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Updated: 18.12.2012 15:51
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Gespaltene Solidarität

Ein Gespräch über Gewerkschaften, Rassismus und transnationale Organisierung

Den deutschen Gewerkschaften wird von neuen sozialen Bewegungen vielfach vorgeworfen, nur die Interessen ihrer Mitglieder im Auge zu haben. MigrantInnen, Erwerbslose oder jene, die im informellen Sektor ihr Auskommen suchen, blieben außen vor. Im folgenden Gespräch loten VertreterInnen von Gewerkschaften und antirassistischen Bewegungen die Grenzen und Möglichkeiten einer Zusammenarbeit aus.

iz3w: Als Gegenbegriff zur neoliberalen kapitalistischen Globalisierung »von oben« wird in letzter Zeit eine weltweite Organisierung der Lohnabhängigen unter dem Schlagwort der »Globalisierung von unten« bemüht. Was haltet Ihr davon?

Nadine Gevret (NG): Ich kann mit dem Begriff wenig anfangen. Auf der Ebene klassischer Gewerkschaften wäre eine verstärkte transnationale Zusammenarbeit absolut notwendig. Grundsätzlich wird die internationale Dimension von den üblichen Gewerkschaften nicht genügend erkannt. Das liegt vielleicht auch an der Schwierigkeit, daß Kampf gegen Deregulierung und Sozialabbau von ganz verschiedenen Bevölkerungsschichten, die außerdem in ganz unterschiedlichen Gesellschaften leben, zu führen wäre. Heute wird auf Seiten der Unternehmen bei der Ausnutzung sozialer Gefälle sehr stark ethnisiert. Aber auch auf der anderen Seite bleiben Kämpfe gegen Sozialabbau partikularisiert und stark voneinander isoliert, obwohl sie stärker miteinander verbunden werden müßten.

iz3w: Aber meint »Globalisierung von unten« nicht genau die Stärkung internationaler gewerkschaftlicher Zusammenarbeit?

Heiko Möhle (HM): Ja, aber auch eine internationale Vernetzung von Gewerkschaften würde nicht den Anspruch einlösen, verschiedene soziale Bewegungen oder einzelne Menschen, die in unterschiedlichster Weise von Deregulierung betroffen sind, zu organisieren. »Globalisierung von unten« meint oft nur etwas sehr Allgemeines. Meist werden bei dieser Debatte vor allem die Vorzüge des Internet gepriesen, als ob sich mit diesem Medium, das ja nur sehr beschränkte NutzerInnenschichten hat, Protest gegen Sozialabbau organisieren ließe. Aber auch bei einer tatsächlich verstärkten Vernetzung der Gewerkschaften wäre angesichts ihrer Verfaßtheit – daß sie nämlich vor allem Funktionärsgewerkschaften sind – ein großer Teil der von Sozialabbau Betroffenen ausgeschlossen.

iz3w: Worin könnten denn – zunächst auf nationaler Ebene – konkrete Anknüpfungspunkte zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen bestehen?

HM: Das naheliegendste wären die Arbeitslosenbewegungen, die in vielen europäischen Ländern eine gewisse Stärke erreicht haben. Weiterhin Bewegungen, die sich um »klassische« soziale Rechte kümmern, wie z.B. die Obdachlosenbewegung. Und dann wäre da vor allem die Antirassismus- oder FlüchtlingsunterstützerInnen-Bewegung. In Frankreich kam es in letzter Zeit zumindest ansatzweise zu Solidarität seitens der Gewerkschaften. Sie werden sich bewußt, daß die Prozesse, denen ihre Mitglieder ausgeliefert sind, zwar sehr unterschiedliche Auswirkungen im Vergleich zu den Folgen für MigrantInnen haben, aber sehr ähnlichen Ursachen und Strukturen wie z.B. einer Politik des allgemeinen Sozialabbaus unterliegen. Aber die Vermittlung dieses Bewußtseins ist eben genau das Problem. Die Situation eines Arbeiters, der in einem klassischen festen Lohnarbeitsverhältnis steht, hat auf den ersten Blick erst einmal wenig mit der eines Afrikaners zu tun, der von Abschiebung bedroht ist. Den Zusammenhang zwischen beiden zu vermitteln, wäre eine zentrale Aufgabe von politischer Organisierung.

iz3w: Hat die Arbeitslosenbewegung in Frankreich auch Bezug auf die Bewegung der Sans-Papiers, der Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmigung, genommen?

NG: Ja. Es gibt z.B. seit Dezember 1995 den »Appel des Sans« von Leuten, die ohne Arbeit, Wohnung oder eben Papiere sind. Dieser Aufruf wurde von Organisationen wie der Arbeitslosenbewegung AC, von Droits devant, aber auch von Gewerkschaften wie Solidaire Unitaire Démocratique (SUD) unterschrieben. In einem Aufruf von Arbeitslosen zu der großen Demo der Sans Papiers vom Januar 1998 heißt es: »Alle zusammen für die Gleichheit der Rechte«.

iz3w: Ist dies nicht eine spezifisch französische Situation? Außerdem sind die genannten Organisationen und Gewerkschaften nur kleine Minderheiten, schon aufgrund der Tatsache, daß es in Frankreich keine Einheitsgewerkschaften gibt.

NG: Die Situation in Frankreich läßt sich mit der in der Bundesrepublik nur schwer vergleichen. Zum einen ist der gewerkschaftliche Organisierungsgrad traditionell viel geringer, und es gibt ein ganz anderes Verständnis von Gewerkschaftsarbeit. Die Gewerkschaftsmitglieder sind keine Karteileichen wie bei den DGB-Gewerkschaften, sondern sie verstehen sich vielmehr als »militant«, als aktiv. Zum anderen geht die Initiative zu Arbeitskämpfen spätestens seit dem großen Eisenbahnerstreik von 1986 nicht unbedingt von den Gewerkschaftszentralen aus, sondern von Basiskomitees. Deswegen ist die Gewerkschaftsarbeit aus Sicht der Zentralen aus dem Ruder gelaufen, und sie ist nicht so stringent und einheitlich wie in Deutschland.

iz3w: Sind vor diesem Hintergrund Antirassismus und Internationalismus in Frankreich stärker ausgeprägt als hier?

NG: Nicht im allgemeinen. Bei der minoritären SUD etwa stehen sie ausdrücklich im Programm. Den Basiskomitees der großen Gewerkschaften wie z.B. der eher sozialdemokratischen CFDT oder der kommunistennahen CGT kann man eine solche Orientierung nicht unbedingt nachsagen. In den achtziger Jahren initiierte die CGT die Kampagne »französisch produzieren«, die zwar nicht grundsätzlich rassistisch geprägt war, aber schon sehr nationalistische Töne anschlug.

iz3w: In Deutschland gab es in jüngerer Zeit ebenfalls einzelne stark nationalistisch geprägte Gewerkschaftsaktionen. Ich denke da insbesondere an die Agitation der IG Bau in Berlin, die zwar vordergründig die sogenannte »Schwarzarbeit« und die ungeschützten Arbeitsverhältnisse der Migranten etwa auf der Reichstagsbaustelle im Visier hatte, aber zugleich auch die Migranten zum Sündenbock für Lohndumping etc. machte. Gibt es in Deutschland auch Ansätze für antirassistische Gewerkschaftsarbeit?

Matthias Maurer (MM): In der Form, wie das bei der SUD möglich ist, ganz sicher nicht. Man muß aber unterscheiden zwischen verschiedenen Gruppen in den Gewerkschaften. Wenn man etwa bei der IG Bau von der Gewerkschaftsbasis ausgeht: Es gibt auf dem Bau einen immer stärker werdenden alltäglichen Rassismus. Dieser Rassismus hat einen sozialen Hintergrund wie z.B. eine massive soziale Deklassierung, die direkt im Zusammenhang steht mit dem »Import« von ausländischen Arbeitskräften aus Portugal, England oder Osteuropa. Die alltäglich erfahrbare Angst um den eigenen Arbeitsplatz ist nicht der eigentliche Grund für den Rassismus, aber sie trifft auf eine langjährige gesellschaftliche Tradition der Ausgrenzung.
Auch in der Politik der IG Bau ist durchaus ein rassistischer Gedanke angelegt. Es gibt zwar die Grundforderung »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, die an sich absolut nicht rassistisch und völlig korrekt ist, aber sie muß verglichen werden mit ihren praktischen Konsequenzen. Denn im Klartext bedeutet diese Forderung »Macht Arbeit teurer«, damit hiesige Arbeitskräfte zum Zuge kommen und nicht auswärtige. Das würde natürlich niemand so formulieren und im Moment bekommen die Gewerkschaftsfunktionäre auch ziemlich kalte Füße. Sie werden in ihren Formulierungen vorsichtiger als noch vor ein, zwei Jahren, weil ihnen die rassistischen Tendenzen ihrer Forderungen und der Nährboden auf den Baustellen dafür langsam bewußt werden. Ein wirkliches Umdenken findet aber nur bei einer kleinen Minderheit statt.
Ich bin aber nicht der Meinung, daß alle Bauarbeiter rassistisch sind. Die Diskussion bekommt leicht einen solchen Zungenschlag. Auf dem Bau gibt es eine lange Tradition der Zuwanderung, die immer gut funktioniert hat, solange sie in das Tarifsystem integriert war. Damals gab es natürlich auch Reibereien und betriebliche Hierarchien, die sich aber nicht von der gesamtgesellschaftlichen Situation unterschieden. Durch die verschärfte soziale Lage und durch die Deregulierung bekommt der latente Rassismus jedoch eine neue Dynamik.

iz3w: Deutet diese Problematik nicht auf ein Grundproblem der Gewerkschaften hin, daß sie nämlich Organisationen zur Besitzstandswahrung und -mehrung von Lohnabhängigen mit einem festen Arbeitsverhältnis sind, die gegenüber prekär Beschäftigen und Migranten vergleichsweise im Vorteil sind? Sind Gewerkschaften nicht grundsätzlich spalterisch und partikularistisch, weil sie nur die Interessen ihrer eigenen Klientel bedienen?

NG: Die Gewerkschaften werden partikular. Die meisten Gewerkschaften orientieren sich noch immer an Modell des weißen männlichen Facharbeiters, der sein ganzes Leben lang berufstätig ist. Trotz ihrer eigenen Analysen auf theoretischer oder verbaler Ebene nimmt die praktische Gewerkschaftsarbeit aber immer noch nicht hinreichend zur Kenntnis, daß sich die Arbeitsverhältnisse drastisch geändert haben. Zum Beispiel das Hinzukommen vieler Frauen auf dem Arbeitsmarkt oder die Entstehung prekärer Arbeitsverhältnisse. Bei Gewerkschaften wie der HBV, in deren Bereich – wie z.B. im Einzelhandel – prekäre Verhältnisse unübersehbar sind, ist eine Auseinandersetzung damit im Vergleich zu den großen Industriegewerkschaften noch am ehesten sichtbar.

HM: Der Partikularismus war aber schon immer vorhanden. Er hat sich in früheren Jahrzehnten nur nicht so deutlich gezeigt, weil die Segmentierung des Arbeitsmarktes damals nicht so stark wie heute war. Unter den großindustriellen Produktionsbedingungen der siebziger Jahre konnten Gewerkschaften die tarifliche Absicherung von ArbeitsmigrantInnen noch durchsetzen. Das geschah weniger aus Solidarität als aus der Angst, die ausländischen KollegInnen könnten zur »Billigkonkurrenz« werden. Faktisch wurde das Prinzip »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« aber oftmals unterwandert, indem die Betroffenen in niedrigere Lohngruppen eingestuft wurden, ohne daß die Gewerkschaften dem viel Widerstand entgegensetzten.

NG: Gewerkschaften haben sowohl in Frankreich als auch in Deutschland sogar von Arbeitsmigranten profitiert, weil sie die Arbeitskämpfe der siebziger Jahre massiv vorangetrieben haben. Deswegen waren türkische oder algerische Kollegen voll in die Gewerkschaften integriert. Diese Integration wird jetzt in Frage gestellt, wenn der offizielle Status oder das Arbeitsverhältnis prekär werden. Bei Gewerkschaften geht es also nicht primär um die Herkunft ihrer Mitglieder, sondern um die Frage, welchen rechtlichen oder gesellschaftlichen Status sie haben.

MM: Die deutschen Gewerkschaften sind mit nur graduellen Unterschieden sozialpartnerschaftlich organisiert. Sie verstehen diesen Staat als ihren Staat, als Sozialstaat. Nun verhält sich dieser Staat plötzlich anders, das Kapital setzt seine Interessen offener durch. Trotzdem kämpfen die Gewerkschaften noch immer für das Sozialstaatsmodell, und dieser Staat ist durchaus ein Obrigkeitsstaat. Er hat die sozialen Rahmenbedingungen zu regeln, und die Gewerkschaften reduzieren sich auf das Tarifgeschäft. Wenn er das nicht tut, soll er dazu gezwungen werden. Durch die Razzienkampagne gegen »Schwarzarbeit« wollen die Gewerkschaften z.B. erreichen, daß auf den Baustellen wieder Ordnung herrscht, wenn auch soziale Ordnung. Die Schwelle zum Obrigkeitsstaat ist aber schon durch die Aufforderung, daß die Betriebsräte mit den Landeskriminalämtern kooperieren sollen, teilweise überschritten.

iz3w: Wenn die derzeitigen gewerkschaftlichen Kämpfe schon auf nationaler Ebene solche Formen annehmen, wie soll dann eine internationale Perspektive aussehen?

NG: Der gewerkschaftlichen Arbeit fehlt es grundsätzlich an der internationalen Dimension – nicht in der Rhetorik, aber in der Realität. Wenn man sich den Zustand des EGB, des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Brüssel, anschaut, stellt man fest, daß der noch nicht mal ausreichend »normale« Lobbyarbeit macht. Dort arbeiten gerade mal 40 Personen, was angesichts der Dimension der EU ein Witz ist. Die europäischen Gewerkschaften haben darüberhinaus mit ihren nationalen Traditionen zu kämpfen, weswegen etwa bei Auseinandersetzungen mit öffentlichen Arbeitgebern auf EU-Ebene immer die nationale Tarifautonomie im Vordergrund steht.

iz3w: Einen Anknüpfungspunkt für transnationale Kooperation und Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen wie z.B. der Dritte-Welt-Solidarität gibt es aber meines Erachtens doch, und zwar die Forderung nach Einführung von Sozialklauseln und Mindeststandards zur Verhinderung von Sozialdumping im Welthandel.

MM: Diese Forderungen sind mindestens so ambivalent wie die nach »gleichem Lohn für gleiche Arbeit«. An sich sind Sozialklauseln in Ordnung, aber sie sind nicht gedeckt durch reale gemeinsame Kampfmöglichkeiten. Von KollegInnen aus dem Textilbereich weiß ich, daß die Forderung nach Siegeln wie z.B. Rugmark, die Kinderarbeit in der Teppichproduktion ausschließen soll, massiv verbunden ist mit der Hoffnung auf Erhalt von hiesigen Arbeitsplätzen. Arbeit soll in den Dritte-Welt-Ländern teurer werden. Aber an die Frage, wie Sozial- und Lohnstandards internationalisiert werden können, wagt sich aus verschiedensten Gründen keiner richtig ran. Es nützt wenig, Sozialstandards über hiesiges Verbraucherverhalten durchzusetzen, wenn dies bewirkt, daß Kinder in Nepal entlassen werden, auf der Straße landen und eventuell in die Prostitution gezwungen werden. Das kann keine Alternative sein.

HM: Auf einem Seminar des BUKO über den globalen Arbeitsmarkt haben wir den Standpunkt vertreten, daß Sozialklauseln einen neuen Protektionismus schaffen, daß sie als Vorwand dazu dienen können, Importe von Waren aus dem Süden zu unterbinden. Dem wurde von zwei VertreterInnen aus mexikanischen Maquilas aber ganz energisch widersprochen. Sie meinten, es wäre ein typisch eurozentristischer Blick, wenn wir als europäische Solidaritätsbewegung auch noch meinen entscheiden zu müssen, was den Betroffenen in den Maquilas nützt und was nicht. Sie sagten: Wir kämpfen in unseren Betrieben ganz konkret um die Einführung der Gewerkschaftsfreiheit, die Erhöhung der Tarife und um ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit, und wir erwarten von einer europäischen Solidaritätsbewegung, daß sie uns in diesem Kampf unterstützt. Diese Unterstützung ist natürlich wichtig, allerdings darf man bei Sozialklauseln das Dilemma nicht außer acht lassen, daß Unternehmen bei ihrer Einführung die Produktion in informelle, noch weiter entrechtete Sektoren verlegen, die sich jeder Kontrollmöglichkeit entziehen.

NG: Diese Situation gleicht sich doch international immer mehr an. Wir tun so, als gäbe es in Deutschland keinen informellen Sektor. Dabei muß man nur mal durch Hamburg laufen, dann sieht man genügend Leute, die ihr Auskommen darin suchen. Das ist aber kein Grund, auf den Kampf für die Durchsetzung sozialer Standards zu verzichten.

HM: Die Forderung nach Sozialklauseln ist ambivalent, weil sie in der Praxis immer wieder auch neue Ausgrenzung schafft. Das zeigt sich auch auf nationaler Ebene – etwa bei der Beschäftigung von MigrantInnen. Es ist leider so, daß viele von ihnen nur deshalb hier arbeiten können, weil sie bereit sind, die Tarifstandards zu unterbieten. Bei der derzeitigen Ausländergesetzgebung würde das Prinzip »Gleicher Lohn für alle« bedeuten, daß sie keine Arbeit mehr fänden und von Ausweisung bedroht wären. Die Diskriminierung von MigrantInnen im Arbeitsbereich spielt sich ja nicht in erster Linie im Tarifbereich ab, sondern im Bereich des Ausländerrechtes. Das heißt, die isolierte Forderung »Gleicher Lohn für alle« müßte um die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung ergänzt werden. Ansonsten droht nur die Ausweitung von Kontrollen und damit die Zunahme von Abschiebungen. Aber hier haben die Gewerkschaften ihre isolierte Betrachtungsweise noch nicht aufgegeben. Eine Forderung wie »offene Grenzen für alle« ist in Gewerkschaftskreisen tabu.

NG: Ich habe einige Interviews mit MigrantInnen geführt, die in mehr oder minder illegalen Arbeitsverhältnissen stehen. Wenn du die nach Gewerkschaften fragst, denken sie zuerst, das sei eine weitere Behörde. Sie fühlen sich von Gewerkschaften überhaupt nicht vertreten, selbst wenn sie das Recht hätten, sich vertreten zu lassen. Diese Berührungsangst beruht allerdings auf Gegenseitigkeit.

iz3w: Wie könnte eine Organisierungsperspektive für MigrantInnen in Europa aussehen?

HM: Das ist sehr schwierig. Wenn MigrantInnen in mehr oder minder illegalen Verhältnissen leben, kann man nicht erwarten, daß sie sich gewerkschaftlich organisieren. Das Problem ist, daß Gewerkschaften sich nicht zuständig fühlen, wenn MigrantInnen bei ihnen nicht Mitglied sind.
NG: Erschwert wird das durch den unterschiedlichen Aufenthaltsstatus der MigrantInnen. Polnische Bauarbeiter, die im Rahmen von Werkverträgen beschäftigt sind, unterliegen in vielem polnischem Recht. Es gibt mindestens zehn verschiedene Rechtslagen. Die Gewerkschaften müßten das Nationalitätsprinzip aufgeben und eine Bündelung der segmentierten Interessen versuchen.

MM: Innerhalb der IG Bau muß man diesbezüglich differenzieren. Es gibt in Teilen des Bundesvorstandes und des Funktionärskörpers ein gewisses Umdenken. Man hat z.B. mit italienischen und portugiesischen Gewerkschaften Kooperationsverträge geschlossen. Das heißt, deren Mitglieder haben hier volles Vertretungsrecht. Mit polnischen und tschechischen Gewerkschaften ist dies etwas schwieriger, weil Arbeitsverträge sich in diesen Fällen im Gegensatz zu EU-Mitgliedsstaaten am nationalen Arbeitsrecht orientieren. Dieses Vertretungsrecht müßte allerdings mit mehr Leben gefüllt werden. Es gibt meines Wissens nur auf der Großbaustelle am Potsdamer Platz in Berlin Büros mit portugiesischen oder polnischen Gewerkschaftsvertretern, die konkrete Rechtsberatung leisten können.

iz3w: Haben diese Gewerkschaftsvertreter irgendeine Handlungsmacht?

MM: Nein. An diesen Schritt kann man erst übermorgen denken. Es geht erstmal darum, einen solchen Gedanken innergewerkschaftlich durchzusetzen. Es herrscht in den Gewerkschaften auf allen Ebenen Hilflosigkeit, wie man überhaupt mit dem Problem umgehen soll. Ich bin in meinem Alltag auch hilflos, wenn ich sehe, daß innerhalb von zwei Jahren 60 Prozent meiner Kollegen gekündigt wurden und sie durch ausländische Kollegen, die zu Scheiß-Bedingungen arbeiten, ersetzt wurden.

iz3w: Diese Entwicklung ist in unterschiedlicher Ausprägung ja weltweit zu beobachten. Der Sozialhistoriker Karl Heinz Roth spricht von einer zunehmenden weltweiten Homogenisierung des Proletariats, weil der klassische Lohnarbeiter zu einer kleinen Minderheit wird und stattdessen prekäre, »flexible« Beschäftigungsverhältnisse in Nord wie Süd zum Normalfall werden. Wie können Gewerkschaften, die ja bislang immer das gleichermaßen marxistisch-leninistische wie sozialdemokratische Verständnis von Lohnarbeit und Arbeiterklasse zugrundegelegt haben, darauf reagieren?

NG: Im Süden gibt es durchaus gewerkschaftsähnliche Organisationen, die im informellen Sektor aktiv sind. Hiesige Gewerkschaften machen sich aber bislang außer in minoritären Zirkeln und in Sonntagsreden keinerlei Gedanken, wie man von der Fixierung auf den männlichen Facharbeiter wegkommt.

HM: Wenn Gewerkschaften sich verstärkt der Situation prekär Beschäftigter anehmen, wäre immer noch entscheidend, was sie zum Kern ihrer politischen Forderungen machen. Die Vorstellung, informelle Beschäftigung ließe sich in formelle umwandeln, ist illusorisch. Der Trend zu informeller Beschäftigung und Deregulierung ist zu stark, als man ihn langfristig zurückdrängen könnte, etwa durch die Einführung von Sozialstandards. Stattdessen sollte eher die Forderung nach materieller Existenzsicherung, die nicht mehr an ein Lohnarbeitsverhältnis geknüpft ist, ins Augenmerk rücken.

iz3w: Die Forderung nach einem »Bürgergeld« oder garantierten Existenzminimum wird in der BRD ja von vielen – von der FDP bis hin zur PDS – erhoben. Sie ist zugleich sehr umstritten. Von manchen Linken wird angeführt, sie bedeute die Aufgabe eines antagonistischen Gesellschaftsprojektes und laufe auf die Ruhigstellung der Unzufriedenen hinaus.

NG: Das heutige System der Sozialhilfe ist auch nicht gerade menschenwürdig. Wenn du revolutionär denkst und einen Zeithorizont von mehreren Jahrzehnten hast, bewertest du Existenzsicherung anders als aus einem pragmatischen Bilckwinkel. Wenn nun auch die FDP ein »Bürgergeld« fordert, muß man genau hinschauen, ob das nur eine reformierte Sozialhilfe sein soll. Ansonsten würde ich keinen ideologischen Streit daraus machen.

HM: Die Gefahr besteht natürlich, daß die Idee der sozialen Mindestabsicherung zum Vorwand genommen wird, formale Arbeitsverhältnisse gerade im sozialen Bereich weiter abzubauen. Das heißt, ein produktiver Sektor mit festen Arbeitsverhältnissen besteht weiter, während Sozialarbeit, Gesundheitsversorgung usw. weiter dereguliert und über ein Existenzgeld privatisiert werden.

iz3w: Aus internationalistischer Perspektive steht zu befürchten, daß ein Existenzgeld nur an deutsche Staatsangehörige ausbezahlt würde und Ausgrenzung damit vorprogrammiert ist.

NG: Die Bevorzugung von eigenen Staatsangehörigen, auch auf dem Arbeitsmarkt, ist ein typisch deutsches Phänomen, das es in Frankreich in der Form nicht gibt. Dort ist es für AusländerInnen erheblich einfacher, Sozialhilfe zu bekommen.

MM: Ich sehe das Existenzgeld eher pragmatisch. Es gibt bereits derartig viele sozial deklassierte Menschen, daß die Schaffung von anderen Einkommen als Sozialhilfe absolut notwendig ist. Allerdings habe ich schon gewisse inhaltliche Probleme, weil Arbeit – und damit meine ich nicht abhängige Lohnarbeit – für mich einen wichtigen gesellschaftsbildenden Charakter hat. Ausschluß von Arbeit bzw. von gesellschaftlicher Beteiligung wäre ja die Folge eines Existenzgeldes. Wie schnell im Falle ökonomischer Krisen dann an die Kürzung von Sozialstandards gegangen wird, sieht man jetzt ja an der Kürzung der Sozialhilfe für Flüchtlinge. Wer wird die nächste Gruppe sein?

iz3w: Damit kommen wir zu einer Diskussion des Arbeitsbegriffes. In der BRD wird »Arbeit« – und damit ist fast immer abhängige Lohnarbeit gemeint – zum Fetisch gemacht. In anderen Gesellschaften ist es nicht so wie hier ein Wert, von morgens bis abends zu buckeln, relativen Wohlstand anzuhäufen und das ganze auch noch philosophisch zu überhöhen. Die »Glücklichen Arbeitslosen« aus Berlin nehmen in ihrem Manifest Bezug auf somalische Handwerker, die die »endlose Arbeit« der Weißen verachten und ihre Gewinne lieber alljährlich bei einem großen Fest verjuxen. Da ist sicherlich eine gehörige Portion Sozialromantik dabei, aber tendenziell ist schon richtig, daß in anderen Gesellschaften Selbstverwirklichung nicht nur durch Arbeit definiert wird.

MM: Deshalb habe ich ja bewußt nicht von Lohnarbeit gesprochen. Ich sehe aber die Gefahr, daß durch ein Existenzgeld die für den kapitalistischen Sektor nicht »produktiven« Teile der Gesellschaft auf ein Abstellgleis geschoben werden.

HM: Ich sehe das nicht so. Es kann ja sogar genau der gegenteilige Fall eintreten, weil eine gesicherte materielle Basis die Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen erst ermöglicht.

NG: Die Leute, die über einen neuen Arbeitsbegriff nachdenken oder über gesellschaftliches Engagement und Partizipation, sind leider sehr in der Minderheit. Ich könnte prima ohne Erwerbsarbeit auskommen, aber meine Nachbarn glaube ich nicht.

Die GesprächsteilnehmerInnen:

  • Nadine Gevret (NG) arbeitet in der Erwachsenenbildung und ist ehrenamtliche Redakteurin der antirassistischen Zeitschrift »off limits«.
  • Matthias Maurer (MM) arbeitet als Zimmerer bei einem deutschen Baukonzern und ist als Betriebsrat bei der IG Bauen-Agrar-Umwelt organisiert.
  • Heiko Möhle (HM) arbeitet in der Geschäftsstelle des Bundeskongresses entwicklungspolitischer Aktiongruppen (BUKO).
  • Christian Stock ist Mitarbeiter des iz3w.

Die ungekurzte Originalfassung ist in der Zeitschrift zwischen Nord und Süd - iz3w, Ausgabe 230 vom Juli/August 1998 erschienen, www.iz3w.org externer Link


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