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Updated: 18.12.2012 15:51
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Reingehen – statt Rausgehen

Plädoyer für Unberechenbarkeit im Streik

Auch der folgende Beitrag ist der Broschüre »unser.Streik«, herausgegeben vom ver.di-Bezirk Stuttgart und erschienen im November 2006, entnommen. Wie der nebenstehende Auszug befasst er sich mit der Entwicklung neuer Streikformen, hier am Beispiel Müllabfuhr. Unter den Bedingungen der Privatisierung betrifft die im Folgenden vorgestellte Taktik jedoch nicht nur die Müllwerker...

Bereits in der sechsten Streikwoche wurde landesweit deutlich, dass der bisherige Streik in der gewohnten Form nicht so fortgesetzt werden konnte. Einige wichtige Streikbataillone waren streikmüde. Dass die Arbeitgeber einen grundlegenden Machtkampf mit ver.di suchten, ein tiefer Riss durch das Arbeitgeberlager ging und damit der Tarifkonflikt eine zunehmend politische Dimension bekam, machte offensichtlich, dass eine einfache Fortsetzung der bisherigen Strategie zu keiner veränderten Ausgangslage führen würde. ver.di war sich bewusst, dass der Streik unter Umständen noch Wochen oder gar Monate fortgesetzt werden müsste. Über neue Streikstrategien wurde diskutiert. Die Streiks sollten überraschender und unkalkulierbarer werden. Die über die Presse vermittelte Botschaft, dass ver.di mit der flexiblen Streikstrategie mehr Rücksicht auf Eltern und BürgerInnen nehmen wollte, war falsch und hat die Streikenden eher verwirrt als eine klare Orientierung zu geben.

In Stuttgart war die Diskussion einer flexiblen Streikstrategie nichts wirklich Neues. Bis auf wenige Ausnahmen wurde schon die ganze Zeit flexibel und unregelmäßig gestreikt. Der Streikleitung war es jedoch bewusst, dass insbesondere bei der Müllabfuhr und den Arbeitsämtern die bisherige Streikstrategie durch eine neue ersetzt werden musste. Dabei war sich die Streikleitung über die besondere Verantwortung von ver.di Stuttgart im Klaren. Ein Abbröckeln der Streikfront in Stuttgart hätte verheerende Auswirkungen auf ganz Baden-Württemberg gehabt. Deshalb bestand Konsens, dass die Streiks auch in der siebten Woche fortgesetzt werden müssen. Die Streikversammlungen wurden genutzt, um über die neue Streikstrategie zu diskutieren.

2500 Streikende diskutierten auf getrennten Streikversammlungen am Montag, dem 20. März, in welcher Form die Streiks fortgesetzt werden sollen. Grundlage der Diskussion war die Vorbereitung auf einen wochen- oder gar monatelangen Streik. Bei der Müllabfuhr stand im Vordergrund, wie dem Einsatz der Privaten wirksamer begegnet werden kann.

Die Diskussion auf den Streikversammlungen bildete den Höhepunkt einer demokratischen Streikkultur. Mit großer Ernsthaftigkeit und Engagement wurde auf allen Streikversammlungen für alle Bereiche eine gemeinsam getragene Streikstrategie diskutiert und auf der großen Streikversammlung aller Streikenden verabschiedet. Es war überraschend, dass auch in der siebten Streikwoche die Entschlossenheit, den Arbeitskampf bis zu einem vertretbaren Ergebnis zu Ende zu führen, groß war. Es gab keine Stimmen, aufzugeben oder eine Streikpause einzulegen.

Im Einzelnen wurden folgende Streiktaktiken entwickelt:

Müllabfuhr/Stadtreinigung: Für diesen Bereich wurde eine »rein-raus«-Strategie verabredet. Es sollte ab der achten Streikwoche – für die Arbeitgeber unkalkulierbar – gestreikt werden. Sobald ver.di-Streikposten vor dem Tor stehen, wird gestreikt. Über SMS sollen die Vertrauensleute darüber informiert werden, wann gestreikt wird. Alles soll so kurzfristig erfolgen, dass die Arbeitgeber überrascht werden und nicht mehr kalkulieren können, wann gestreikt und wann gearbeitet wird. Ziel war auch, den Einsatz der Privaten teuer und unkalkulierbar zu machen. Diese neue Streikstrategie war heftig umstritten und wurde umfassend diskutiert. Eine 40-köpfige Arbeitsgruppe von Streikenden hatte diese in einem dreitägigen Diskussions- und Arbeitsprozess entwickelt. Bis dato war eine solche Streikstrategie bei der Müllabfuhr undenkbar. Alle waren gewohnt, unbefristet zu streiken, bis die Müllberge anwuchsen. Danach ging man wieder zurück in den Betrieb und schimpfte über das mehr oder weniger gute Tarifergebnis. Auch im ver.di-Apparat gab es große Skepsis darüber, ob diese Strategie funktionieren kann. (...)

Praxistest für die »neue Streikstrategie«

In der achten Streikwoche wurde erstmals die neue Streikstrategie bei der Stuttgarter Müllabfuhr erprobt. Ausgemacht war, dass die Beschäftigten alle am Montag, dem 27. März, geschlossen zur Arbeit gehen. Die Botschaft war: Alle versammeln sich vor den Toren und gehen gemeinsam aufrechten Gangs in den Betriebshof rein. Im engsten Kreis wurde abgestimmt, dass die Müllwerker gleich am nächsten Tag wieder in den Streik treten sollten. Damit würde die Betriebsleitung nicht rechnen. Genau so wurde es gemacht.

In der Nacht gegen 24 Uhr wurden die Vertrauensleute per SMS informiert, dass bereits am Dienstag wieder gestreikt wird. Alle hielten dicht. Die Betriebsleitung wusste nichts davon. Wir waren gespannt wie ein Flitzbogen, was passiert, wenn wir mit unseren Streikwesten vor dem Tor stehen und die Kollegen nach einem Tag Arbeit wieder zum Streik auffordern. Alles deutete darauf hin, dass die Sache klappt – und es klappte. Es gab an diesem Tag sogar mehr Streikende als beim unbefristeten Streik. Dort hatten sich unorganisierte Kollegen krank gemeldet oder Urlaub genommen, was jedoch bei einer flexiblen Streikstrategie nicht mehr möglich war. So entschlossen sich noch am gleichen Tag über 20 Müllwerker, in ver.di einzutreten und aktiv beim Streik mitzumachen. Ein toller Erfolg.

Die Stimmung war prächtig und steigerte sich noch, als Kollegen berichteten, dass die Betriebsleitung für diesen Tag zusätzliche Müllfahrzeuge gemietet hatte. Nachdem die Privaten noch im Einsatz waren, bestand plötzlich Personalüberhang. Mit privaten Fahrzeugen sollte dieser behoben und der streikbedingte Müll schneller weg geräumt werden. Ein Schlag ins Wasser. Die Kollegen freuten sich um so mehr. Die Taktik war aufgegangen. Die Betriebsleitung konnte ab diesem Tag nicht mehr kalkulieren, wann die Müllwerker streikten und wann nicht. Mittwoch und Donnerstag wurde wieder gearbeitet, aber bereits Freitag und Samstag befanden sich die Müllwerker wieder im Streik. Ebenso die Stadtreinigung.

Dieser Streik der Stadtreinigung am Wochenende hatte einen hohen Effekt. Am Samstag war lange Einkaufsnacht, und die City-Initiative hatte nicht registriert, dass gestreikt wird. Somit quollen bereits am Samstag früh die Mülleimer über, und am Wochenende sah die Stadt aus wie eine Müllhalde. Die Überschrift der Stuttgarter Nachrichten lautete am 4. April: »Innenstadt nach langer Einkaufsnacht eine Müllhalde«.

Die KollegInnen waren nach dieser Streikwoche sehr stolz, dass sie in der Lage waren, die vereinbarte flexible Streikstrategie umzusetzen. Mit dieser Streikstrategie haben sie eine neue Waffe in die Hand bekommen, mit der sie auch dem Einsatz von Privaten in der Zukunft begegnen können. Das wird besonders wichtig sein, denn bei zukünftigen Streiks wird die Stadtverwaltung nicht mehr vier Wochen abwarten, bis sie den Einsatz von privaten Müllentsorgern beschließen wird. Die Streikstrategie hatte außerdem positive Ausstrahlung auf andere Bezirke. Es konnte neuer Mut geschöpft werden, und die Vorstellung, den Konflikt noch weitere Wochen oder gar Monate durchzuhalten, erschien plötzlich nicht mehr illusionär.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/07


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