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Updated: 18.12.2012 15:51
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Vorbild der heutigen Nazis: Das Nazi-Regime und seine Verbrechen

Text des Beitrags von Benjamin Ortmeyer auf der Veranstaltung "Aufklärung gegen die Nazis. Nazi-Faschismus, Nazi-Bewegung seit 1989 und der Nazi-Aufmarsch in Frankfurt am 7. Juli 2007" am 15.6.07 in Frankfurt/M., einer Veranstaltung des Asta der J. W. Goethe Universität, der Anti-Nazi-Koordination und Frankfurter Antifa-Gruppen

1. Es heißt in der Einladung: "Vorbild der heutigen Nazis: Das NS-Regime". Stimmt das überhaupt? Müssen die Verbrechen der Nazis - unter uns - überhaupt erwähnt werden ?

In diesem Referat soll es um die Verbrechen der Nazis gehen und ob und inwieweit die heutigen Nazis sich in die Nazi-Tradition stellen oder tarnen, werden wir auch anhand der beiden nachfolgenden Referate diskutieren müssen.

Die Bereitschaft mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln am 7.7. in Frankfurt und darüber hinaus, den Nazis entgegenzutreten, hängt durchaus damit zusammen, wie jeder Einzelne hier sich selbst mit dem NS-Regime und seinen Verbrechen bisher auseinandergesetzt hat. Diese Auseinandersetzung, einmal begonnen, kann nicht jeden Tag geführt werden, das ist klar, aber sie ist auch nicht einmal am Tag X beendet, sie zieht sich kontinuierlich durch die eigene Biographie sie ist - auch bedingt durch Anlässe wie der Nazi-Aufmarsch in Frankfurt, durch schlimme gesellschaftliche Entwicklungen nie beendet.

Meiner Meinung nach ist es wichtig, gerade bei Nazi-Aufmärschen zusätzlich zu den Aktionen gegen die Nazis breite Aufklärung über die Nazi-Verbrechen zu betreiben? Gerade diesen Punkt würde ich gern nach diesem Referat diskutieren.

2. Das oft unterschätzte Massenblatt "Deutsche Nationalzeitung" betreibt seit Jahrzehnten der Verherrlichung des NS-Regimes, teils die direkte Leugnung, teils die indirekte Verharmlosung der NS-Verbrechen. Hier sehen wir die zwei Seiten der Nazi-Propaganda.

Auf die Frage: Was wollt ihr eigentlich, gibt es ein klares Programm: Der NS-Staat mit all seinen angeblichen Wohltaten der "Volksgemeinschaft", die Größe Deutschlands . das ist sozusagen der "positive Teil" - auf den sich auch heute alle Teile der Nazi-Bewegung (und nicht nur sie) beziehen.

Und die Verbrechen der Nazis? Neben der Leugnung oder Verharmlosung tritt auch noch eine dritte Variante: Die Rechtfertigung, ja offene stolze Drohung mit den Nazi-Verbrechen!

"Was die Juden hinter sich haben, haben die Türken noch vor sich" - solche offene Morddrohungen finden sich nicht immer in den Publikationen, aber jeder kennt sie, die Nazis heute arbeiten an der Vorbereitung neuer Verbrechen, und deswegen werden wir sie am 7.7. bekämpfen.

3. Die Verbrechen der Nazis in Erinnerung zu rufen, ist ein Vorhaben, bei dem nie die Zeit reicht und reichen kann. Das liegt am endlichen Umfang dieser Verbrechen auf sehr vielen Ebenen:

Der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Europas und an den Sinti und Roma, die Kriegsverbrechen in den überfallenen Ländern, sind die größten und in die Millionen Ermordete gehenden Verbrechen der Nazis.

Die Verbrechen in Deutschland vor 1933, vor allem gegen Nazi-Gegner, aber auch Mordaktion gegen Juden sind kaum bekannt. Die Zusammenarbeit zwischen Nazis und deutschem Staatsapparat VOR 1933 ist von so beklemmender Aktualität, dass sich zu diesem Thema eine eigene Veranstaltung dringend anbietet.

Seit 1933 begann das Mord und Foltersystem des Gestapo-Staates, den Widerstand vor allem aus der Arbeiterbewegung planmäßig zu zerschlagen. Die Liste der Ermordeten ist lang.

Zu den Verbrechen der Nazis gehörte gleich zu Beginn April 1933 der Judenboykott, eine Vorahnung dessen, was nach den Rassengesetzen 1935 dann 1938 in landesweiten Pogromen sich abspielte,

All das geschah offen und unverblümt, die Juden wurden 1938 durch die Straßen in die KZs geführt, öffentlich misshandelt gedemütigt und oft genug auch schon ermordet, auch wenn die eigentliche Steigerung der Mordmaschinerie nach 1939 erfolgte.

Die Geschichte des Nazismus ist in erster Linie die Geschichte seiner Verbrechen:

Die 24 Bände der Protokolle der Nürnberger Prozesse 1946 sowie die 18 Bände mit Dokumenten, die im Prozess als Beweismaterial vorlagen, belegen - dem damaligen Forschungsstand entsprechend - das Ausmaß der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auf vielen tausend Seiten wurde dieser Prozess mit Zeugenaussagen und den diesem Prozess zugrunde liegenden schriftlichen Quellen festgehalten. Mit Hunderttausenden von Namen auf den Fahndungslisten waren die Alliierten ausgerüstet, der Prozess gegen die Hauptverbrecher sollte nur der Anfang sein.

Die Verbrechen des Nazismus umfassen rassistisch motivierte Verbrechen gegen Juden sowie Sinti und Roma, aber eben auch Verbrechen gegen die Völker der besetzten Gebiete. In der Realität verknüpften sich rassistisch und imperial motivierte Verbrechen.

Die Juden aus Frankreich, die Frauen, Kinder und Greise, die nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, waren zweifellos in großem Umfang französische Staatsbürger, aber ihre Ermordung erfolgte aus eliminatorischen, antisemitischen Motiven. Das gilt ebenso für die ermordeten polnischen Juden und die Juden aus den anderen von Deutschland besetzten Ländern.

Der imperiale Krieg war verknüpft mit den rassistischen, Völker dezimierenden und ausrottenden Plänen der Kriegsführung. Im Verlauf des Angriffskriegs gegen die Sowjetunion wurden zwanzig Millionen Menschen getötet und ermordet, viele davon als Kriegsgefangene, weitere zehn Millionen erlitten dasselbe Schicksal in anderen Ländern Osteuropas. Die Mehrheit waren Zivilisten. Sie wurden Mordopfer des deutschen Überfalls.

Im sogenannten "milde" besetzten Frankreich wurden über 25.000 Geiseln hingerichtet, und über 70.000 jüdische Menschen, vom Kleinkind bis zum Greis, wurden aus Frankreich deportiert und ermordet.

Land für Land lässt sich die Liste der Ermordeten aufführen. Ein solche nach Ländern strukturierte Gesamtdarstellung ergäbe jedoch immer noch ein falsches Bild, wenn bei den Opferzahlen der Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung in den überfallenen und besetzten Ländern durch Bombardierungen, Massaker und Geiselerschießungen die einmalige Dimension der eindeutig rassistisch motivierten Völkermordverbrechen an der jüdischen Bevölkerung sowie an den Sinti und Roma unterginge. Nach Schätzungen wurden sechs Millionen Juden und fünfhunderttausend Sinti und Roma ermordet.

Vor allem in den besetzten Teilen der Sowjetunion wüteten im Schutz und mit Hilfe der deutschen Wehrmacht die Erschießungskommandos der sogenannten "Einsatzgruppen". Systematisch wurden alle Gebiete "durchkämmt" und nahezu alle Angehörigen der sogenannten und so definierten "außereuropäischen Rassen" [1] erschossen, ermordet.

Das Netz von Konzentrationslagern bedeckte ganz Europa.

Das aber, was in Polen geschah - wo nicht nur Ghettos und KZs, sondern regelrechte Vernichtungslager, Mordanlagen (Treblinka, Belzec, Sobibor, Chelmo, Auschwitz-Birkenau und Majdanek-Lublin) perfektioniert wurden, in denen Millionen Menschen mit Giftgas ermordet wurden, nachdem sie aus den besetzen Gebieten Europas nach genauen Plänen in Viehwaggons der Reichsbahn dorthin transportiert und beraubt worden waren - das spiegelt sich in einem Wort wider: Auschwitz.

Auf dem Höhepunkt dieser weltgeschichtlich einmaligen Mordaktionen bis hin zur industriellen Vernichtungsaktion wurden 400.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz-Birkenau deportiert, so dass die Tag und Nacht arbeitenden Krematorien nicht mehr zur Verbrennung der Leichen ausreichten. Viele wurden zusätzlich auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt. Die Tatsache, dass Menschen von den deutschen Mördern "wie Ungeziefer" vernichtet wurden, ist nicht nur eine journalistische Metapher. Vielmehr wurde das Läusevernichtungsmittel Zyklon B - ohne das die Menschen warnende zugesetzte Geruchsmittel - in der Tat als Mordinstrument bewusst und planmäßig zur Ermordung von Menschen eingesetzt. Die systematische Deportation der rassistisch verfolgten Babys und Kinder aus allen besetzten Ländern und aus Deutschland in die Vernichtungslager und ihre Ermordung ist eine geschichtliche Tatsache.

Die Verbrechen des Nazismus begannen in Deutschland als Verbrechen gegen Menschen mit der Beseitigung demokratischer Rechte.

Die Entwicklung zwischen 1933 und 1945 in Deutschland ging mit einer breit angelegten Verfolgung aller Gegner des NS-Regimes einher. Die offiziell bekannt gegebene Einrichtung des KZs Dachau und der systematische Terror der Gestapo gegen alle Angehörigen des Widerstands in Deutschland begleiteten die zwölf Jahre nazistischer Herrschaft. [2] Die Zahl der verfolgten Deutschen wird auf mehrere hunderttausend geschätzt, die Zahl der ermordeten Widerstandskämpfer, in erster Linie aus den Reihen der KPD, ist wohl mit mehr als 10.000 nicht zu hoch gegriffen.

Tatsache ist jedoch, dass auch gleich zu Beginn der NS-Zeit der Antisemitismus manifest wurde. Mit dem 1. April 1933 (Boykott jüdischer Geschäfte) über die Nürnberger Rassengesetze 1935 steigerte sich der Terror bis zum Pogrom am 9. und 10. November 1938 für jedermann sichtbar. Durch zentralstaatliche Terrormaßnahmen mit juristischen Absicherungen [3] wurde eine beispiellose Diskriminierung und Ausgrenzung durchgeführt, die sich auch in den Schulen nachweisen lässt. [4]

Zu den Verbrechen innerhalb Deutschlands gehörte auch die Deportation bis hin zur Ermordung von über 200.000 Juden und 60.000 deutscher Sinti und Roma des Deutschen Reiches.

Die bösartig und verschleiernd als "Euthanasie" bezeichnete Ermordung von über 70.000 - als "unwertes Leben" bezeichneten - deutschen Staatsbürgern durch Giftgas bis 1. September 1941 [5], darunter sehr vieler Kinder, ist ein weiterer Wesenszug des NS-Regimes.[6]

Geschichtlich feststehende Tatsache ist auch, dass alle Merkmale einer antidemokratischen staatlichen Diktatur, die Aufhebung sämtlicher demokratischer Rechte, auf das NS-Regime zutrafen.

Zu den Verfolgten des Nazi-Regimes gehörten auch die "Zeugen Jehovas", die sich standhaft weigerten, Kriegsdienst zu leisten und in den KZs drangsaliert und ermordet wurden. Zu den Verfolgten gehörten die Homosexuellen, ein Kapitel für sich, das oft genug aus schlechten Gründen übersprungen wird. Ein weitgehend unbearbeitetes Kapitel sind auch jene Verfolgten des Nazi-Regimes, die als "Asoziale" und "Arbeitsscheue" bezeichnet wurden.

* * *

Von wesentlich größerer Problematik ist die Klärung der Frage, über wen und mit wem diese Diktatur ausgeübt wurde. Wie groß war in den verschiedenen Etappen Zustimmung und Begeisterung in der Bevölkerung?

Tatsache ist, dass das NS-Regime in den Anfängen auch formal im Grunde immer ein Bündnis mit den als "deutschnational" zu bezeichnenden Kräften hatte, das in der Person Hindenburgs sinnfälligen Ausdruck fand.

1935 stimmten in der Saarabstimmung 90,4 Prozent für den Anschluss an Nazi-Deutschland - möglicherweise war dieses Ergebnis nicht repräsentativ für die ganze Bevölkerung Deutschlands [7], aber für die damaligen antinazistischen Kräfte, die auf einen Sieg für die Parole "Nein zum Anschluss" gehofft hatten, war es ein herber Rückschlag. Denn diese Abstimmung war trotz aller Besonderheiten ein Indikator dafür, dass die bereits zwei Jahre indoktrinierte Bevölkerung des Deutschen Reiches eine ähnlich hohe Zustimmung zu Hitler und dem "neuen Deutschland" signalisiert hätte.

Ohne diese Frage hier vertiefen zu können, sei abschließend noch vermerkt, dass es im Deutschen Reich - anders als im faschistischen Italien - bis zum 8. Mai 1945 trotz der klar absehbaren deutlichen militärischen Niederlage keine militärisch relevante Widerstandshandlung gegeben hat. So resümierten die Alliierten im "Potsdamer Abkommen", dass das deutsche Volk den NS-Staat "zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt" [8], unterstützt und bis zum Schluss nicht gestürzt habe.

* * *

Wenn wir uns heute mit aller Härte und aller Konsequenz gegen Nazi-Aufmärsche wehren, tun wir das auch in Erinnerung und in Solidarität mit den Ermordeten des Nazi-Regimes. Diese Solidarität hat nichts mit Pathetik zu tun; wer sich mit den Verbrechen des Nazi-Regimes auseinandergesetzt hat und weiter auseinandersetzt weiß, warum wir den Nazis heute keine Millimeter Raum überlassen dürfen. Es muss durchbrochen werden, dass der Satz stimmt: "Die Geschichte der Nazis ist die Geschichte ihrer Unterschätzung".

Anmerkungen

1) Die rassistisch-absurde Definition durch die nazistische Ideologie, dass es angeblich "zwei außereuropäische Rassen" gebe, die es zu vernichten gelte, entzieht sich einer klaren begrifflichen Bestimmung. Mit dem hier und nachfolgend verwendeten Begriff "Völkermord" zum Beispiel soll in der Diskussion, ob die Roma in Europa ein Volk sind oder eher nur als nationale Minderheiten in den jeweiligen europäischen Ländern anzusehen sind, keine Stellung bezogen werden. Er zielt auch nicht darauf ab, den besonderen Aspekt abzuschwächen, dass die große Mehrheit des deutschen Volkes aufgerufen wurde, eine Minderheit des eigenen Volkes, die Juden in Deutschland, "verrecken" zu lassen. Es geht nicht darum, durch diesen Begriff "Völkermord" Stellung zu beziehen in der Kontroverse, wieweit jene Juden in Deutschland mit deutschen Pass wirklich assimiliert und integriert waren. Mit dem Begriff "Völkermord" oder "Genozid" soll lediglich betont werden, dass ganze rassistisch-völkisch definierte Bevölkerungsgruppen, vom Kleinkind bis zum Greis allein auf Grund ihrer Existenz zur Ermordung bestimmt wurden: die Juden und die Sinti und Roma.

2) Soweit Gestapo-Zahlen vorliegen, werden 1936 über 11.600 Mitglieder von SPD und KPD - 1937 über 8.000 und 1938 über 3.800 - als Verhaftete angegeben (siehe Gestapo-Berichte über den antifaschistischen Widerstand der KPD 1933 - 1939, Berlin 1989, S. 174 und 196, Anmerkung 1.)

3) In der 1996 als Taschenbuch vorgestellten 2. Auflage des Buches von Joseph Walk "Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat" werden knapp 2.000 Gesetze, Verordnungen und Richtlinien des Sonderunrechts für die Juden im NS-Staat in vier Zeitabschnitten zusammengestellt. Einleitend stellt Robert M.W. Kempner über die Rolle des nazistischen Justizwesens fest: (Siehe Joseph Walk: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 1996, S. IX) " Sie glaubten, keine Raubmörder zu sein, wenn sie ihren Verbrechen gegen die jüdischen Bürger 'gesetzliche' Mäntelchen umhängten und jede Missetat an Juden in die Form von Verordnungen, Erlassen, Verfügungen usw. verpackten. " Die Dokumentation beginnt mit den Paragraphen 4 und 5 des Parteiprogramms der NSDAP vom 24. Februar 1920: " Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist" und "Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung stehen" . (Siehe Walk 1996: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, S. 3) In Dutzenden von dokumentierten Anweisungen der verschiedenen Länder oder des Reichsministeriums oder des Reichsministers für Erziehung und Wissenschaft wird hier aufgelistet, mit wie viel Akribie durch Verordnungen und Erlasse auch das Leben jüdischer Schülerinnen und Schüler sowie jüdischer Lehrerinnen und Lehrer drangsaliert wurde. Die letzte Eintragung datiert vom 16. Februar 1945 unter der Anweisung: " Behandlung von Entjudungsakten: Ergänzung zu der Anweisung vom 10.1.1945 " und lautet: " Wenn der Abtransport von Akten, deren Gegenstand anti-jüdische Tätigkeiten sind, nicht möglich ist, sind sie zu vernichten, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen. YV,JM/2828 ". (S. 406)

4) Klemperer hob in seiner Analyse der NS-Zeit als eine der vielen Dutzenden antisemitischen Maßnahmen, Regelungen und Gesetze hervor: das Verbot der Haustiere für Juden. Er schrieb 1946 in seinem Buch "LTI": "Man hat uns denn auch später unsere Haustiere: Katzen, Hunde und sogar Kanarienvögel, weggenommen und getötet, nicht in Einzelfällen und aus vereinzelter Niedertracht, sondern amtlich und systematisch, und das ist eine der Grausamkeiten, von denen kein Nürnberger Prozess berichtet, und denen ich, läg' es in meiner Hand, einen turmhohen Galgen errichten würde, und wenn mich das die ewige Seligkeit kostete." (Victor Klemperer: "LTI" Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. 3. Aufl., München 1969, S. 106.)

5) Ernst Klee: "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Frankfurt / Main 1991, S. 340. Yaacov Rand problematisiert in seinem Beitrag "Der Holocaust: Die pädagogische Botschaft eines Überlebenden. Ein Essay" (In: Ellger-Rüttgardt 1996: "Verloren und Un-Vergessen", S. 335 ff.) die tiefe persönliche Beteiligung, die eine Distanz von diesem Thema geradezu verunmöglicht und betont, dass er in tiefem Respekt und Ehrerbietung für diejenigen schreibt, die nicht das Glück hatten zu überleben. In seiner zusammenfassenden Wertung der Verbrechen der Nazis an jüdischen Kindern und Behinderten schreibt er: "Es ist kein reiner Zufall, dass der Nazismus versuchte, nicht nur die Juden oder die Zigeuner zu vernichten, sondern auch diejenigen, die geisteskrank oder behindert waren oder irgendeine andere Art von Schwachheit zeigten. Solche wehrlosen Leute wurden nicht vor der Vernichtung gerettet, nicht einmal wenn sie Arier waren. Jüdische Waisenkinder wurden zusammen mit ihrem Betreuer und Vater Janusz Korczak nach Auschwitz [Rand verwendet hier Auschwitz als Synonym für die Massenvernichtung. Korczak und die jüdischen Waisenkinder wurden in Treblinka ermordet, B.O.] geschickt. Ihre Asche wurde eins mit der aller deutschen Behinderten. Sie alle, Kinder und Erwachsene, waren zu demselben Schicksal verurteilt." (S. 342) Yaacov Rand betont "die Komplizenschaft zwischen dem aktiven Bösen und dem passiven Hinnehmen" (S. 342). Er erinnert an Bialik, den berühmten hebräischen Nationaldichter, der feststellte: "Sogar dem Teufel ist es bisher nicht gelungen, sich die Rache für das Blut eines kleinen Kindes auszudenken. (S. 342) Die klare Schlussfolgerung von Rand ist: "Wir müssen wissen, dass es keine Vergebung für solche Taten gibt und dass es ebenso keine Vergebung für den Zuschauer mit seiner tötenden Gleichgültigkeit gibt. (S. 342) Diese deutliche Wertung unterscheidet sich von jenen Analysen der NS-Zeit deutscher Erziehungswissenschaftler sehr massiv, die sich mehr für institutionelle Details interessieren als für das Schicksal der ermordeten jüdischen Kinder.

6) Bromberger / Mausbach 1979 geben in ihrem Buch "Feinde des Lebens. NS-Verbrechen an Kindern" einen Überblick über jene Anstalten, in denen Kinder unter dem Decknamen "Euthanasie" ermordet wurden: Hadamar bei Limburg, Kalmenhof bei Idstein, Eichberg in Hessen, Grafeneck in Württemberg, Egelfing-Haar bei München, Wienebüttel bei Lüneburg, Hartheim bei Linz (siehe S. 69). Es wird die Feier geschildert, die in Hadamar aus Anlass der zehntausendsten "Vernichtung lebensunwerten Lebens" stattfand. Die Leiche wurde vor dem Verbrennungsofen aufgebahrt und mit Blumen und Hakenkreuzfähnchen geschmückt. "Die ,Feier' endete mit einem Trinkgelage." (Friedrich Stöffler: "Die ,Euthanasie' und die Haltung der Bischöfe im hessischen Raum 1940-1945". In: "Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte". 13. Band, 1961, S. 309. Zitiert nach Bromberger / Mausbach 1979: Feinde des Lebens, S. 80.)

7) Fritz Bauer schrieb:
"Der Nazismus ist nicht vom Himmel gefallen; er wurde nicht nur von Hitler verkörpert. Hitler wurde gewählt, zunächst mit 40 bis 45 Prozent und nachher mit 99 Prozent. Viele haben ja zu ihm gesagt; sie haben früh und spät ,Heil Hitler' gerufen, sie haben die Hakenkreuzfahne gehisst und sind bei Aufzügen und Demonstrationen oft genug mit dabei gewesen. Sie haben den gelben Fleck an den Kleidern ihrer jüdischen Mitbürger gesehen und die Röhm-Morde, die Kristallnacht und viele andere Ausschreitungen schwerster Art mit eigenen Augen und Ohren erfahren. Sie haben erlebt, wie ihre jüdischen Nachbarn verschwanden, sahen den Abtransport der Juden, sie kannten aus den ,Führerreden" und -schriften die furchtbaren Drohungen gegen dieses Volk; sie sahen und beteiligten sich daran, wie politische Gegner wegen ihrer abweichenden Meinungen und Ziele niedergeschrieen und niedergemacht wurden; sie wussten von der Versklavung anderer Völker, sie benutzten die Fremdarbeiter." (Fritz Bauer: Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, Frankfurt am Main 1965, S. 12)

8) Siehe das "Potsdamer Abkommen", in dem es heißt: "...das deutsche Volk hat begonnen, Sühne zu leisten für die furchtbaren Verbrechen, die unter der Führung derer, die es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden." (Die Potsdamer (Berliner) Konferenz der höchsten Repräsentanten der drei alliierten Mächte - UdSSR, USA und Großbritannien (17. Juli - 2. August 1945), Dokumentensammlung, Berlin 1986, S. 403)


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