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Updated: 18.12.2012 15:51
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Händel im Handel

Harold Henke* über steigende Streikwut bei Einzelhandelsbeschäftigten

Seit über sechs Monaten warten die Beschäftigten im Einzelhandel auf eine Erhöhung ihrer Einkommen. Ihre Lohn- und Gehaltstarifverträge sind in der Regel Ende April 2007 ausgelaufen. Bereits in den Sommermonaten hatten sich Tausende von Beschäftigten in den einzelnen Landesbezirken an 1-2-tägigen Streiks beteiligt – ohne erkennbare Auswirkungen auf die Verhandlungsbereitschaft der Arbeitgeber. Nachdem die Arbeitgeber nun auch noch von den KollegInnen verlangen, die Zeche für das nicht von ihnen, sondern politisch zu verantwortende Ladenschlussgesetz zu zahlen, reicht es den KollegInnen. Statt in den Laden gegen sie nun auf die Straße – auch gegen die Folgen des Ladenschlussgesetzes.

Worum geht es im Einzelhandel? Die Tarifverträge für die 2,6 Millionen Beschäftigten werden in den einzelnen Bundesländern ausgehandelt. Sie werden zwar bundesweit von ver.di wie auch von den Arbeitgebern koordiniert, aber es bestand bislang eine gewisse Selbstständigkeit. Jetzt sprechen sich die Arbeitgeber auf Bundesebene verbindlicher ab und machen damit die Durchsetzung von berechtigten Forderungen der Beschäftigten schwerer: Bei den Verhandlungen auf den Landesebenen wurden bspw. überhaupt keine Angebote mehr unterbreitet – selbst für landesspezifische Forderungen wie die Abschaffung von Ortszuschlägen in Bayern oder die Beseitigung der unterschiedlichen Bezahlungen in Ost und West. Zugleich wurden in allen Bundesländern die Manteltarifverträge und die Sonderzahlungstarifverträge (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) gekündigt, ohne darüber in Verhandlungen einzutreten.

Tarifforderungen von ver.di

Die Tarifkommissionen in den einzelnen Landesbezirken hatten im Frühjahr dieses Jahres eine Anhebung der Gehälter und Löhne zwischen 4,5 und 6,5 Prozent gefordert. Weitere Forderungen sind ein Mindesteinkommen von 1500 Euro bei Vollzeitbeschäftigung, ein Sicherheitstarifvertrag mit Mindestbesetzungsregelungen und eine bessere tarifliche Regelung für planbare Arbeitszeiten durch die Beschäftigten. Auch sollen unterschiedliche Bezahlungen zwischen Ost und West sowie die Bezahlung nach Ortsklassen endlich abgeschafft werden.

In den Tarifverhandlungen der einzelnen Länder wiesen die Arbeitgeber diese Forderungen zurück: Die Erhöhung der Gehälter und Löhne lehnten sie ab, und zu den weiteren Forderungen zeigten sie keine Verhandlungsbereitschaft.

Arbeitgeberforderungen

Stattdessen forderten sie die Abschaffung der bisherigen Zuschläge von 20 Prozent, die für Tätigkeiten am Abend von 18.30 Uhr bis 20 Uhr und an Samstagen von 15 Uhr bis 20 Uhr gezahlt werden. Der Nachtarbeitszuschlag, der ab 20 Uhr gezahlt wird, soll von 50 Prozent auf 20 Prozent abgesenkt und künftig erst ab 22 Uhr bezahlt werden.

Da die Zuschläge in Freizeit abgegolten werden, würden die Streichungen und Kürzungen eine unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeiten von bis zu zwölf Tagen im Jahr bedeuten. In Geld umgerechnet heißt das: Verzicht auf monatlich 150 bis 180 Euro.

Im Pilotbezirk NRW wurde in der vierten Verhandlungsrunde am 31. August endlich ein erstes Angebot seitens der Arbeitgeber vorgelegt. Danach sollten die Gehälter und Löhne ab 1. Oktober 2007 um 1,7 Prozent angehoben werden und irgendwann im nächsten Jahr um weitere 1,5 Prozent. Bei fünf Nullmonaten bedeutet das Angebot aufs Jahr gerechnet eine Erhöhung um 0,99 Prozent. Dieses Angebot gilt aber nur, so die Arbeitgeber, wenn die Spätöffnungszuschläge gestrichen werden und der Nachtarbeitszuschlag erheblich gekürzt wird.

Und? Geht doch! Mehr Streik möglich...

Die ver.di-Tarifkommission hat dieses Angebot und die Forderungen der Arbeitgeber als Frechheit zurückgewiesen und beschlossen, dass nun verstärkt gestreikt werden müsse, damit die Arbeitgeber endlich ein seriöses Angebot vorlegen. Unterdessen wachsen Ärger und Wut der Beschäftigten im Einzelhandel: Im Oktober haben in zahlreichen Landesbezirken Beschäftigte nicht nur einen, sondern drei bis vier Tage gestreikt. Die Arbeitskämpfe sollen weiter ausgeweitet werden. Die steigende Empörung der Beschäftigten richtet sich dabei nicht nur gegen die fehlende Erhöhung ihrer Einkommen, sondern insbesondere gegen das Vorhaben der Arbeitgeber, die Zuschläge für ungünstige Arbeitszeiten streichen zu wollen. Es ist offensichtlich, dass damit die Beschäftigten die entstehenden Mehrkosten der Unternehmen wegen der Spätöffnungszeiten finanzieren sollen. Weil damit für sie die Grenze der Zumutungen erreicht ist, gehen sie auf die Straße statt in den Laden.

... selbst bei Schlecker

Am 27. Juli 2007 waren 450 Beschäftigte von Schlecker aus 250 Filialen in NRW dem Streikaufruf der Gewerkschaft ver.di gefolgt und streikten an ein bis zwei Tagen. Am 17. Oktober 2007 waren es schon 550 Beschäftigte, und sie streikten bis zu vier Tage. Das macht deutlich, dass sich die Beschäftigten von Schlecker für ihre eigenen Interessen einsetzen, obwohl oder weil sie besonders miese Arbeitsbedingungen haben. Gerade der Streik der – überwiegend weiblichen – Schlecker-Beschäftigten motiviert und zeigt, dass selbst unter schlechtesten Rahmenbedingungen Arbeitskämpfe möglich sind.

Angefangen hat diese Entwicklung bei Schlecker in den Jahren 1994/95 bei der damaligen Gewerkschaft hbv in Mannheim (siehe Anzeige rechts oben). Schlecker-Beschäftigte ließen ihr Einkommen überprüfen, und es wurde festgestellt, dass die Gehälter zwischen 335 und 900 DM pro Monat unter dem Tarifvertrag lagen. Doch das war nicht der einzige Skandal. Das so genannte »Schleckersystem« beinhaltete ein System zur Überwachung und Schikane: Ständig wurde Druck auf die Beschäftigten ausgeübt, die oft viele Stunden oder ganze Tage alleine in der Filiale arbeiteten. Mobbing und Missachtung der Menschenwürde standen auf dem Programm des Schlecker-Managements. Durch eine Kampagne, die sich über viele Monate hinzog, und mit Hilfe eines sozialen Netzwerkes gelang es, dass Frau und Herr Schlecker vom Gericht verurteilt wurden und Nachzahlungen leisten mussten. Schließlich konnte ein Tarifvertrag zur Bildung von Betriebsräten abgeschlossen werden. Heute gibt es 111 Betriebsratsorgane, die ca. 15000 Beschäftigte vertreten. Sie haben in den letzten Jahren viel erreicht – trotz anhaltender Behinderungen der Betriebsratsarbeit.

Streik gegen »die Politik«

Die Streikenden nicht nur bei Schlecker haben aber auch Wut gegenüber der Politik, die durch die völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten maßgeblich zu dieser Situation beigetragen hat. In Sonntagsreden und Talkshows sprechen Politikerinnen und Politiker gerne über die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Sie appellieren an die Eltern, Kinder und Jugendliche nicht alleine zu lassen, sondern sie zu betreuen und zu erziehen. Doch wie, wenn die Betroffenen, überwiegend Frauen, an den Abenden und an Samstagen im Laden stehen? Jahrelang hatten FDP und CDU/CSU das Ladenschlussgesetz mit den bis dahin bestehenden Schutzregelungen für die Beschäftigten bekämpft. Ohne Not gaben Sozialdemokraten und Grüne in ihrer Regierungszeit das bundeseinheitliche Schutzgesetz auf und delegierten den Ladenschluss vom Bund auf die Länder, wohlwissend, dass damit eine völlige Freigabe der Öffnungszeiten erfolgen würde. Die gleichen PolitikerInnen ermöglichten unter dem heuchlerischen Begriff der Liberalisierung des Arbeitsmarktes die unbegrenzte Leiharbeit und die Vermehrung von befristeten Arbeitsverhältnissen. Die Folgen sind Lohndrückerei und unterschiedliche Entlohnung in den Betrieben bzw. Unternehmen. Die SPD-Führung hat zwar jetzt die Forderungen der Gewerkschaften und der Partei »Die Linke« zum Mindestlohn aufgegriffen. Damit kann sie ggf. eine geringfügige Korrektur der Fehler ihrer Politik vornehmen, doch glaubwürdiger wird sie deshalb nicht mehr.

*Harold Henke war hbv/ver.di-Sekretär, zuletzt in Mönchengladbach, und arbeitet im Ruhestand ehrenamtlich für verschiedene Publikationen von ver.di.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10-11/07


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