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Updated: 18.12.2012 15:51
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Boykottiert, was Euch kaputt macht!

Kleine Boykottkunde von Wilfried Schwetz*, Teil I

Über Kampagnenarbeit als neue Arbeitskampfform wird auch in ver.di mittlerweile breiter diskutiert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund sinkender Mitgliederzahlen und schwindenden gewerkschaftlichen Einflusses. Ausdruck dessen sind Pilotprojekte wie die - gescheiterte - Gesundheitskampagne, die laufende Lidl-Kampagne, deren Budget erst vor Kurzem verlängert wurde, oder auch ein neues Organizing-Projekt in Hamburg, bei dem junge Aktivisten nach US-amerikanischem Vorbild als »Organizer/Campaigner« ausgebildet werden sollen, finanziert aus ver.di-Bundesmitteln. Eine ausführliche Beschäftigung mit dieser Thematik fand auch im Rahmen der von etwa 80 TeilnehmerInnen überwiegend aus dem Gewerkschaftsspektrum (ver.di, NGG, IG BAU, IGM) und von attac »querbeet« besuchten Tagung »Kampagnen - Eine Kampfform der Gewerkschaften und Sozialen Bewegungen« vom 25.-27. November in Oberjosbach statt, zu der ver.di-Nord, Mannheim/Heidelberg, OrKa (Organisierung und Kampagnen), express und KdA-Baden eingeladen hatten. (Die Grünen-nahe Heinrich Böll Stiftung zog kurz vor Beginn der Tagung ihre Finanzierungszusage zurück!) Einem ausführlichen Bericht über die Veranstaltung und den Zusammenhang von Kampagnen und Organisierung in der kommenden Ausgabe des express schalten wir einen Beitrag von Wilfried Schwetz voran, der sich auf das Terrain des Boykotts als neuer/alter Arbeitskampfform begibt. Der Beitrag schließt an den Artikel von Anton Kobel (»Streik & Boykott«) in express Nr. 2/2005 und den Bericht von Heinrich Geiselberger (»Tomaten des Zorns«) über die Voraussetzungen des Siegs der US-LandarbeiterInnen gegen Taco Bell in express Nr. 6-7/2005 an und präzisiert diese in Hinsicht auf die vielfach unbekannten rechtlichen Dimensionen von Boykotten. Diese dürften auch - neben der in Deutschland problematischen Geschichte des Boykotts jüdischer Geschäfte im Nationalsozialismus, auf die auf der Kampagnentagung auch hingewiesen wurde - ein Grund für die gewerkschaftliche Zurückhaltung gegenüber Boykotten sein, während diese in den USA als notwendiges Arbeitskampfmittel gerade kleinerer, schwach organisierter Belegschaften (wieder-)entdeckt wurden.

In der letzten Zeit wurde häufiger die Frage diskutiert, inwieweit die Konsumenten Einfluss auf Unternehmensentscheidungen nehmen können und ob Boykotte ein Beitrag zur Verteidigung von Sozialstandards und Arbeitsplätzen sein können. Die Frage von Konsumentenboykotten taucht regelmäßig im Zusammenhang mit Vorgängen wie denen um Lidl auf, ohne jedoch zu einer intensiveren Debatte in Gewerkschaftskreisen geführt zu haben.

Diese seltsame Scheu Boykottaktionen gegenüber ist erstaunlich, hängt möglicherweise jedoch mit einem zu geringem Wissen über ihre rechtlichen Rahmenbedingungen, d.h. der Angst vor Kriminalisierung zusammen sowie mit der wenig ausgeprägten Vorstellung, wie Boykotte als Kampfmittel in Arbeits- und Sozialkonflikten eingesetzt werden können. Ein genauerer Blick auf die rechtliche Seite wie auch die Aufklärung über verschiedene Boykottformen könnten die Diskussion voranbringen. Auf beide Gesichtspunkte soll im Folgenden genauer eingegangen werden, bevor ich abschließend eine Bewertung ihrer möglichen gewerkschaftlichen Relevanz versuchen möchte.

I. Was ist ein Boykott?

Ein Boykott kann definiert werden als »soziale, wirtschaftliche oder politische Nicht-Zusammenarbeit« [1] oder in Zusammenhang mit Arbeit als eine »Weigerung mit einem Arbeitgeber zusammenzuarbeiten, wobei der Kauf von Produkten, die Arbeit selbst oder beides verweigert wird«.[2] Der Boykott ist eine Waffe in sozialen Konflikten und ist bestimmt als eine dreiseitige Beziehung zwischen Boykott-Aufrufer, Boykottierenden und Boykott-Objekt (Kreuzpointer 1980, S. 30). Das Ziel eines Boykotts ist die Ausübung von Druck, um die boykottierte Seite zur Verhaltensänderung oder zur Akzeptanz der Forderungen der Boykott-Aufrufer zu zwingen.

Unter der Überschrift Boykott lässt sich zwischen vier verschiedenen Formen unterscheiden: Streik, sozialer Boykott (soziale Ächtung), Verweigerung und Konsumboykott (Rennerberg 2005, S. 225ff., Duffner et al. 1993, S. 7ff.).

Streik: Don't work! Streiks sind selbstverständlich auch Boykotte. In einem Streik nutzen die Arbeiter ihre Macht auf dem (betrieblichen) Arbeitsmarkt und verweigern den Verkauf ihrer Arbeitskraft. Dies unterbricht die wirtschaftliche Beziehung zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten.

Sozialer Boykott: Don't talk! Dies meint die Unterbrechung sozialer Kontakte zu einer spezifischen Person oder Gruppe.

Verweigerung: Don't do! Dabei wird die Erbringung bestimmter erwarteter oder verlangter Leistungen verweigert, z.B. die Herausgabe persönlicher Daten oder die Zahlung von Steuern und Gebühren.

Konsumboykott: Don't buy! Hier werden Produkte und Dienstleistungen nicht konsumiert. Dabei lassen sich Kaufboykott und Produktboykott unterscheiden. Letzterer ist - unabhängig vom jeweiligen Verkäufer - gegen bestimmte Produkte gerichtet, z.B. Teppiche aus Kinderarbeit. Der Kaufboykott stellt ein bestimmtes Unternehmen in das Zentrum des Boykotts.

Im Allgemeinen kann man Boykotte in erklärte und stille Boykotte teilen. Stille Boykotte entwickeln sich ohne formalen Aufruf aus sich selbst heraus; die Entscheidung zum Boykott hat der individuelle Konsument in eigener Verantwortlichkeit getroffen. Ein stiller Boykott kann eine starke Eigendynamik entfalten (wie im Schlecker-Boykott) und ein Massenphänomen werden. Erklärte Boykotte werden von Gruppen oder Organisationen durch öffentlichen Aufruf initiiert und bedürfen i.A. eines größeren organisatorischen Aufwandes.

II. Die rechtliche Zulässigkeit von Boykotten

Bevor ich weiter in die Boykotthematik einsteige, möchte ich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen zu sprechen kommen, d.h. unter welchen Umständen sie legal sind, wie die boykottierte Seite versucht, gegen sie vorzugehen, und welche Angriffe auf ihre Zulässigkeit in Zukunft erfolgen könnten. Ein detaillierter Blick ist auf jeden Fall sinnvoll.

Zunächst ist es wichtig, zwischen dem Boykottaufruf und dem Boykott selbst zu unterscheiden. Die rechtlichen Situationen unterscheiden sich bei den verschiedenen Boykottformen. Wie oben gesehen ist eine Form des Boykotts die Verweigerung. Diese kann legal oder illegal sein. Zum Beispiel können Kunden die Herausgabe persönlicher Daten im Supermarkt (für Kundenkarten, Preisausschreiben) verweigern. Andererseits ist auch die Verweigerung verlangter Handlungen möglich, z.B. die Weigerung, Daten in nationalen Zensus-Erhebungen herauszugeben, oder die Verweigerung oder Reduzierung von Steuern und Abgaben (Kürzung der Stromrechnung wegen Atomstrom etc.). In solchen Fällen ist der Boykott nicht legal, kann aber legitim sein. Ein Konsumboykott gehört zu den legalen Verweigerungen; der Boykottierende kann nicht gezwungen werden, ein spezielles Produkt oder in einem bestimmten Laden einzukaufen. Dies bleibt in der Entscheidungsgewalt des Konsumenten (Konsumentensouveränität, Duffner et al. 1993, S. 15f.). Beispiele für Boykottaufrufe und das Recht auf freie Meinungsäußerung:

a) »Lüth«-Urteil

Grundlegend für die Bewertung der Legalität von Boykottaufrufen ist in Deutschland eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1958. Diesem Urteil liegt der Aufruf des Mitglieds der Bremer Bürgerschaft, Lüth, zugrunde, der den Boykott eines Films des Regisseurs Veit Harlan beabsichtigte. Harlan war im Dritten Reich für antisemitische Propagandafilme wie »Jud Süß« verantwortlich. Obwohl der aktuelle Film unpolitisch erschien, rief Lüth zum Boykott auf, um auf Harlans frühere Rolle aufmerksam zu machen. Das BverfG entschied, dass ein öffentlicher Boykottaufruf zulässig sein kann, wenn jemand aus ethischen Motiven gegen den Verkauf einer Ware oder deren Konsum ankämpft, selbst wenn es dabei im Falle des Erfolges zu einer wirtschaftlichen Schädigung oder zum Verlust von Arbeitsplätzen kommen sollte (Binkert 1981, Kreuzpointer 1990).

b) »Blinkfüer«-Urteil

In einem zweiten Fall von 1969 bestätigte das BverfG, dass ein Boykottaufruf durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG). In diesem Fall hatte der Eigentümer des Springer-Verlages, Axel Springer, die Hamburger Kiosk-Betreiber zum Boykott des linken TV-Magazins »Blinkfüer« aufgerufen, weil dieses auch DDR-TV-Programme abdruckte. Anderenfalls würde Springer die Belieferung der Kioske mit seinen eigenen TV-Magazinen einstellen - was aufgrund der Dominanz dieser Zeitschriften auf eine schwere wirtschaftliche Schädigung der Kioskbetreiber hinausgelaufen wäre.

Das BverfG entschied, dass selbst in Fällen, in denen der Boykottaufrufer in wirtschaftlichen Beziehungen zum Boykottziel steht (hier: Wettbewerber), der Boykottaufruf durch Art. 5 GG gedeckt sein könnte. Auch ein bestehendes Machtungleichgewicht allein würde kein Argument gegen die Einschränkung der freien Meinungsäußerung liefern. Allerdings entwickelte das Gericht das Prinzip, dass die Durchsetzung des Boykotts mit grundrechtskonformen Mitteln erfolgen muss, d.h. sie muss auf intellektuellen Argumenten basieren, und der angesprochene Dritte muss stets die Gelegenheit zur freien Entscheidung behalten, dem Aufruf zu folgen oder nicht. Wegen der marktbeherrschenden Stellung des Springer-Konzerns bei TV-Zeitungen und der damit einhergehenden fehlenden »Wahlfreiheit« der Kioskbesitzer wurde der Boykottaufruf vom Gericht verworfen. Das bedeutet: Es darf auf die angesprochenen Leute kein Zwang, wie z.B. durch Blockaden oder wirtschaftlichen Druck, ausgeübt werden (Binkert 1981, Kreuzpointer 1990).

c) Boykottaufruf und Arbeitskampf

Für Boykottaufrufe im Zusammenhang mit Arbeitskonflikten ist die Frage wesentlich, ob der Boykott in bestehende arbeitsvertragliche Beziehungen eingreift oder nicht. Von dieser Unterscheidung hängt ab, welche rechtlichen Regelungen zur Anwendung kommen.

Das Arbeitskampfrecht gilt nur für Boykotte, in denen Beschäftigte zu Aktionen aufgerufen werden, die ihre arbeitsvertraglichen Verpflichtungen verletzen würden, z.B. wenn eine Gewerkschaft andere Arbeiter dazu auffordert, die Geschäftspartner einer Firma, mit der die Gewerkschaft einen Konflikt hat, nicht zu bedienen. Häufig vorkommende Beispiele hierfür sind das Nicht-Löschen von Schiffen unter Billigflagge, um die Reeder zum Abschluss von Tarifverträgen zu zwingen. In diesen Fällen ist die Frage der Legalität eines Boykotts vor dem Hintergrund des Arbeitskampfrechts zu beurteilen. Diese Boykottaktionen kann man aber auch als Solidaritätsstreiks bezeichnen (Geffken 1979).

Sind Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag nicht verletzt, folgt die Beurteilung der Legalität eines Boykottaufrufs den allgemeinen juristischen Grundsätzen. Das Recht zur Ausübung eines Gewerbes schützt nicht vor Aufrufen an Dritte, auf das Zustandekommen eines Vertrages (z.B. Kauf einer Ware) zu verzichten. Grenzen sind lediglich in § 826 BGB (sittenwidrige Schädigung) zu finden (Däubler 1987, S. 874, Kissel 2002, S. 885).

Innerhalb eines legalen gewerkschaftlichen Aufrufs zum Arbeitskampf stellt ein an die Kunden gerichteter Boykottaufruf ein legitimes Mittel des Arbeitskampfes dar und begründet keinen ungesetzlichen Eingriff in einen Gewerbebetrieb. 1976 hat das BverfG Boykotte als traditionelles Arbeitskampfmittel anerkannt. Speziell sind Boykottaufrufe immer dann legal, wenn auch der Aufruf zum Arbeitskampf legal ist. Dies wurde vom Berliner Arbeitsgericht in zwei Urteilen 1965 und 1989 bestätigt (hbv, Binkert 1981).

Ein neueres Urteil liegt vom Landgericht Düsseldorf über einen Boykottaufruf gegen die Citibank vor. Das Gericht entschied, dass Boykottaufrufe in Fällen von Tarifflucht oder wenn sich ein Arbeitgeber generell weigert, Tarifverträge abzuschließen, zulässig sind. Zusätzlich verwies es auf Art. 9 Abs. 3 GG (Rennerberg 2005, S. 231).

Damit ist die Legalität von Boykottaufrufen im Zusammenhang mit Arbeitskonflikten gesichert.

III. Kriterien für legale Konsumboykotte

In den letzten Jahren hat die deutsche Rechtsprechung verschiedene Vorbedingungen und Beschränkungen für die Rechtmäßigkeit von Boykottaufrufen entwickelt. Wenn die folgenden Kriterien erfüllt sind, sollten sie legal sein (Duffner et al. 1993, ARD-Ratgeber Recht 1997) - was allerdings nicht heißt, dass einzelne Rechtsauffassungen durch andere Gerichte oder höhere Instanzen nicht auch wieder verworfen werden können:

  • Keine rein wirtschaftlichen oder privaten Motive. Dies ist eine sehr wichtige Einschränkung, denn sie erfordert, dass der Konflikt von allgemeinem öffentlichen Interesse sein und die Öffentlichkeit bewegen muss. Die Initiatoren müssen aus ethischen Motiven handeln und nicht aus eigenem ökonomischen Interesse.
  • Die Initiatoren müssen die angesprochenen Personen überzeugen; jede Form von Druck wie Blockaden oder die Ausnutzung marktbeherrschender Positionen sind verboten.
  • Ein Konflikt ist nicht mit anderen juristischen Mitteln lösbar, wie z.B. einer Klage beim Arbeitsgericht oder einer Beschwerde bei Kontrollbehörden (Kreuzpointer 1980, S. 120ff.).
  • Es werden keine Empfehlungen für konkurrierende Produkte oder Firmen ausgesprochen.
  • Der Boykott ist keine Strafaktion für vergangenes Verhalten, sondern ist auf die Zukunft gerichtet.
  • Die behaupteten Fakten müssen wahr sein.
  • Meinungsäußerungen sind erlaubt, Verunglimpfungen und Beleidigungen aber verboten.
  • Der Boykottierte muss für die Ungerechtigkeit verantwortlich sein oder starken Einfluss auf sie haben (Duffner et al. 1993, S. 68). In einer nicht-restriktiven Auslegung dieser Bedingung wären auch indirekte Boykotte erlaubt, z.B. wenn der Hauptabnehmer einer angegriffenen Firma boykottiert wird (wie im Taco Bell-Boykott).
  • Der Boykott muss verhältnismäßig sein; es gilt das Übermaßverbot. Dies gilt hinsichtlich der Größe der angesprochenen Gruppe und des Ausmaßes der boykottierten Produkte oder Firmen, z.B. wenn zum Boykott aller angebotenen Produkte aufgerufen wird, obwohl nur eines in der Kritik steht.

IV. Widerstreitende Grundrechte

Neben dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung existieren natürlich auch die Grundrechte der boykottierten Seite. Grundsätzlich kann ein gegen eine Firma gerichteter Boykott als Eingriff in das individuelle Recht zur Ausübung eines Gewerbebetriebes gemäß § 823 BGB interpretiert werden. Das Recht zur Ausübung eines bestehenden und laufenden Unternehmens ist geschützt durch Artikel 12 und 14 GG (Freiheit der Berufsausübung und Eigentumsschutz) und kann in Opposition zum Recht auf freie Meinungsäußerung stehen. Beide Rechte müssen daher vor dem Hintergrund des jeweiligen Falles gegeneinander abgewogen werden.

Versuche der angegriffenen Firmen, einen Boykottaufruf als unzulässigen Eingriff in die Ausübung eines Gewerbebetriebes untersagen zu lassen, schlagen üblicherweise fehl. Deshalb wird meist versucht, die angeführten Fakten als unwahr oder verleumderisch anzugreifen. Dies verdeutlicht die Wichtigkeit umfassender und intensiver Recherche im Vorfeld einer Boykottaktion. Außerdem bedarf es einer stringenten Argumentation.

Ebenso kann die Gegenseite behaupten, der Boykott sei an die falsche Adresse gerichtet - in Fällen von Arbeitskonflikten allerdings eine wenig überzeugende Argumentation. In Fällen von indirekten Boykotten lässt dies Raum für Interpretationen, z.B. bei Boykotten gegen Firmen wegen Verletzungen von Arbeitsrechtsnormen bei ihren Zulieferern.

Eine mögliche (zukünftige) juristische Gegenmaßnahme könnte die Behauptung darstellen, der Boykott würde zur wirtschaftlichen Zerstörung des Unternehmens beitragen. Multis könnten dieses Argument in Bezug auf ihre formal selbständigen Tochterfirmen oder Franchise-Partner vorbringen (Übermaßverbot). Andererseits ist ein solches Argument in einer Wettbewerbsgesellschaft nicht wirklich überzeugend.

V. Gefährdungen durch Welthandelsabkommen

Grundsätzlich birgt die Notwendigkeit der Abwägung zwischen widerstreitenden Rechten eine potentielle Gefahr. Wenn das Eigentumsrecht prioritär wird, kann es passieren, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung ihm gegenüber zurücktreten muss. Dies ist eine sehr reale Bedrohung, denn wir befinden uns in einem Prozess, der das Eigentumsrecht in das absolut vorrangige Grundrecht verwandelt. Internationale Investitionsabkommen oder WTO-Regelungen wären geeignete Orte, dies zu kodifizieren. Entsprechende Versuche waren bereits im (fehlgeschlagenen) Multinational Agreement on Investment (MAI) der OECD gestartet worden. [3] Zentrales Ziel des MAI war, Investoren vor Zwisten (engl. strife) jeglicher Art zu schützen, die ihre Geschäfte stören könnten. Die Regelungen waren so vage, dass auch Boykotte darunter gefallen wären, was den Investoren die Möglichkeit eröffnet hätte, vor einem Streitschlichtungsorgan die »Notwendigkeit« des Boykotts zu erörtern und auf Grundlage des Urteils finanzielle Kompensation zu verlangen. Um solche Fälle zu verhindern, könnten sich Staaten veranlasst sehen, Boykotte, d.h. insbesondere die Boykott-Aufrufer, zu kriminalisieren. Obwohl das MAI nicht zustande gekommen ist, wird weiterhin versucht, seine Prinzipien in der WTO und in anderen bi- und multilateralen Handelsabkommen unterzubringen.

Ein weiterer interessanter Versuch, gegen einen Boykott mit juristischen Mitteln vorzugehen, fand im Rahmen des schon öfter angeführten Danone-Boykotts [4] in Frankreich statt. Im Jahre 2001 rief eine breite Koalition von NGOs, Gewerkschaften und Prominenten einen Boykott gegen Danone aus, da der Markeneigentümer Gervais-Danone seine bereits beeindruckenden Gewinne durch Werksschließung und Entlassungen weiter zu steigern suchte.

Als Reaktion auf den Boykottaufruf startete Gervais-Danone eine breite juristische Kampagne gegen die Initiatoren und klagte vor französischen Gerichten wegen Verletzung des Markennamens auf den Internetseiten der Boykottinitiatoren. Danone bestand auf seinem absoluten und unteilbaren Recht am Markennamen und beanspruchte eine finanzielle Entschädigung von über 100000 FF. Ein französisches Gericht bestätigte Danones intellektuelles Eigentumsrecht am Label. Als Ergebnis musste die angegriffene Website vom Netz genommen werden. Mit diesem Vorgehen eröffnete Danone letztendlich ein neues Konfliktfeld: Der Kampf um Arbeitsplätze verwandelte sich in einen Kampf um das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Daher könnte der Schutz intellektueller Eigentumsrechte Firmen ein Werkzeug in die Hand geben, Kritik zu unterdrücken und Boykottkampagnen zu zerstören. In dieser Beziehung muss in Zukunft ein spezielles Augenmerk auf die TRIPS-Verhandlungen im Rahmen der WTO gelegt werden.

VI. Boykott-Typologie

Bevor man sich überlegt, Boykotte in (Arbeits-)Konflikten zu nutzen, sollte man sich dringend über die verschiedenen Formen von Boykotten klar werden. Jede Form unterscheidet sich hinsichtlich Ziel, Mittel, Strategie und organisatorischem Aufwand, oder besser: Das Ziel und die jeweiligen äußeren Umstände sollten die Wahl des Boykott-Typs beeinflussen. Eine detaillierte Boykott-Typologie zu der folgenden Kurzübersicht findet sich in der Boykottbroschüre von Duffner et al.:

Was ist das Ziel - Veränderung oder Abschaffung?

Der Abschaffungsboykott richtet sich auf die komplette Abschaffung eines Produkts, z.B. Gen-Food; es geht nicht um die Verbesserung der jeweiligen Produktionsbedingungen. Boykotte, die auf Veränderung zielen, suchen meist das Produkt oder die Art seiner Produktion zu verändern. In Arbeitskonflikten zielen Boykotte üblicherweise auf Veränderung.

Wer boykottiert - die Betroffenen oder eine unterstützende Gruppe?

Die Beziehung zwischen den Boykotteuren und dem zu Grunde liegenden Problem ist sehr wichtig für die Wahl der Strategie und für die Erfolgsaussichten. Es können die betroffenen Personen selbst zum Boykott greifen, oder es kann sich um eine Solidaritätsaktion handeln. Im ersten Fall müssen die Betroffenen bei Konsumboykotten selbst über eine relevante Marktmacht verfügen, meistens erfolgen solche Boykotte als Verweigerungen jeglicher Art, z.B. die Universität zu besuchen (Studierendenstreiks) - eine häufige Boykottform im Kampf gegen Diktaturen.

Solidaritätsboykotte werden von nicht direkt Betroffenen zur Unterstützung durchgeführt. Solidaritätsboykotte können durchaus zu Konflikten mit den Betroffenen führen, wenn sie nicht mit ihnen abgesprochen sind, und sind über längere Zeit schwieriger aufrecht zu erhalten.

Wie wird boykottiert - direkt oder indirekt?

Ein direkter Boykott ist unmittelbar verknüpft mit dem kritisierten Produkt, einer Firma oder Institution. Ein solcher direkter Boykott ist nicht immer möglich, angemessen oder erfolgversprechend, z.B. in Fällen von hochgradig verwobenen internationalen Firmen oder wenn zu boykottierende Produkte nicht auf dem Markt sind. So existiert bspw. kein Markt für Landminen. Ein indirekter Boykott ist daher oft eine erfolgversprechende Alternative, wobei auf ein anderes Produkt derselben Firma oder auf eine andere Firma/Institution gezielt wird, die mit der angegriffenen Firma verbunden ist. Der Taco Bell-Boykott (s. express, Nr. 6-7/2005) wie auch die Gucchi-Kampagne (s. express, Nr. 4/2003) sind Beispiele für diese Strategie.

Wie stark wird boykottiert - selektiv oder total?

Bei einem totalen Boykott werden alle Produkte einer Firma in der Erwartung angegangen, (nur) dadurch einen relevanten wirtschaftlichen Schaden verursachen zu können.

Selektive Boykotte können hinsichtlich Produkten oder Firmen eine Auswahl vornehmen. Welche der beiden Arten sinnvoller ist, hängt von den konkreten Umständen ab. Selektive Boykotte bieten die Möglichkeit zu einer eskalierenden Strategie. Sie sind tendenziell erfolgreicher, da Produkte von hoher symbolischer oder wirtschaftlicher Bedeutung boykottiert werden können und/oder für die Alternativen leicht verfügbar sind. Außerdem können sie helfen, das wirtschaftliche Beziehungsgeflecht der Firmen zu teilen, indem z.B. Geschäftspartner Nachteile befürchten, wenn sie weiterhin Geschäfte mit der boykottierten Firma machen.

Wichtig ist ebenso, dass mit einem selektiven Boykott die Propagierung einer »Verzichtsethik« vermieden werden kann - etwas, was die meisten Leute nicht oder nur für kurze Zeit zu unterstützen pflegen. In ihrer Mehrzahl wollen die Menschen auf bestimmte Produkte oder Dienstleistungen nicht völlig oder für immer verzichten, können aber vielleicht dazu veranlasst werden, auf solche mit besseren (Sozial-, Umwelt-) Standards auszuweichen.

Wie ist die Boykottorientierung - instrumentell oder expressiv?

Eine erfolgreiche Boykottkampagne bedarf hoher organisatorischer Vorbereitung und Begleitung. Deshalb müssen sich die Organisatoren selbstkritisch fragen, ob sie die dazu notwendigen Mittel haben, d.h. ob man wirklich ein konkretes Ziel erreichen will oder ob die Boykotterklärung bereits der Endpunkt der Aktion sein soll. Letzteres kann man als expressiven Boykott bezeichnen, da mittels Boykottaufruf auf ein Problem aufmerksam gemacht wird und dieser bewusstseinsbildend wirken soll. Solche Boykotte sind eher auf der symbolischen Ebene angesiedelt.

Ein instrumenteller Boykott ist auf ein bestimmtes Problem gerichtet, und die Initiatoren haben ein konkretes Ziel vor Augen, etwa, in Verhandlungen mit dem Konfliktgegner zu treten. Die Boykottkampagne hat den Zweck, durch Druckaufbau ein bestehendes Machtungleichgewicht auszugleichen. Erst wenn annähernd ein Machtgleichgewicht hergestellt ist, werden Verhandlungen mit dem Ziel aufgenommen, so viele Forderungen wie möglich durchzusetzen. Am Ende der Kampagne kann man zumeist eine konkrete Bewertung der Erfolge vornehmen.

Welche Strategie wird verfolgt - eskalierend oder nicht-eskalierend?

In Fällen nicht-eskalierender Boykotte werden alle möglichen Aktionen gleich zu Beginn eingesetzt. Wenn der erste Aufruf fehlschlägt, hat man nichts mehr nachzulegen.

Eine eskalierende Strategie gibt die Möglichkeit zur spezifischen Ausweitung der boykottierten Produkte oder Firmen. Außerdem können Begleitaktionen wie Demonstrationen, öffentliche Diskussionen, Solidaritätsveranstaltungen etc. durchgeführt werden. Besonders während des Verhandlungsprozesses kann es hilfreich sein, noch etwas in der Hinterhand zu haben.

Der zweite Teil folgt im nächsten express.

* Wilfried Schwetz, Diplom-Sozialwirt, lebt in Hannover, betreibt Unternehmensforschung und engagiert sich in der globalisierungskritischen Bewegung sowie im Aufbau transnationaler Kampagnen.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/05


(1) The Albert Einstein Institution. 427 Newbury Street, Boston , MA 02115 , USA www.fiu.edu/~fcf/glossary.html externer Link

(2) American Labour Studies Centre, New York , www.labor-studies.org/glossary.htm externer Link

(3) Public Citizen (1998), MAI Proposals and Propositions: An Analysis of the April 1998 Text; prepared by Michelle Sforza, Research Director, Public Citizen's Global Trade Watch, www.citizen.org/trade/issues/mai/articles.cfm?ID=7415 externer Link

(4) www.heise.de/tp/r4/artikel/7/7607/1.html externer Link

 


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