schlugen unter den Augen einer passiv bleibenden Polizei mit ihren Präsidenten-Schildern auf Oppositionsmitglieder ein, begrapschten Demonstrantinnen und belästigten sie sexuell und prügelten die Kundgebung auseinander. Seitdem steigt die Empörung in dem Land an, die jedoch eher ohnmächtigem Zorn gleicht. Die Brutalitäten vom Referendumstag erregten auch in der internationalen Presse einige Aufmerksamkeit, so dass US-Präsident George W. Bush deswegen knurte: "Das entspricht, nach unserem Standpunkt, nicht der Weise, in der eine Demokratie funktionieren sollte."

An die Demokratisierungsrhetorik der USA glaubt niemand in Ägypten, zumal das im Lande selbst zutiefst unbeliebte Mubarak-Regime weitgehend von materieller Unterstützung durch die USA abhängt: Nach dem Staat Israel ist das Mubarak-Regime derzeit der zweitgrößte Nettoempfänger US-amerikanischer Auslands"hilfe". Im Endeffekt drohen verbale Bekenntnisse aus den USA zur Demokratie und zur Freiheit der Opposition für letztere sogar negative Auswirkungen zu haben. So berichtet Le Monde vom 27. April über den liberalen Oppositionellen Aymar Nour von der Partei Ghad (Morgen), der Ende Januar vorübergehend aus politischen Gründen inhaftiert worden war: "Aymar Nour (...) ist in Ungnade gefallen, seitdem US-Außenministerin Condoleeza Rice sich öffentlich ’besorgt´ um sein Schicksal äußerte. Seitdem findet man außerhalb seiner traditionellen Hochburg, des (Kairoer) Stadtteils Bab al-Scharia, kaum einen Ägypter, auch innerhalb des Oppositionsbündnisses Kefaya, der ihn nicht verdächtigen würde, ein ’Agent der Amerikaner´ zu sein".

Unter diesen Umständen muss die Vorstellung, die Machtpolitik der USA könnte ­ von oben und von außen ­ die Demokratie in der Region auch nur den kleinsten Schritt nach vorne bringen, absurd erscheinen. Nur eine Lockerung des imperialistischen Schraubstocks auf wirtschaftlicher Ebene (Schuldenlast, IWF-Auflagen, Privatisierungen), verbunden mit klarer Nichteinmischung auf politischem Gebiet, könnte den zahlreichen gesellschaftlichen Basiskräften ein wenig Luft zum Atmen lassen.

Paris, 8. Juni 2005


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