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Updated: 18.12.2012 15:51
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Aufbruch? Wohin?

Stephan Krull zum IG Metall-Gewerkschaftstag

»Wozu noch Gewerkschaften?«, fragt Oskar Negt in einer Streitschrift. [1] »Angesichts der täglichen Angriffe auf soziale Errungenschaften sind die Gewerkschaften als wirkliche Kampforganisationen für die arbeitenden Menschen notwendiger denn je«, antworteten Mitglieder per Flugblatt vor dem Kongress in Leipzig. Waren die Tage vom 4.-10. November ein Aufbruch? Und wohin? Das Selbstbild der IG Metall ist Stärke und Harmonie. Die Vorstandswahlen liefen über die Bühne, inhaltliche Konflikte wurden selten angesprochen. Mit Kongress-Regie und den Delegierten hat das zu tun, durchschnittlich 48 Jahre alt, zu 75 Prozent männlich, 20 Prozent Angestellte der IG Metall, eine arbeitslose Delegierte. Selten spürte man, dass Delegierte eine Basis vertraten, die das neue Führungsduo Huber/Wetzel so nicht dachten. Wenn Hans Köbrich aus Berlin, Udo Meyer aus Peine, Uli Hellmann aus Wolfsburg oder bekannte Linke wie Otto König, Klaus Ernst redeten, waren Kritik, Probleme und Widersprüche zu hören, die bei der Führung jedoch ohne Resonanz blieben. Also wurde über Fehler nicht gesprochen, auch nicht über den Riss, der angesichts der VW-Privatisierung durch die IG Metall geht. Unternehmer bringen Betriebsräte gegeneinander in Stellung; das überrascht nicht. Überraschend ist, dass Gewerkschaftsvertreter in Aufsichtsräten das nicht verhindern, obwohl sie es doch könnten. Der Vermeidung jeglicher Fehlerdebatte ist auch geschuldet, dass über das ehemalige Vorstandsmitglied Volkert, angeklagter Ex-Betriebsrat von VW, kein Wort verloren wurde, im Gegensatz zu den Lobhudeleien, die es für ihn und Hartz bis 5 nach 12 gab. Gewerkschaften müssen der Korrumpierung der Solidarität laut widersprechen, sonst untergraben sie ihre Grundlage. Fehler nicht aufzuarbeiten bedeutet, daraus nicht zu lernen. Der Abschluss von Pforzheim, die Verbetrieblichung der Tarifpolitik wurden zwar kritisiert, mehrheitlich jedoch als unumkehrbar hingenommen und von hauptamtlichen Delegierten wie Heinz Pfeffer gelobt. Solidarität mit den streikenden Lokführern unterblieb. Zum demonstrierten Selbstbewusstsein gehört, dass die Mitgliederentwicklung – minus zehn Prozent in vier Jahren – beschönigt, die Überalterung und Vermännlichung nicht thematisiert wurden.

Es gab die Chance, die IG Metall offener für Menschen zu machen, die hohe Ansprüche an demokratische Teilhabe stellen. Diesbezügliche Satzungsanträge wurden jedoch abgelehnt: Es wurde keine Quote für die Jugend beschlossen, dem Erwerbslosenausschuss wurde kein Antragsrecht eingeräumt. Die Bezirksleiter, zuständig u.a. für Tarifverhandlungen, werden weiter vom Vorstand eingesetzt statt gewählt. Der Raum für Debatten war klein, für Repräsentation und Schaufensterreden groß. Auf Unverständnis stieß, dass der Vorsitzende erst nach der Wahl sein »Zukunftsreferat« hielt, zu dem es keine separate Debatte gab. Die Rede war voller Stakkato-Stehsätze: »Die IG Metall ist und bleibt die Gewerkschaft für alle! Um diesen Anspruch verwirklichen zu können, brauchen wir Mut zur Vielfalt! Dann erhalten wir die Kraft zur Einheit!«

Es ist zu reden, worüber Huber nicht geredet hat: Ohne die Kriege zu nennen, an denen Deutschland mit den USA beteiligt ist, kritisierte er »ungebremsten Kapitalismus« und prognostizierte »Kriege und fragile Nationalstaaten« – wiederum ohne zu erläutern, was er sich statt »fragiler Nationalstaaten« wünscht. Es war die Chance vertan, die IG Metall als Teil der Bewegung für Frieden zu verankern.

Bezogen auf Neonazis und deren antidemokratische Hetze forderte Huber »Null Toleranz«, zu Schäubles antidemokratisch-hysterischem Amoklauf äußerte er sich nicht.

Die Einheitsgewerkschaft brachte er, Bezug nehmend auf Otto Brenner, problemlos mit der SPD in Verbindung. Die Veränderungen im parlamentarischen Raum durch die Gründung der Linkspartei und die diesbezüglichen Wurzeln wurden ignoriert, erweiterte Möglichkeiten nicht ausgelotet.

Kurz redete Huber über internationale Gewerkschaftsarbeit: Die Globalisierung und daraus entstandene Anforderungen seien Standortprobleme, die Vernutzung des Planeten, von Mensch und Natur durch die Multis wurde angetippt. Ausführlicher als das Bemühen um Einhaltung internationalen Rechts (Koalitionsfreiheit, Tariffreiheit, Verbot von Kinderarbeit) durch Rahmenabkommen mit den Multis wurde Europa als Binnenmarkt behandelt, in dem gleiche Bedingungen hergestellt werden sollen. Europäische Metall-Gewerk-schaften haben über fünfzehn Jahre gebraucht, um schließlich doch keine koordinierte Tarifpolitik zu schaffen. Von Leipzig ging kein Signal aus, diese Agonie zu überwinden – der erste Verstoß gegen die Regel (kein Tarifabschluss unterhalb von Produktivitätssteigerung und Inflationsrate) kam bereits in den 1990er Jahren von der IG Metall.

Gewerkschaftsjugend und gewerkschaftliche Bildungsarbeit waren für Huber nicht der Rede wert. Ein Zukunftsreferat, in dem nicht viel Zukunft steckte.

Die kapitalistische Krise ist beschreibbar als Überakkumulation, als Unterkonsumtion, als ökologische Krise, als sozialer Absturz großer Teile der Bevölkerung etc. Der Gewerkschaftstag hätte Antworten auf Ursachen und Wirkungen diskutieren müssen. Gelegenheit dazu bot sich z.B., als Beschäftigte der bedrohten Karmann-Werke um Solidarität baten. Keine Rede bei Huber von Marktsättigung, von unnützen und ökologisch nicht vertretbaren Produkten, von endlichen fossilen Energieressourcen, von Alternativen zur bisherigen Produktionsweise, kein Wort zur Arbeitszeitverkürzung oder sozialem Aufstand gegen die Kahlschlagpolitik der Unternehmer, auch von Umsteuern keine Rede. Nur ein Appell an Autoindustrie und Betriebsräte: »Auch wenn wir allein nicht entscheiden können, ob Derivate oder andere Produktionsmöglichkeiten nach Osnabrück und Rheine gebracht werden können, müssen wir die Aufforderung an unsere Autohersteller sehr ernst nehmen, alles zu tun, damit Karmann nicht stirbt. (...) Es ist für den Industriestandort Deutschland und für die IG Metall wichtig, dass wir darauf achten und uns sorgen und dafür streiten, dass diese Qualifikationen nicht kaputt gehen.«

Aufstoßend die Erklärung zur Arbeitszeit. Applaus für die Feststellung, es bedürfe einer neuen Arbeitszeitdebatte; danach die kalte Dusche, indem die Defensive zum Programm wird: »Wir können die Arbeitszeitfrage heute nur mit differenzierten Antworten lösen. Weil die Menschen in ihren Arbeitssituationen und Bedürfnissen nun mal unterschiedlich sind!« Als sei dies neu, reklamierte Huber eine »ehrliche Debatte«, ausgehend von einer realen Arbeitszeit von 39 Stunden. Individuelle und differenzierte Arbeitszeiten sind seit je das Argument der Arbeitgeber gegen kürzere Arbeitszeiten. Auch Angestellte, Konstrukteurinnen, Forscherinnen unterliegen schärfster Rationalisierung. Egal, wie individuell differenziert die jeweilige Arbeitszeit ist, sie muss insgesamt kürzer werden, damit mehr Menschen an Erwerbsarbeit beteiligt sind, mehr Zeit für Reproduktion, für demokratische und kulturelle Teilhabe, für Bildung möglich ist. Durch radikale Arbeitszeitverkürzung kann der Widerspruch aufgehoben werden, dass einerseits Menschen an Arbeitsüberlastung erkranken, während andere an Erwerbslosigkeit und Existenzangst verzweifeln. Das Argument zur Differenzierung ist darüber hinaus unglaubwürdig, weil, wie Witich Rossmann und andere kritisierten, die Angestellten im Geschäftsbericht so wenig eine Rolle spielten wie etwa Studierende.

Eine verpasste Chance war auch die Debatte zum Streikrecht. So wurde zwar abermals die Abschaffung des Artikel 146 SGB III (alt § 116 AfG) [2]von Huber gefordert, doch das ist weder neu noch offensiv. Dagegen wurden Argumentationen, die darauf zielten, das politische Streikrecht durchzusetzen, um z.B. in existenziellen Fragen wie Lebensarbeitszeit oder Sozialpflichtigkeit des Eigentums handlungsfähig zu werden, ignoriert. In diesen Zusammenhang würde auch eine kritische Debatte über die Rolle Deutschlands in der EU sowie die ständige Einschränkung des Streikrechtes gehören. Dafür, Letzteres zum Konflikt zu erklären, gäbe es – nach der notwendigen Kampagnenarbeit – durchaus eine Mehrheit in der Bevölkerung, genauso, wie es diese gibt gegen die Rente mit 67 und für den Lokführerstreik. Wir können uns für das politische Streikrecht auf das Grundgesetz, auf unsere Geschichte und die ILO-Konventionen berufen und so in die Offensive kommen. Mit Verweis auf EU-Verfassung und EU-Sozialcharta – die eine nicht in Kraft, die andere nicht einklagbar – wurden die Anträge abgelehnt und die Debatte beendet. Den politischen Anspruch formulierte u.a. Emanuel Pantelakis aus Neuss: »Wir haben die gleiche Zukunft. Gerechtigkeit für die Armen dieser Welt. Dafür müssen wir doch kämpfen. Da kann ich nicht wie Zwickel sagen: ›Nein, die CGT in Frankreich und die Gewerkschafter in Italien sind mir zu links. Wenn die gemäßigter wären, hätte ich mit denen zusammengearbeitet. Dann hätten wir die Globalisierung ein bisschen gebremst. Oder wir hätten dafür gesorgt, dass die Globalisierung auch den Menschen gut tut – und nicht bloß dem Kapital.‹ Nein, die waren dem zu links. ... Das reicht heute nicht. Wir müssen kämpfen.«

Ein schlagendes Argument in gewerkschaftlichen Debatten ist das »ungünstige Kräfteverhältnis«, als sei es unabhängig von uns. Abschlüsse wie Pforzheim, Daimler, Siemens, Opel und VW zeigen in Richtung Stand-ort und Korporatismus; sie tragen zum »ungünstigen Kräfteverhältnis« bei. Als handelnde Subjekte sind wir nicht Opfer der Verhältnisse, wir gestalten sie mit und sind – um das Gegenwort zu benutzen – auch Täter. Gewerkschaften haben mit Unternehmen vereinbart, dass es für gleiche Tätigkeit geringere Entlohnung bei längerer Arbeitszeit gibt. Wir können uns der daraus erwachsenden Konkurrenz, den betrieblichen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen nicht entziehen. Konkurrenz ist das Gegenteil von Solidarität. Wenn die Einheitsgewerkschaft in Deutschland in Frage gestellt wird, dann wegen solch ausgrenzender Politik; Geschlossenheit kann auch Exklusion bedeuten.

Einheitsgewerkschaft muss sozial und politisch gelebt werden, sonst verkommt sie zur leeren Hülle. Der Beschluss, die Leiharbeiter künftig nicht mehr schlechter zu stellen, geht hier in die richtige Richtung. Doch es bleibt die Frage nach Alternativen zu Kostensenkung, Arbeitszeitverlängerung und Personalabbau. Die welt- und betriebswirtschaftlichen Prämissen (Maximalprofit, Konkurrenz, Überkapazitäten) lassen sich auf absehbare Zeit nicht umkehren. Die Alternative zu Arbeitszeitverlängerung und Personalabbau bei rasant steigernder Produktivität ist, Erwerbsarbeitszeit zu verkürzen und gerecht zu verteilen. Dafür müssen wir den betriebswirtschaftlichen Rahmen verlassen, eine konkrete Utopie, eine Kampagne z.B. für die 30-Stun-den-Woche mit diversen Arbeitszeitmodellen entwickeln. Konfliktbereit zu sein, die vielen betrieblichen Aktionen zu bündeln, das ist keine Aufgabe eines Teiles der Gewerkschaft, sondern von Gewerkschaften insgesamt und ihren Bündnispartnern. Durch Kampagnen und Aktionen könnten viele dafür gewonnen werden, das abnehmende Volumen an Erwerbsarbeit fair zu teilen. Stattdessen wird derzeit in vielen Betrieben die Arbeitszeit verlängert – bei gleichzeitiger Reallohnsenkung und etwas späterer Betriebsschließung. Nicht zuletzt infolge der allgegenwärtigen neoliberalen Gehirnwäsche schlucken Beschäftigte den ökonomischen und sozialen Selbstmord als Schicksal, hoffend, dass sie als letzte erwischt werden oder im Lotto gewinnen. Insofern geht es auch darum, täglich aufs Neue die neoliberalen Argumente zu widerlegen. Erforderlich ist ein Denken ohne Geländer, Nach- und Vor-Denken über Alternativen ist für Gewerkschaften und Wissenschaft eine lohnende Herausforderung. Es bleibt aktuell, über andere Produkte, Produktionsweise und Produktionsverhältnisse zu beraten und dafür zu kämpfen.

In der IG Metall gibt es, trotz Leipziger Harmonie, unterschiedliche Positionen. Drei Aktionen wurden beschlossen: Das Projekt »Gute Arbeit« wird weiter geführt, die Aktionen gegen die Rente mit 67 sollen in einer Kampagne zur Verlängerung der Altersteilzeit münden, und Leiharbeiter sollen mit Stammbelegschaften gleichgestellt werden.

Ein Aufbruch gegen neoliberale Hegemonie und eine Mobilisierung für grundlegende Reformen ist das nicht – aber beides ist als Möglichkeit erhalten.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/07


(1) Oskar Negt: »Wozu noch Gewerkschaften?«, Steidl-Verlag, Göttingen 2005

(2) Dieser Artikel regelt den Bezug von Arbeitslosengeld bei Arbeitskämpfen: Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 1986 wird indirekt von einem Arbeitskampf betroffenen ArbeitnehmerInnen bei »kalten Aussperrungen« kein Kurzarbeitergeld mehr gezahlt.


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