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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Geschichte wird gemacht - aber wie? »Aufstand der Armen« - neu gelesen von Christian Frings* Warum ein Buch vorstellen und zur Lektüre empfehlen, das vor über dreißig Jahren geschrieben wurde und Staub angesetzt hat? Haben sich denn Diskussion und »Forschungsstand« nicht weiterentwickelt und alte Einsichten relativiert? Das Buch ist aktuell oder könnte in den nächsten Monaten und Jahren aktuell werden, weil es die Frage aufwirft, wie wir uns als politische Aktivisten zu Massenbewegungen verhalten können. Abstrakt wird diese Frage in linken Zusammenhängen ständig verhandelt, aber erstens gab es seit mindestens dreißig Jahren hier keine geschichtsträchtigen Massenbewegungen von Lohnabhängigen mehr, und zweitens bleiben diese Diskussionen daher meistens ein freihändiges Räsonnieren über politische Vorlieben bis hin zu anthropologischen Spekulation über das Verhalten »der« Menschen oder »der« Massen. Das genau vermeiden Frances Fox Piven und Richard A. Cloward in ihrer Studie »Aufstand der Armen«, die 1986 in deutscher Übersetzung erschien (»Poor People's Movements. Why They Succeed, How They Fail«, 1977; alle folgenden Seitenzahlen nach der deutschen Übersetzung). In den sechziger Jahren waren Piven und Cloward (P/C) in der Bewegung von überwiegend afroamerikanischen Fürsorgeempfängern aktiv und mischten sich dort in die Debatten um politische Strategien ein. Vor dem Hintergrund der fälschlich als »Rassenunruhen« bezeichneten Gettoaufstände mit ihren Höhepunkten in den Jahren 1964 bis 1968 war die Zahl der Fürsorgeempfänger geradezu explodiert: Von 745000 Familien 1960 stieg sie bis 1972 auf drei Millionen Familien an (S. 289) - nicht etwa, weil mehr Menschen bedürftig geworden wären, sondern weil mehr Bedürftige sich von der stigmatisierenden und repressiven Ausgestaltung der Sozialhilfe nicht länger abschrecken ließen und ihre Ansprüche auf den Ämtern - zum Teil auch gegen Schikanen - durchsetzten: »Das Verhalten der Antragsteller in den Warteräumen der Fürsorgeämter hatte sich ... verändert. Sie waren nicht mehr so bescheiden, so untertänig, so flehend; sie waren empörter, wütender, fordernder. Die Wohlfahrtsbeamten blieben davon nicht unbeeinflußt; vor allem die Sachbearbeiter, die die Anträge entgegennahmen - gewissermaßen die Türsteher des Systems - nutzten ihren Ermessensspielraum jetzt viel freizügiger aus. Die traditionellen Mittel, mit denen die Berechtigung von Ansprüchen überprüft wurden, verschwanden langsam: Hausbesuche wurden seltener, Vorschriften, nach denen Formulare verschiedener Behörden einzuholen waren, um nachzuweisen, daß eine Familie nicht andere Beihilfen ... erhielt ..., wurden zusehends vernachlässigt...« (S.300). Es war eine untergründige, kaum wahrgenommene Bewegung, die oft kollektiv und militant ihre Ansprüche durchsetzte: »Ohne organisatorische Führung und ohne in der Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden, war eine Bewegung der Fürsorgeempfänger entstanden, die erhebliche Einkommensverbesserungen für ihre Mitglieder erzielen konnte.« (S. 300) Mobilisierung contra Organisierung Im kleinen Kreis der Aktivisten oder »Organizer«, wie sie in den USA genannt werden, zu denen auch P/C gehörten, entwickelte sich eine Diskussion über das weitere Vorgehen, wie diese Bewegung gestärkt und ausgeweitet werden könnte. P/C wenden sich Ende 1965 mit einem hektographierten Papier: »Eine Strategie zur Abschaffung der Armut«, an die Aktivisten und schlagen darin vor, durch Unruhe und Störungen auf den Ämtern und eine massive Kampagne zur Stellung von Anträgen eine institutionelle Krise herbeizuführen (S. 301). Vor allem in Großstädten und Bundesstaaten mit zentraler Bedeutung für Bundeswahlen könnte diese Entfaltung des Störpotentials auf der Straße und in den Ämtern eine politische Krise herbeiführen und den Herrschenden weitergehende Zugeständnisse abringen (S.305). Eine Mehrheit der Aktivisten sieht aber die Zeit gekommen, eine Massenorganisation mit formaler Mitgliedschaft von Fürsorgeempfängern aufzubauen, um darüber Druck auszuüben und dauerhaften Einfluss zu gewinnen. Diese Kontroverse, die erst im letzten Kapitel geschildert wird, ist für P/C das praktische Motiv, ihre historische Untersuchung »Aufstand der Armen« zu verfassen, und liefert ihr die theoretischen Fragestellungen. Um die Frage Mobilisierung oder Organisierung nicht persönlichen Vorlieben oder der Spekulation zu überlassen, fordern sie dazu auf, die Geschichte wirklicher Bewegungen zu untersuchen und an ihnen zu überprüfen, in welchem Verhältnis die Unruhe auf der Straße oder in den Betrieben zu Organisierungsprojekten standen. Bei denjenigen, die für den Aufbau formal strukturierter Massenorganisationen plädieren, machen sie einen »Mangel an historischer Analyse aus«, der dazu führe, dass mit dogmenhaften Annahmen hantiert werde: Formelle Organisationen seien ein Machtinstrument, weil sie 1. die Ressourcen von vielen Menschen bündeln könnten, die einzeln machtlos bleiben, 2. den Einsatz dieser Ressourcen im Kampf strategisch planen könnten, und 3. die zeitliche Kontinuität der Mobilisierung sicherstellen könnten (S. 19). Es könnte noch eine vierte Annahme hinzugefügt werden, die sie im Vorwort zur Taschenbuchausgabe von 1979 ansprechen, das auf einige der Kritiken an ihrem Buch eingeht: 4. nur formelle Massenorganisationen könnten dafür sorgen, dass der Kampf über unmittelbare Bedürfnisse hinausgeht und zu einer politischen Veränderung führt (S. 9 ff.). Denn gerade aus der Linken war das Buch hart kritisiert worden, weil es sich nicht in das »leninistische« Schema einfügen wollte, demzufolge erst politisch angeleitete Organisationen dem spontaneistischen Aufruhr des Proletariats eine politische Richtung weisen können. Historische Bewegungsforschung Alle drei oder vier Annahmen, mit denen für den Aufbau oder die Stärkung von Massenorganisationen plädiert wird, klingen nur zu vertraut. In aktuellen Debatten über die richtige politische Strategie und das große »Was tun?« tauchen sie unweigerlich auf - sei es im gewerkschaftlichen Spektrum anhand des »Organizing«, unter Erwerbslosengruppen oder in der radikalen Linken an der Frage des Nutzens oder der Notwendigkeit einer linken Partei. Aber an dem »Mangel an historischer Analyse« hat sich wenig geändert. Auch heute werden diese Annahmen wie selbstverständliche Gewissheiten präsentiert, die keiner weiteren Begründung bedürfen. Während die objektiven Formen und Faktoren der kapitalistischen Krise mit größter wissenschaftlicher Präzision und anspruchsvollen historischen Theorien behandelt werden, wird in Debatten über Bewegungen deren Geschichte kaum zur Kenntnis genommen oder nur in sehr doktrinärer Weise als »Beleg« für die jeweilige strategische Vorliebe herangezogen. Dabei weisen schon die simpelsten Beobachtungen darauf hin, dass diese Annahmen nicht so unproblematisch sind, wie sie zu sein scheinen. Dass ausgerechnet die Arbeiterkämpfe in dem westeuropäischen Land mit dem geringsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad als die militantesten und vorbildlichsten in der Krise gelten - Frankreich -, müsste zumindest Fragen auslösen. »Aufstand der Armen« war eine bahnbrechende Studie zur Bewegungsforschung, weil es solche Fragen oder Paradoxien ernst nahm, womit überhaupt jede kritische Wissenschaft beginnen muss. In der Bewegung, in der sie aktiv waren, fiel durchaus einigen auf, dass die Strategie der Massenorganisation, die im August 1967 mit der Gründung der »National Welfare Rights Organization« (NWRO) eingeschlagen wurde, nicht frei von Widersprüchen war. Statt den Druck auf den Staat und die Regierung zu erhöhen, führte die massenhafte und zunächst sehr erfolgreiche Organisierung dazu, dass die Aktionen auf der Straße und den Ämtern zunehmend durch Lobby- und Gremienarbeit ersetzt wurden: »Die Militanz der Bewegung ging, wie zu erwarten war, infolge der umfangreichen Lobby- und Bündnisaktivitäten zurück. Im Jahre 1970 konnten Vertreter der Wohlfahrtsempfänger, die ihre Karriere einst damit begonnen hatten, daß sie Fürsorgeämter stürmten, dann kaum noch mit ihren Terminkalendern Schritt halten, eilten sie nur noch von einer Orts-, Länder- oder Bundeskonferenz zur anderen. Berühmte Leute waren aus ihnen geworden, und so benahmen sie sich auch.« (S. 358) Durch die zeitweilige Anerkennung und Hofierung der NWRO durch Staat und Institutionen merkten die führenden Aktivisten gar nicht, wie ihrer Organisation die eigene Basis wegbrach. 1968 war ein Wendepunkt, es war das letzte Jahr großer Gettounruhen. Nach den üblichen internen Konflikten im Niedergang löste sich die NWRO 1972 auf. Wie P/C später einmal in einer Nachbetrachtung auf ihr Buch gesagt haben, setzten einige der Aktivisten nach wie vor auf die direkte Aktion und das Schüren der Unruhe, weil sie instinktiv spürten, dass sich so materiell mehr durchsetzen ließe - aber sie konnten den Vertretern der Massenorganisationsstrategie theoretisch nichts entgegensetzen. Dies sei einer der Gründe gewesen, »Aufstand der Armen« zu schreiben. Ähnlich heute: Geschichten wie die der NWRO, die uns in der deutschen Geschichte nur zu vertraut sind - denken wir nur an die recht schnelle Integration und Ruhigstellung der zahlreichen Erwerbslosengruppen, die nach der Krise 1980/82 angetreten waren, eine militante Arbeitslosenbewegung zu werden -, werden von den Verfechtern der Massenorganisation mit dem Hinweis auf die allgemeine Käuflichkeit von Menschen oder einzelne schlechte Führer abgetan. Daher geht es P/C darum, an einigen der wichtigsten proletarischen Bewegungen in den USA zu untersuchen, ob es für diese Entwicklungen nicht strukturelle Gründe gibt, die etwas damit zu tun haben, wie Kapitalismus und politische Macht im Kapitalismus funktionieren. Kämpfe in Krise und Nachkriegsboom »Aufstand der Armen« behandelt vier große Kampfzyklen in den USA, die nicht zufällig ausgewählt sind: Die Bewegung der Arbeitslosen in der Großen Depression von 1929 bis 1941 (Kapitel 2), die großen Streikbewegungen Mitte der dreißiger Jahre, auch während der großen Krise, die eine völlige Umwälzung der industriellen Beziehungen in den USA herbeiführten (Kapitel 3), die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner gegen die Segregation und Apartheid in den fünfziger Jahren (Kapitel 4), und schließlich die Bewegung der Fürsorgeempfänger in den sechziger Jahren, die sie aus der Perspektive ihrer eigenen Beteiligung schildern (Kapitel 5). Alle vier Bewegungen stehen in einem engen Zusammenhang und werden auch so behandelt: Die Revolten der Arbeitslosen ab 1930 führten zu »bürgerkriegsähnlichen« Konflikten im Inneren und erschütterten das politische System so weit, dass zur Rettung der herrschenden Ordnung etwas Neues, eben der »New Deal«, vorgelegt werden musste. An diesem und seinem formalen, aber nicht realen Versprechen von gewerkschaftlicher Organisationsfreiheit und Arbeitsschutz knüpften wiederum die Kämpfe der Industriearbeiter an. Ausgeschlossen von den »New Deal«-Versprechen blieben im Nachkriegsboom vor allem die Afroamerikaner, in extremer Weise in den Südstaaten, so dass hier der nächste große Kampfzyklus des Proletariats beginnt, der aber nicht bei der Einforderung politischer Rechte stehen bleibt, sondern dann besonders in den Gettos im Norden zum Kampf um soziale Verbesserungen wird, der sich angesichts des nach wie vor gespaltenen Arbeitsmarkts vor allem in der Forderung nach Einkommen auch ohne Arbeit, also in der Bewegung der Fürsorgeempfänger entlädt. Das Buch ist so nicht nur eine Analyse zum strukturellen Zusammenhang und Widerspruch von Aufruhr und Organisierung, es ist zugleich eine spannend zu lesende Sozialgeschichte der USA. Für die heutige Debatte besonders interessant sind die ersten beiden Protestbewegungen, weil sie zur Zeit einer globalen Wirtschaftskrise stattfinden, deren Dimension die heutige Krise wahrscheinlich auch erreichen oder noch übertreffen wird. In ihrer Mai-Ausgabe schrieb die Zeitung analyse & kritik unter dem Titel »Kleiner Mann, was tun? Keine sozialen Unruhen sind auch keine Lösung«: »Die Krise stellt für die Linke nach wie vor eine Chance dar. Eine Chance, die Wirtschaftskrise in eine Legitimationskrise des Kapitalismus zu überführen und die Linke in die Offensive zu bringen. Geschichte wird gemacht. Machen wir Geschichte!« Genau darum geht es in »Aufstand der Armen«: Wie machen die Armen und Ausgebeuteten Geschichte? Wie setzen sie das herrschende System unter Druck, zwingen es zur Veränderung und verbessern ihre eigene Situation. P/C analysieren das ganz unideologisch. Sicherlich wäre es ihnen auch am liebsten, die Kämpfe hätten den Kapitalismus über den Haufen geworfen, aber sie fragen nach dem, was historisch möglich war und warnen davor, mit Bezug auf höher gesteckte Ziele diese Möglichkeiten nicht wahrzunehmen oder sogar noch zu verbauen. Hier halten sie es mit Rosa Luxemburg: »Wollte es jemand unternehmen, den Massenstreik überhaupt als eine Form der proletarischen Aktion zum Gegenstand einer regelrechten Agitation zu machen, mit dieser »Idee« hausieren zu gehen, um für sie die Arbeiterschaft nach und nach zu gewinnen, so wäre das eine ebenso müßige, aber auch ebenso öde und abgeschmackte Beschäftigung, wie wenn jemand die Idee der Revolution oder des Barrikadenkampfes zum Gegenstand einer besonderen Agitation machen wollte.« (S.50) Was sind überhaupt Bewegungen? Im ersten Kapitel, »Strukturen des Protests«, stellen P/C einige Vorüberlegungen dazu an, warum und in welchen Situationen Bewegungen entstehen können und was überhaupt Bewegungen sind. Letzteres ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens ist mit dem Aufkommen der Redeweise von den »neuen sozialen Bewegungen« der Begriff etwas verschwommen geworden, weil unter diesem Label schon jede Arbeitsgruppe, NGO oder allein die korrekte Gesinnung zur »Bewegung« wird. In »Aufstand der Armen« sind soziale und geschichtsträchtige Bewegungen gemeint, die das System erschüttern und zu deren Kennzeichen es gehört, dass sie das soziale Alltagsleben durcheinander bringen. Salopp und modern gesagt: Von Bewegung in diesem Sinne können wir erst sprechen, wenn die Leute ihre Terminkalender wegschmeißen und Ampeln ignorieren. Zweitens stehen P/C vor dem Problem, dass die Doktrin der Massenorganisation nicht nur politisch übermächtig ist, sondern auch dem Forschungsprozess im Weg steht, weil sie bestimmte Formen des Protests ausblendet: »Was auch immer die intellektuellen Ursachen für diesen Irrtum sein mögen, die Gleichsetzung von Bewegungen mit ihren Organisationen - die zudem voraussetzt, daß Proteste einen Führer, eine Satzung, ein legislatives Programm oder doch zumindest ein Banner haben müssen, bevor sie anerkannt werden - hat den Effekt, daß die Aufmerksamkeit von vielen Formen politischer Unruhe abgelenkt wird und diese per definitionem dem verschwommenen Bereichen sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens zugeordnet werden. Folglich erregen Phänomene wie massive Schulverweigerung, zunehmende Abwesenheit vom Arbeitsplatz, die steigende Flut von Anträgen auf Sozialfürsorge oder die wachsende Zahl von Mietschuldnern kaum die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Beobachter. Nachdem auf definitorischem Wege entschieden worden ist, daß nichts Politisches vorgeht, bleibt auch nichts zu erklären, jedenfalls nicht in den Begriffen des politischen Protests.« (S.30) Hier hat sich in der historischen Forschung in den letzten dreißig Jahren sicherlich viel verändert und untergründige Alltagskonflikte werden heute gesehen und gewürdigt. In der politischen Debatte besteht aber nach wie vor die latente Gefahr, als »unpolitisch« auszublenden, was sich nicht in herkömmliche Muster fügt. Eine weitere Stärke der unideologischen Betrachtung besteht darin, dass sie nicht nur das Aufkommen von Protest, sondern auch dessen Abebben theoretisch fassen können. Das Argument, mit Massenorganisationen könnte Bewegungen eine Kontinuität verliehen werden, widerspricht jeder historischen Erfahrung. Das zeigen P/C detailliert an den von ihnen analysierten Bewegungen - und noch mehr: Sie zeigen auch, wie diese Illusion immer wieder dadurch entsteht, dass Organisationen durch ihre Anerkennung im politischen System für eine zeitlang den Niedergang der Protestbewegung überdauern können. In diesem Sinne liefert »Aufstand der Armen« nicht nur eine Kritik falscher Vorstellungen, sondern leistet auch materialistische Ideologiekritik, indem es zeigt, warum sich die Akteure zwangsläufig falsche Vorstellungen über ihr eigenes Tun machen. Eine neue Theorie der Macht: Störpotential Einzige Ausnahme scheint die Geschichte der Industriegewerkschaften im 3. Kapitel zu sein, weil sie tatsächlich zu einer auf Dauer gestellten Repräsentanz der Arbeiter geführt haben - auch dann noch, als die offene Unruhe abgeflaut war. In »Aufstand der Armen« wird ansatzweise eine Theorie der Macht entwickelt, die von P/C später genauer ausformuliert worden ist. Unter normalen Umständen besteht Macht in der Verfügung über Ressourcen wie Geld, Besitz, Waffen, Ordnungskräfte, Medieneinfluss usw. Die Strategie der Massenorganisation orientiert sich an diesen Quellen der Macht und versucht ihrerseits durch die Zusammenfassung von Menschen und deren Ressourcen eine Gegenmacht zu bilden. Wie aber, so P/C, soll das jemals erfolgreich sein, angesichts der extrem ungleichen Verteilung der wichtigsten dieser Ressourcen in der kapitalistischen Gesellschaft? Wie hätten die Armen unter diesen Umständen jemals den Herrschenden etwas abringen oder aufzwingen können? Mit einer Ressourcen-Theorie der Macht bleibt das rätselhaft, obwohl es in der Geschichte sehr wohl stattgefunden hat. Der Grund dafür muss woanders gesucht werden: Die Proletarier haben keine Ressourcen, um mit der herrschenden Macht zu konkurrieren, aber die Abhängigkeit der Gesellschaft und der politischen Ordnung von ihrer Arbeit, ihrer alltäglichen Befolgung der Regeln gibt ihnen eine Macht des Störpotentials, »disruptive power«, mit der sie zumindest für kurze Zeit Druck ausüben können. An einem einfachen Beispiel machen sie das im einleitenden Kapitel deutlich: »So tadeln Wohlfahrtsbürokraten die Lahmlegung ihrer Ämter durch Fürsorgeempfänger und schlagen ihnen statt dessen vor, lieber eine Lobby im Staatsparlament oder im Kongreß in Washington aufzubauen. Fürsorgeempfänger haben aber meistens nicht einmal die Möglichkeit, in die jeweilige Staats- oder Bundeshauptstadt zu fahren, und wenn einige es dennoch schaffen, werden sie dort natürlich nicht beachtet. Manchmal aber können sie ein Sozialamt durcheinanderbringen und das ist schon schwerer zu ignorieren.« (S. 45) Mit der Illusion, die Quelle der Macht liege in der Organisierung, haben politische Aktivisten und Strategen die tatsächlichen Möglichkeiten von Protestbewegungen nicht nur übersehen, sie haben ihnen oft auch die Spitze abgebrochen und zu ihrer Befriedung beigetragen. Das ist eine der Kernthesen, die sich - sehr viel detaillierter - aus der Analyse der vier Bewegungen ergibt. Mit feiner Ironie schreiben sie in der Einleitung: »Während der kurzen Perioden, in denen Menschen sich erheben und ihrer Empörung >Luft machen<, die Autoritäten, denen sie sich normalerweise unterwerfen, herausfordern - in diesen kurzen Momenten, in denen Unterschichtsgruppen den Staat unter Druck setzen, versagen in der Regel die selbsternannten Anführer, scheitern sie an der Aufgabe, den Massenprotest voranzutreiben. Denn sie sind emsig damit beschäftigt, embryonale Organisationen zu schaffen und lebendig zu erhalten - in der festen Überzeugung, dass diese Organisationen wachsen und zu machtvollen Instrumenten heranreifen werden. So werden die folgenden Untersuchungen aufzeigen, das Gewerkschaftsfunktionäre nur allzuoft Beitrittserklärungen sammelten, während die Arbeiter die Räder stillstehen ließen; daß >organizers< Hauskomitees gründeten, während die Mieter sich weigerten, ihre Miete zu zahlen, und sich auch von der Polizei nicht aus ihren Häusern vertreiben ließen; daß >organizers< bei massiven Gewaltvorfällen, bei Brandstiftung und Plünderung damit beschäftigt waren, Satzungen zu entwerfen.« (S. 21) Hieraus erklärt sich auch, warum einzig die Industriegewerkschaften zu dauerhaften Organisationen werden konnten: »Der Hauptgrund dafür ist, daß keine andere Gruppe über eine vergleichbare Fähigkeit zur Erschütterung verfügt. Eben weil diese Fähigkeit des Streiks, soziale Erschütterungen gewaltigen Ausmaßes hervorzurufen, eingedämmt werden mußte, konnte die Gewerkschaft den Eliten die Ressourcen abringen, die für die Aufrechterhaltung von Massenorganisierung unabdingbar sind.« (S. 200) Aber zugleich wurde damit der Streik und die Störung des Produktionsprozesses ritualisiert und eingeschränkt, was faktisch zum Machtverlust der Arbeiter beitrug. Die Gewerkschaften, so P/C, hätten zu keinem Zeitpunkt wieder solch einen unmittelbaren Einfluss in der politischen Arena ausüben können, wie ihn die Kämpfe Mitte der dreißiger Jahre hatten, aus denen die modernen Industriegewerkschaften in den USA erst hervorgegangen sind. Materialistische Theorie der Subjektivität In der angelsächsischen Debatte gehört »Aufstand der Armen« zu einem der Standardwerke, auf das sich von Kim Moody bis Beverly Silver fast alle beziehen, die über die Perspektiven proletarischer Bewegungen forschen und nachdenken. Die deutsche Ausgabe ist nach ihrem Erscheinen in den achtziger Jahren für ei-ne kurze Zeit in linksradikalen Kreisen sehr enthusiastisch aufgenommen worden, dann aber wieder aus der Diskussion verschwunden, weil schon die Fragestellung nicht mehr in den Zeitgeist passte. Mein kleines und höchst unvollständiges Plädoyer, den Staub vom Buch zu wischen und es als modernen und aktuellen Beitrag zu einer anstehenden Debatte um revolutionäre Subjektivität zu lesen, beruht auf der Einschätzung, dass die globale Krise noch lange nicht vorbei ist und mit ihrer weiteren Verschärfung in den nächsten Jahren all die in den sechziger Jahren gestellten, aber nicht ausdiskutierten Fragen wieder auf die Tagesordnung kommen. Das Buch ist in den meisten Bibliotheken oder auch antiquarisch für kleines Geld zu bekommen. Artikel von Christian Frings, erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 7-8/09 * Christian Frings lebt und arbeitet in Köln. Frances Fox Piven / Richard A. Cloward: »Aufstand der Armen«, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1986, 467 S., antiquarisch, ISBN 3-518-11184-1 |