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Updated: 18.12.2012 15:51
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An den Grenzen des Tarifvertrags

Gespräch mit Werner Sauerborn und Bernd Riexinger

Gelingt es den Gewerkschaften im Rahmen ihrer Tarifpolitik noch, ihr originäres Anliegen umzusetzen, Konkurrenz in Bezug auf die Vermarktungsbedingungen der Arbeitskraft, sei es direkt über die Lohnhöhe oder indirekt über die Arbeitszeit, zu begrenzen? Und um welchen Preis? Hier liegt - nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer möglichen gesetzlichen Regelung von Mindestlöhnen - ein zentraler Problempunkt künftiger gewerkschaftlicher Tarifpolitik. Aus der Vielzahl kritischer Punkte des neuen Tarifvertrags Öffentlicher Dienst haben wir uns deshalb die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe herausgegriffen, um anhand der Situation in den Branchen des Öffentlichen Dienstes genauer zu diskutieren, wo die Grenzen der Tarifpolitik derzeit verlaufen.

Im Rahmen des Tarifvertrags Öffentlicher Dienst wurde eine neue unterste Entgeltgruppe geschaffen, deren Einstiegsgehälter bei 1286 Euro West und 1209 Euro Ost für Ungelernte liegen. Das sind laut Presseberichten rund 300 Euro weniger, als bislang für diese Gruppe gezahlt wurden. Könnt Ihr in etwa beziffern, wie viele Beschäftigte dies betreffen wird?

Das lässt sich noch nicht sagen, weil das nur für neu Einzustellende gilt und auch erst, wenn die Eingruppierungsmerkmale verhandelt sind. Da diese Niedriglohngruppe aber als Lösung von gemeinsamem Interesse verkauft wird, ist zu erwarten, dass das breit angelegt wird und am Ende zig-Tausend überwiegend Frauenarbeitsplätze betreffen kann.

Eva Roth kommentiert in der Frankfurter Rundschau wohlwollend, mit der Einführung der neuen Lohngruppe könnten »Kommunen nun politisch entscheiden, ob sie Kantinen und Reinigungsarbeiten privatisieren oder nicht. Auf vermeintliche oder tatsächliche Sachzwänge zu verweisen, wird schwieriger« (FR, 10. Februar 2005). Ist die neue tarifliche Niedriglohngruppe ein geeignetes Instrument, um Privatisierung zu verhindern? Wie beurteilt Ihr diese tarifpolitische Strategie von ver.di?

Makroökonomisch vertreten wir ja weiter das Argument, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze schafft. Konkret praktizieren wir dann das Gegenteil. Da sollte man wenigstens sagen, dass sich hier die Arbeitgeberseite durchgesetzt hat. Mag sein, dass in der ersten Runde dieser Absenkung Arbeitsplätze im ÖD geschaffen bzw. von privaten Gebäudereinigungs- oder Gartenbaufirmen wieder zurückgeholt werden. Das wird aber den Absenkungsdruck in diesen privaten Branchen erhöhen, und so dreht sich die Dumpingspirale munter weiter. Andererseits muss man selbstkritisch sagen, dass es nicht damit getan ist, den formalen Tarifstandard zu halten, dann aber nicht verhindern zu können, dass sich seit Jahren ein wahrer Exodus aus dem öffentlichen Wirtschaftsbereich in die ungeschützten Niedriglohnbereiche der entsprechenden Privatfirmen abspielt.

Vor rund vier Jahren hatten wir uns im express anhand eines Beitrags zu »Flächentarif und Globalisierung - Nachforschungen zur Krise der Gewerkschaften« ausführlich mit der Frage der Spartentarifverträge im Öffentlichen Dienst befasst (s. express, Nr. 6-7/01 und 8/01). Hier ging es um geeignete Instrumente, um bereits outgesourcte bzw. privatisierte Bereiche wieder mit einem Tarifvertrag einzufangen. Entspricht die Einführung der neuen Niedriglohngruppe der damaligen Logik der Spartentarifverträge? Kann es gelingen, mittels Tarifspreizung Terrain und Mitglieder für die Organisation zurück zu gewinnen, und ist dies gewerkschaftspolitisch sinnvoll?

Der Begriff Spartentarifvertrag ist schillernd und hat einen negativen Bedeutungswandel erfahren. Ursprünglich war damit der Versuch gemeint, die Lohnkonkurrenz zwischen privatem und öffentlichem Bereich durch einen gemeinsamen tariflichen Rahmen einzufangen, nicht mehr gegeneinander ausspielbar zu sein und damit strategisch wieder Boden unter die Füße für eine offensive Tarifpolitik zu bekommen. Inzwischen firmiert jeder Tarifvertrag in einem stattlichen dem Wettbewerb ausgesetzten Bereich, der nichts anderes als Anpassung an die niedrigeren Standards der privaten Konkurrenz ist, als Spartentarifvertrag. Ein solcher Fall ist auch diese Konstruktion von Niedriglohngruppe. Sie hat strategisch keine Perspektive und wird leider langfristig kein Terrain zurückgewinnen.

Vor einem halben Jahr gehörte ver.di neben NGG und IG BAU zu den Gewerkschaften, die sich vehement für eine gesetzliche Regelung bzw. Allgemeinverbindlichkeit des Mindestlohns einsetzten. Frank Bsirske sprach dabei von einem »Mindestlohn auf dem Niveau unserer westlichen Nachbarländer«, Margret Mönig-Raane von »Stundenlöhnen in Höhe von 7,5 Euro«, letzteres entspräche 1200 Euro Monatsverdienst bei einer 40-Stundenwoche. Damit sollte die gewerkschaftliche Schwäche hinsichtlich der Begrenzung einer Lohnsenkungsspirale kompensiert und weiterem Tarifdumping gesetzlich ein Riegel vorgeschoben werden.

Der neue Niedriglohn bei ver.di liegt nun deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn Luxemburgs (1403 Euro) und nur knapp über dem der Niederlande (1265 Euro), Belgiens (1234 Euro) oder selbst dem der »armen« Iren (1213 Euro) - und er liegt nur wenig über dem von ver.di für die BRD angestrebten Niveau. Warum unterläuft ver.di mit dem Abschluss eigene politische Ziele und nicht zuletzt auch Gewerkschaftstagsbeschlüsse? Wie beurteilt Ihr den Abschluss in Bezug auf die Frage möglicher gesetzlicher Mindestlohnregelungen? Und schließlich: Was bringt diese Strategie in Bezug auf die Vermeidung von Konkurrenz in der EU - Stichwort: Deutschland als neues Billiglohnland?

Die Dumpingspirale im öffentlichen und privaten Dienstleistungsbereich ist wohl auch eine vorwegnehmende Anpassung an das, was mit Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsrichtlinie in Europa auf uns zurollt. Wenn es gelänge, hier mit gesetzlichen Mindestlohnregelungen Untergrenzen zu fixieren, würde das natürlich den Dumpingdruck abmildern. Die Frage ist nur, woher der Druck zur Durchsetzung eines angemessenen Mindestlohns kommen soll. Er müsste doch letztlich von denselben Gewerkschaften kommen, die es gerade nicht schaffen, mit ihrer Tarifpolitik das Abrutschen nach unten zu verhindern. Wenn die derzeitige Gewerkschaftspolitik seit Jahren immer nur in die Alternative zwischen zwei verschiedenen Formen der Niederlage führt, wäre es an der Zeit, sich sehr grundsätzlich mit der sehr grundsätzlichen Krise der Gewerkschaften zu befassen! Ausgangspunkt dabei müssten die veränderten Konkurrenzbedingungen auf den Arbeitsmärkten sein. Auf die Frage bezogen: um gegen Privatisierungs- und Niedriglohndruck wieder in die Vorhand zu kommen, ist eine offensive, von vornherein mindestens europäisch anzulegende Mindestlohnstrategie erforderlich, d.h. gemeinsame Forderung, gemeinsame Mobilisierung.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/05


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