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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Ein Schatz von Erfahrungen Zwischen Inseln im Kapitalismus und Wortergreifungen – ein Tagungsbericht »Der Kampf um die Betriebe. Voraussetzungen, Beispiele, Erfahrungen – 1968 bis 2008«, so der Titel einer Tagung, zu der ver.di Rhein-Neckar zusammen mit AFP/express vom 25.–27. April 2008 nach Gladenbach in die dortige ver.di-Bildungsstätte eingeladen hatten. Der Frage »Wenn das Kapital nicht mehr will oder kann, was dann?« gingen rund 50 TeilnehmerInnen nach – und ließen sich von den vielfältigen historischen und aktuellen Antworten auf diese Frage überraschen und anregen. Über die Tagung und einige der daraus entstandenen Ideen berichten Mihai Balan und Kirsten Huckenbeck. Die Tagung hatte sich zum Ziel gesetzt, auf Bedingungen und Erfahrungen des Arbeitskampfes, zunächst in der Form des Abwehrkampfes gegen Betriebsschließungen, einzugehen. Das aus solchen alltäglichen Abwehrkämpfen unter Umständen hervor- und mit den »Risiken und Nebenwirkungen« des Aufmüpfigseins einhergehende Neue (Selbstbewusstsein der Produzierenden, Perspektiven auf (Re-)Produktion im gesellschaftlichen Maßstab, selbstbestimmte Produktion in und um Genossenschaften etc.) sollte bei der Tagung ein wenig näher unter die Lupe genommen werden. Der weite Bogen sollte dabei entgegen zeitgenössischem Projektionismus und/oder Verdrängungswahn – gerade auch in Bezug auf ‘68 – Vergessenes wieder lebendig machen und für eine sozialgeschichtlich gesättigte Diskussion sorgen. Gerade vor dem Hintergrund der heutigen Situation, in der es den Gewerkschaften immer weniger gelingt, ihr altes Erbe (z.B. die Durchsetzung von Flächentarifverträgen) erfolgreich anzutreten [1], stellt sich die Frage nach der Kampffähigkeit von Belegschaften unter neuen Voraussetzungen umso vehementer. Das Interesse daran hat Veranstalter wie Teilnehmer zusammen kommen lassen – und für ein anregendes und ermunterndes Seminar in freundlicher Atmosphäre gesorgt. [2] Mondragón: Modellprojekt auf Expansionskurs Los ging es dann auch am frühen Freitagabend mit der Vorführung des Filmes »Jobmaschine Mondragón«, einer Arte-Dokumentation des Filmemachers Roberto Sanchez, der anschließend für ergänzende wie vertiefende Fragen zur Verfügung stand. Der Film behandelte die Struktur der seit 1956 bestehenden Mondragón-Kooperative [3], einem Zusammenschluss von 250 Unternehmen und Einrichtungen mit Hauptsitz im Baskenland. In Folge der Expansion im In- und vor allem Ausland sind von den weltweit mittlerweile rund 83000 Beschäftigten nicht mehr alle, sondern nur noch etwas mehr als die Hälfte Genossenschafter. Für alle aber gilt, dass es keine Entlassungen gibt. Zu dem Mischkonzern gehören z.B. eine Aluminium-Schmelze, ein Finanz- und ein Haushaltsgeräteunternehmen, Autozulieferer, Bauunternehmen, die drittgrößte Einzelhandelskette Spaniens und nicht zuletzt eine Universität. In der Diskussion ging es besonders um zwei Themen: die spezifischen historischen Voraussetzungen der Kooperative und das Streikverbot für die Belegschaft. Bezüglich der Voraussetzungen erklärte Sanchez, dass die Basken einerseits von einem ausgebildeten Feudalismus verschont worden seien und deshalb auf tradierte Formen kollektiver Produktion zurückgreifen konnten, andererseits aber auch keine ausgeprägten Formen eines radikalen bürgerlichen Individualismus entwickelt hätten. Diese und weitere Bedingungen, wie etwa der forcierte Zusammenhalt gegen die Francodiktatur und die anarcho-syndikalistischen Traditionen begünstigten die Herausbildung von Kooperativen. Sanchez sprach deshalb auch von einem »originären Projekt einer Klassenidentität«. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde dann auch darüber debattiert, was für eine Identität denn dort genau ausgeprägt und wie etwa mit Widersprüchen in der und rund um die Kooperative umgegangen werde. Dabei drängte die Diskussion immer mehr zum Kern des Zwitterwesens, das Marx im »Kapital« als die fortschrittlichste Form der Arbeitsorganisation innerhalb des Kapitalismus bezeichnet hat: Wie weit reicht die Anpassung einer Kooperative an ein normales Unternehmen? Und: Wie ist das Verhältnis von Genossenschaftern zu den (bloß) Angestellten, also denen, die keine Genossenschaftsanteile haben, innerhalb der Kooperative einzuschätzen? Wie wird darüber hinaus mit Autorität innerhalb der Kooperative umgegangen? Hier spielt auch das zweite Thema mit hinein: Wie wirkt sich das generelle Streikverbot, das in der Gründungszeit unter der Franco-Diktatur für alle Genossenschaften verhängt, aber auch später nicht aufgehoben wurde, auf die Beziehungen der Kollegen untereinander aus? Zumindest aus der Sicht der Angestellten sollte es, wie TeilnehmerInnen einwandten, doch ein gewisses Interesse an diesem Recht geben. Dazu berichtete Sanchez, dass die Generalversammlung der Kooperative sich kürzlich entschlossen habe, wo immer dies in den Auslandsproduktionsstätten rechtlich möglich ist, ›nur‹ Angestellten ebenfalls den Status von GenossenschafterInnen zu ermöglichen. Und: gegen wen sollten diese Eigentümer ihrer eigenen Produktionsmittel streiken? Formell haben alle Genossenschafter die gleichen demokratischen Rechte, auch wenn es mittlerweile Differenzierungen im ehemaligen Einheitslohn gibt. Ob gemeinsame Werte oder formal gleiche Rechte: Entscheidend sei hier, wie eine IKEA-Betriebsrätin vor dem Hintergrund eigener leidvoller Erfahrung in einem »werteorientierten« Unternehmen bemerkte, die Offenheit für Kritik an Missständen im eigenen Unternehmen und die Möglichkeit, dieser Kritik auch eine Stimme geben zu können. Ohne Zweifel, das zeigte sich in der Diskussion über das Beispiel Mondragón, sind Kooperativen historische Projekte, d.h. sie haben einen Zeitkern und beruhen auf handfesten Bedingungen. Insofern lassen sich die jeweiligen Erfahrungen nicht einfach als Blaupause übertragen. Gleichwohl handelt es sich um Projekte, in denen auch bestimmte Bewusstseinsprozesse in Gang gesetzt werden können, die eine andere Welt als möglich erscheinen lassen. Es wird für die Zukunft sicherlich spannend sein, zu verfolgen, wie und wohin sich die Kooperative unter dem globalisierten Konkurrenzdruck entwickelt. Aktuell stellt sich die Frage nach dem Druck, unter dem, so eine Teilnehmerin, diese »Inseln im Kapitalismus« stehen, im Zusammenhang mit der im Film erwähnten Verlagerung der Autoteile-Produktion nach China, die zu einem Bruch mit dem Prinzip einer relativ egalitären Lohnstruktur führte. Dagegen verwies Sanchez auf den geplanten Aufkauf einer weiteren Einzelhandelskette, der dazu führen werde, dass deren rund 35000 Beschäftigte als neue Genossenschafter das »gallische Dorf« Mondragón erweitern würden. Und wer weiß, vielleicht ist diese Expansion ja auch ein Anknüpfungspunkt, wenn demnächst aufgrund der Konzentrationsprozesse in den großen Handelsketten hierzulande massenhafte Schließungen von Kaufhäusern anstehen? Vom »Strike Bike« zum Dienstfahrzeug der ver.di-Zentrale? Im Anschluss an die heiß geführte Debatte um die Mondragón-Kooperative begab man sich planmäßig in den kühleren Norden, genauer: nach Nordhausen/Thüringen, zum Geburtsort des Strike Bike. [4] Den Eindruck, dass der letzte Winter die Belegschaft nicht wirklich kalt gelassen haben konnte, vermittelte der Film »Strike Bike. Eine Belegschaft wird rebellisch« [5], der die Geschehnisse bei Bike Systems Revue passieren ließ. Jens Müller, einer der wenigen Arbeiter, der mit 20 weiteren (von ehemals 126) KollegInnen nun den Nachfolger des Strike Bikes in Eigenregie produziert, stand den neugierigen TeilnehmerInnen und ihren Fragen im Seminar zur Disposition. Ein Diskussionsstrang, auf den hier eingegangen werden soll, bewegte sich entlang der Frage nach den (Un-)Möglichkeiten einer genossenschaftlichen Organisation in Deutschland. Genossenschaften hätten in dieser Branche einen schweren Stand, wie Jens Müller berichtete. Zulieferer wie Käufer hätten beim Handel mit Kooperativen aus »Sicherheitsgründen« doppelte Preise verlangt, so dass die ArbeiterInnen sich dazu entschlossen hätten, ihre Produktion in Form einer GmbH zu organisieren und weiterzuführen. Ob es nach dem selbst gesetzten Ziel eines Verkaufes von mindestens 20000 Strike Bikes pro Jahr noch eine Zukunft für dieses Modell geben wird, ist zur Zeit unklar. Trotz der für die Räder veranschlagten günstigen Preise scheint es fragwürdig, ob sich das Modell eines solidarischen Vertriebsnetzes wird halten können – gibt es doch auch hier wie andernorts die harte Marke, die vom Portemonnaie des jeweiligen Solidarisierten vorgegeben wird. Es muss sich also zeigen, ob die Äußerung eines der Protagonisten des Films: »Solidarisch war’s extrem hier«, nur für die Vergangenheit oder auch für die Zukunft gilt. Eine Idee zur Konkretisierung praktischer Solidarität, die aus dem Seminar heraus entstand, war der Vorschlag, die Bildungsstätten der Gewerkschaften zu nutzen, um dort – mit einem Fahrrad vor Ort – Werbung unter den SeminarteilnehmerInnen zu machen. Ein anderer Vorschlag war, Strike Bikes als Dienstfahrräder in der ver.di-Zentrale einzuführen – doch wieso eigentlich nicht in allen Gewerkschaftsbüros? Der Phantasie schienen hier jedenfalls keine Grenzen gesetzt. Alstom: »den Betrieb leiten, ohne ihn zu besetzen« Am Samstag kreiste die Diskussion im Anschluss an die Darstellung der Entwicklungen bei Alstom Mannheim zunächst um kreative Formen des dortigen Arbeitskampfes [6] und die daraus gewonnenen Erfahrungen. Der Stein des Anstoßes, der den insgesamt neunmonatigen Arbeitskampf des Jahres 2005/06 erneut ins Rollen brachte, war bei der Alstom-Belegschaft die erneute Drohung mit Arbeitsplatzabbau und Lohnsenkungen. Nach vorangegangen Runden des Personalabbaus und fast zweieinhalb Jahren Kurzarbeit habe das Management von den verbliebenen 1850 Beschäftigten eine weitere Reduktion auf 1100 gefordert, so berichtete der BR- und Eurobetriebsratsvorsitzende Udo Belz, der die wechselvolle Geschichte des Werks seit fast 40 Jahren als Arbeiter erlebt. Zu dem Gefühl der Not in der Belegschaft gesellte sich jedoch auch eine berechtigte Wut auf das Missmanagement der Manager, die aus fehlender Sachkompetenz heraus schon genug falsche Entscheidungen getroffen haben. Das Facharbeiterbewusstsein der Kraftwerksbauer – davon zwei Drittel Angestellte und ein Drittel Arbeiter – habe rebelliert und dem eingekauften Ex-BMW Manager Eberhard von Koerber seinen Sachverstand abgesprochen. Mit dazu beigetragen hätten auch die vielen Diskussionen auf den Belegschaftsversammlungen, die bis zu sieben Tage am Stück dauerten und Udo Belz zu dem Fazit veranlassten: »Wir haben den Betrieb geleitet, ohne ihn zu besetzen.« Im Verlauf der Kämpfe wurden, so berichtete Belz weiter, auch Fragen nach anderen Möglichkeiten einer selbstbestimmten gesellschaftlichen Produktion, in diesem Falle von Energie, gestellt. Darüber hinaus sei der Diskurs auch zunehmend offener für Fragen nach der Notwendigkeit einer z.T. veralteten und überholten Atomenergie geworden, so dass letztlich auch über vernünftige Formen der Energieherstellung nachgedacht werden konnte. Dazu, so Belz, zähle mit Sicherheit nicht die Privatisierung einer gesellschaftlichen Reproduktionsgrundlage. Wenn man »Böcke zu Gärtnern« mache und die Entscheidung über die gegenwärtig wieder heißer diskutierte Frage der Energieträger – Kohle oder Atom – ausgerechnet der Kohle- und Atomindustrie überlasse, sei klar, was heraus komme. Insofern sei »Kapitalismus an sich Missmanagement«. Unerwartete Dynamiken bei Bosch-Siemens in Berlin Im Anschluss an diese Diskussion ging es weiter mit dem Film »Es geht nicht nur um unsere Haut. Der Streik der Belegschaft des Bosch-Siemens-Hausgerätewerks in Berlin gegen die Schließung« [7]. Auch bei BSH kam die kreative Nutzung des Arbeitskampf-›Instruments‹ Betriebsversammlung für die 618 betroffenen Beschäftigten zum Einsatz. Und auch hier führte die damit verbundene Demokratisierung der Entscheidungsfindung, wie der Schließungsabsicht zu begegnen sei, zu wachsendem Selbstbewusstsein in der Belegschaft, die sich darüber überhaupt erst als Belegschaft fand, und nicht zuletzt dazu, dass über alle Arbeitskampfformen und -ziele in der Belegschaft selbst abgestimmt wurde. In der Diskussion wurden, mitunter auch in Bezug auf Alstom, Grenzen der gewerkschaftlich gestützten und organisierten Arbeitskämpfe versucht auszuloten. Am Beispiel BSH lässt sich unter anderem auch die Notwendigkeit einer erneuten innergewerkschaftlichen Diskussion um Grundsätze wie Demokratie und informationelle Transparenz ablesen. Deutlich wurde dies insbesondere an zwei Punkten: zum einen an dem Konflikt um die Beendigung des Streiks, der knapp über dem satzungsgemäß erforderlichen 25-Prozent-Quorum von Teilen der Belegschaft für beendet erklärt wurde, während die große Mehrheit weiter streiken wollte; zum anderen an dem Problem, dass die gleichzeitig aufgestellten und voneinander abweichenden Sozialtarif- und Sozialplanforderungen in der Belegschaft nicht in voller Konsequenz zu Ende diskutiert worden waren. Gerade das Arbeitskampfmittel »Sozialtarif«, das viele Belegschaften in Abwehrkämpfen, die üblicherweise über Betriebsvereinbarungen zu sozialverträglichem Stellenabbau, Abfindungen, Qualifizierungsmaßnahmen etc. geregelt werden, überhaupt erst streikfähig macht, kann Dynamiken zwischen verhandelndem und der Friedenspflicht unterliegendem Betriebsratsgremium einerseits und streikwilligen Beschäftigten andererseits in Gang setzen, die in besonderem Maß Absprachen, Transparenz und Koordination bedürfen. Gepflegter Arbeitskampf – im Interesse aller Anhand eines weiteren Beispiels für einen erfolgreichen Arbeitskampf, diesmal aus der Dienstleistungsbranche (Pflegeheim Lindenweg/Heidelberg), wurden Möglichkeiten der Einbeziehung von »KonsumentInnen« sowie der Nutzung weiterer »Ressourcen«, wie etwa Medien, Politik und Öffentlichkeit, diskutiert. Von der rund 100-köpfigen Belegschaft des Pflegeheims waren sechs Beschäftigte zum Seminar gekommen. Nur auf den allerersten Blick entsprachen sie dem Image von PflegerInnen, die traditionell nicht eben zu den Großkampftrupps zählen, auch weil sie in einem besonderen Konflikt stehen, wenn sie ›gegen‹ ihre ›KundInnen‹ streiken. Sie wussten zu berichten, wie aus einer Belegschaft, in der noch vor wenigen Jahren nur rund zehn Prozent gewerkschaftlich organisiert waren und für die noch nie Tarifbindung bestand, eine wurde, in der mittlerweile 90 Prozent organisiert sind und die – mit ihren PatientInnen zusammen – alle Register eines phantasievollen Arbeitskampfes gezogen hat. [8] Auch hier bestätigte sich die Regel, dass im Arbeitskampf Erfahrungen gemacht werden, die (nicht nur) für ein Bewusstsein von der Notwendigkeit einer anderen gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, insbesondere im Gesundheitswesen, nötig sind. LIP: »Die Fabrik ist da, wo die Arbeiter sind« Das kleine Highlight des Seminars, das die TeilnehmerInnen trotz eines langen Tags noch bis in die Nacht auf den Stühlen kleben ließ, bildete die Vorführung und anschließende Diskussion des Filmes »LIP, oder die Macht der Phantasie« [9], der retrospektiv die in den 70ern stattgefundene Besetzung des Uhrenwerks in Besançon samt folgender autonomer Produktion, an der sich rund 1100, d.h. fast alle (!) ArbeiterInnen des Werks, beteiligten, wieder aufleben ließ. Neben der Reflexion auf historische Bedingungen der Werksbesetzung (68er, utopischer Sozialismus, »linker« Katholizismus) gingen wir in der Diskussion mit dem »Veteranen« Charles Piaget und dem Filmemacher Christian Rouaud auf die Erfahrungen der Arbeiter ein, die sich bei LIP auch am Widerspruch zwischen positivem Recht und moralischen Empfindungen entwickelten: »Wir haben die Kundenkarteien an uns genommen, damit man sie nicht stehlen konnte«, so rechtfertigte einer der damals Beteiligten mit größter Selbstverständlichkeit das, was man üblicherweise umgekehrt als Verstoß gegen gesetzlich abgesicherte Eigentumsvorstellungen bezeichnen würde. Und dies entsprach offenbar dem Selbstverständnis des Großteils der ArbeiterInnen, wie es der damalige CFDT-Sekretär Vittot formulierte: »Wir sind die Gerechtigkeit, die Logik«. Im Laufe des mehrjährigen Experiments kam es u.a. auch dazu, dass die ArbeiterInnen im wahrsten Sinne des Wortes die Produktionsgrundlagen und -mittel vergesellschafteten, indem sie nach der Eroberung des Werksgeländes durch die Polizei ganz einfach in die Stadt umzogen und dort in Gemeindehäusern, Kirchen oder Ballsälen und anderen Örtlichkeiten weiter produzierten. »Die Fabrik ist da, wo die Arbeiter sind, nicht da, wo ihre Mauern stehen«, kommentierte Charles Piaget, der damalige CFDT-Gewerkschafter, der sich aus Enttäuschung über die Politik seiner Gewerkschaft heute lieber als Aktivist bei AC! (Agir ensemble contre le chômage; gemeinsam gegen Arbeitslosigkeit) betätigt. Wie gefährlich solche Horizonterweiterungen und daraus folgende praktische Ansätze in den Augen der Obrigkeit erscheinen, machte eine Randbemerkung Christian Rouauds in der Diskussion deutlich. Die in dem Film nur angedeutete These Christian Neuschwanders, eines von oben eingesetzten Managers, der die Verhältnisse bei LIP normalisieren sollte, LIP sei »politisch ermordet« worden, habe sich 2003 im Zuge der Recherchen zu dem Film bestätigt. Das Mittel: Entzug sämtlicher öffentlicher Aufträge, um zu verhindern, »dass sich die Seuche LIP ausbreitet«, so referierte Rouaud einen damaligen Ministerialbeamten. Gleichwohl gibt es noch heute drei kleine Ableger des damaligen Werks, von denen zwei als Kooperativen und einer in privatisierter Form weiter geführt werden. Abgerundet wurde das Seminar dann noch durch zwei weitere Vorträge: Pit Wuhrer, Redakteur der genossenschaftlich produzierten Schweizer Wochenzeitung WOZ, packte am Sonntag aus seinem Nähkästchen aus und erzählte die spannende Geschichte der Walisischen Kumpel, die vor 13 Jahren eine sehr erfolgreiche Genossenschaft gründeten und bis Anfang dieses Jahres auch verteidigten konnten – ein Musterbeispiel also in Sachen Selbstorganisation und Widerstand. [10] Zum Schluss berichtete Rechtsanwalt Wolfgang Döther aus Heidelberg den Teilnehmern über den neuesten Stand der Rechtsauslegung im Arbeitsrecht, das einige unverhoffte Potentiale für den Arbeitskampf bereithält. Insbesondere ging er dabei auf die Frage der Sozialtarifverträge ein, die gerade in Abwehrkämpfen gegen Betriebsschließungen, Teilstilllegungen, Outsourcing vielfältige und weit über das Mittel »Interessenausgleich/Sozialplanverhandlungen« hinausgehende Möglichkeiten bieten, zumindest rechtlich streikfähig zu werden. Er referierte am Beispiel der Druckmaschinenfabrik Heidelberger ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24. April 2007, demzufolge Sozialplanverhandlungen gleichzeitige Sozialtarifverhandlungen nicht ausschließen. Rechtlich ausgeschlossen sei lediglich das Ziel der »wirtschaftlichen Existenzvernichtung«. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das BAG explizit dazu Stellung genommen hat, dass die Höhe der Tarifforderungen allein kein Kriterium dafür abgibt, um zu beurteilen, ob ein solches Ziel aus Arbeitgebersicht vorliegt – wenn z.B. als Mittel zur Verhinderung einer Betriebsänderung entsprechend hohe Tarifforderungen gestellt werden. Im Übrigen verneint das BAG eine gerichtliche Kontrolle der Höhe von Tarifforderungen und verweist dabei auf die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie. Insofern scheinen auch hier der Phantasie wenig Grenzen gesetzt. Wie ein vorweg genommenes Resümee des Seminars wirkte Döthers Abschlussbemerkung, dass dieses BAG-Urteil nur das verspätete Resultat einer geänderten gesellschaftlichen Praxis sei. Ohne dass diese sich ändert, gebe es auch keinen Rechtsfortschritt. Mit diesem Referat konnten nicht nur die Konflikte bei Bosch-Siemens und bei Alstom, in denen der Kampf um Sozialtarifverträge und Betriebsversammlungen eine Rolle spielte, noch einmal aus juristischer Perspektive vertieft werden. Aus der Debatte um die vielfältigen Möglichkeiten, Sozialtarife als unterstützendes und erweiterndes Arbeitskampfmittel einzusetzen, entwickelten sich auch Ideen für laufende Arbeitskämpfe, z.B. bei der Frankfurter Rundschau (s. dazu das Interview in dieser Ausgabe). Für die TeilnehmerInnen, die vielfach selbst Akteure in betrieblichen (Abwehr-)Kämpfen waren, aus ganz unterschiedlichen Branchen und Gewerkschaften, aber auch aus der Forschung, der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit kamen, war dieser Austausch über die verschiedenen Praxen und Probleme sehr aufschlussreich und fruchtbar. Es zeigte sich nicht nur, wie wichtig es ist, über den eigenen betrieblichen und nationalen Horizont hinauszublicken, sondern auch, dass sich im Blick auf Geschichte und Geschichten ein Schatz von Erfahrungen bergen lässt, der Wissen und Anregungen für einen produktiven Umgang mit der eigenen Geschichte vermitteln kann. Insgesamt also ein sehr erfrischendes und ermunterndes Seminar mit vielen engagierten Diskussionsteilnehmern. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/08 Anmerkungen (1) Vgl. hierzu bspw. den Artikel »Flächentarif und Globalisierung« von Werner Sauerborn in: express, Nr. 6-7/2001. (2) Zum Gelingen der Tagung hat maßgeblich auch die Unterstützung durch die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt (Berlin) beigetragen, durch die es möglich wurde, das Solidarprinzip bei den Tagungskosten für ReferentInnen und geringverdienende TagungsteilnehmerInnen umzusetzen. (3) Weitere Angaben zur Struktur der Kooperative finden sich unter: www.mcc.coop (4) Siehe dazu auch die beiden Artikel »Wie lang ist der ›bürokratische Gang‹?« in: Wildcat, Nr. 79, Herbst 2007, S. 23f., und »Aus dem Stegreif« in: Wildcat, Nr. 80, 2007/2008, S. 8f. Weitere Infos kann man auch direkt auf der Homepage: www.strike-bike.de/1/index.php?hl=de_DE entnehmen (5) Die DVD »Strike Bike – eine Belegschaft wird rebellisch. 0 Chefs, 1800 Fahrräder, 115 Tage Werksbesetzung« (45 min., BRD 2008, 12,80 Euro), ist zu beziehen über: Neuer ISP Verlag GmbH, www.neuerispverlag.de (6) Die lange und vertrackte Geschichte von BBC Mannheim und dem daraus hervorgegangenen Alstom-Konzern kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden. Vgl. hierzu auch den Artikel »Redebedarf bei Alstom« von Anton Kobel, erschienen in: express, Nr. 9/2005, online unter: www.labournet.de/branchen/sonstige/masch/kobel. html (7) Die DVD (81 min., BRD 2007, 15 Euro) ist zu beziehen über: autofocus videowerkstatt Berlin, www.videowerkstatt.de (8) Zu den Hintergründen dieses Konflikts siehe die Artikel von Mia Lindemann in: express, Nr. 2-3 und Nr. 4/2008 (9) Siehe hierzu ausführlich den Artikel »›Lip oder die Macht der Phantasie‹, ein Lehrbeispiel für Kommunikation und Demokratie« in: express, Nr. 5/2008 (10) Siehe hierzu ausführlich »›Die Investoren aus dem Stollen‹, über Arbeiterselbstverwaltung in Wales«, in: express, Nr. 5/2008 |