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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Werner Sauerborn*

Die gewerkschaftliche Sicht auf Europa ist unrealistisch und welt-fremd

Europa - Ausweg aus der Globalisierungsfalle?

Gegen Bolkestein, und für EU-Verfassung?

Ein Beschlusslagenverkünder, wie er vielleicht vor zwanzig Jahren für die Gewerkschaften noch typisch war, hätte seine liebe Not bei den Themen, um die es im Folgenden geht: Zur Globalisierung gibt es Allerweltsbeschlusslagen, die von folkloristischer Solidarität mit der globalisierungskritischen Bewegung getragen sind, die Wunschvorstellung einer gerechten Welt transportieren, inhaltlich aber ziemlich unkonkret sind und der Bedeutung dieser Herausforderung für die Gewerkschaften nicht gerecht werden. Globalisierung ist für die Gewerkschaften im wesentlichen nach wie vor terra incognita.

Anders, aber nicht geringer wären die Probleme mit der Beschlusslage beim Thema EU und Gewerkschaften. Hier gibt es inzwischen zwar viele Wortmeldungen und Beschlüsse - aber mit flagranten Widersprüchen. Mitten in die hochfliegende Europa - Euphorie der Gewerkschaften platzen die Informationen über die (einstweilen suspendierte) Bolkesteinrichtlinie, deren Konsequenzen von einer sozialen Brutalität wären, dass es das schon ziemlich strapazierte gewerkschaftliche Vorstellungsvermögen fast überfordert. Wenn die Konsequenzen so konkret fassbar sind, ist klar: alle Gewerkschaften waren mehr oder weniger eindeutig gegen diese Richtlinie, fordern ihre Rücknahme oder wesentliche Änderungen (ver.di: "Vom Kopf auf die Füße stellen!") - inzwischen ja mit einem wichtigen Teilerfolg!

Andererseits, als stünde sie auf einem ganz anderen Blatt, wird die EU-Verfassung über den grünen Klee gelobt, als ein "Meilenstein" in vielfacher Hinsicht beschrieben, dem nur hier und da einige Schwächen anhafteten (s. stellvertretend für viele die Bewertung unter www.verdi.de ). Das eine, die Kritik an der Bolkesteinrichtlinie und die Mobilisierung dagegen in engem Schulterschluss mit attac und anderen, das andere, die Haltung zur EU-Verfassung, in hartem Gegensatz zu attac, der sich bisher nur am linken Rand der Gewerkschaften zunehmend auflöst.

Diese Haltung zum (Vertrag über eine) EU-Verfassung, übersieht (überliest) und unterschätzt deren durchgängiges Leitbild, bei dem es nicht um Europa an sich, sondern um seine Funktion in der globalen Ökonomie geht. Das gemeinsame Dritte der weiterhin geplanten Dienstleistungsrichtlinie und des EU-Verfassungsvertrags ist die Lissabon-Strategie, das inzwischen berühmt gewordene und berüchtigte, im Abschlussbericht des EU-Ministerratstreffen 19 in Lissabon formulierte Ziel, "innerhalb von 10 Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftraum der Welt zu werden". Europa soll sich als ebenbürtiger global player formieren, um in der globalen Standortkonkurrenz gegen den nordamerikanischen oder den südostasiatischen Raum besser positioniert zu sein. Demokratie, Wirtschaftsverfassung, Außenpolitik - alles wird dieser Funktion untergeordnet (s. hierzu Text von Elke Schenk in diesem Band).

In der gemeinsamen Außen- und "Sicherheitspolitik" geht es um global interventionsfähige militärische Fähigkeiten, sozusagen darum, Europa am Hindukusch "zu verteidigen". In der wirtschaftspolitischen Ausrichtung nimmt die EU-Verfassung eine ganz eindeutige Festlegung auf das neoliberale Dogma vor, nach dem Deregulation bei Umweltschutz und Arbeit, sowie die Senkung von Lohn- und Lohnnebenkosten, der Besteuerung und des Sozialstaatsniveaus die Wettbewerbsfähigkeit erhöhe und am Ende dem Nutzen aller fromme. Anders als das Grundgesetz legt sich der EU Verfassungsvertrag von vornherein auf eine interessengeleitete wirtschaftpolitische Ideologie und auf eine entsprechende Wirtschaftsverfassung fest, deren Scheitern besonders in der sozialen Frage sich in Deutschland und anderen Ländern jeden Tag augenfälliger besichtigen lässt.

Wenn dieser Verfassungsvertrag ein "Meilenstein" ist, dann für die weltmarktorientierten Multis, die deutschen allen voran, und die entwickelten europäischen Industrienationen, bei denen diese Multis tonangebend sind. Sie geben mit dieser Verfassung Europa ihr Gepräge, in dem sie es als Weltmaktkonditionierungsprogramm verstehen und instrumentalisieren. Verglichen mit dieser Europa ökonomisch funktionalisierenden Interessenlage von AutorInnen und ProtagonistInen des Verfassungsentwurfs, sind diese VerfassungskritikerInen die besseren Europäer.

Der einstweiligen Erfolg, dass die Regierungschefs die Dienstleistungsrichtlinie zur Überarbeitung an die Kommission zurücküberwiesen haben, ist der Großdemonstration am 19. März zu danken - und ganz wesentlich Volkes Stimme, denn anders als bei den Gewerkschaften wird in der öffentlichen Meinung sehr wohl der Zusammenhang zwischen Bolkestein und EU- Verfassung, ihre gemeinsame gegen ein soziales Europa gerichtete Tendenz wahrgenommen, und drohte das Nein vor allem beim französischen Referendum zu stärken.

Die eigenartige, im Wortsinne weltfremde Wahrnehmung von Europa bei den Gewerkschaften, die diesen Zusammenhang übersieht, hat vor allem zwei Gründe. Die Konstituierung Europas als formaldemokratischer Akt beeindruckt GewerkschafterInnen, weil sie an ihren tief wurzelnden Verfassungspatriotismus rührt: Die Stärkung des Parlaments gegenüber der Exekutive, die Zug-um-Zug-Durchsetzung des Mehrheitsprinzips, die Herausbildung einer neuen größeren multikulturellen Solidargemeinschaft mit Starken und Schwachen, mit Kleinen und Großen, die demokratische Überwindung der Kleinstaaterei, das alles, was seit vielen Monaten den öffentlichen Europadiskurs bestimmt, weckt Erinnerungen an Paulskirche oder verfassungsgebende Versammlung, an historische Zäsuren also, bei denen die Gewerkschaften und ihre Vorläufer immer auf Seiten der demokratischen Emanzipation standen.

Zweitens wachsen zumindest in Teilen der Gewerkschaften Verdacht oder Einsicht, dass es mit der nationalen Regulationsebene nicht mehr so weit her ist, dass sich deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik, dass sich hiesige Arbeitgeber, immer öfter und erfolgreicher unter Berufung auf globale, jedenfalls außerhalb der politischen Einflusssphäre liegende Notwendigeiten und Sachzwänge den Anliegen von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften entziehen und ihnen zu wider handeln können. Europa ist hier für viele in den Gewerkschaften zur Chiffre für die Befreiung aus der Zwangslage der Erpressbarkeit von außen geworden.

Wie also sollen sich die Gewerkschaften zu diesem Europa stellen, das in seinen wesentlichen Koordinaten jetzt erst einmal fixiert ist und in Form des EU-Verfassungsentwurfs zur Abstimmung oder zumindest zur Bewertung steht. Eher ablehnend à la Reaktion auf Bolkestein oder zustimmend á la Reaktion auf den EU-Verfassungsentwurf? Ist Europa der Weg aus der Krise der Gewerkschaften oder nur der Weg in die nächste Falle?

Um zu wissen, ob etwas hilft oder heilt, muss man zunächst klären, was die Krankheit ist. Um zu wissen, ob Europa ein Ausweg für unsere Probleme ist oder wie genauer wir uns zu Europa verhalten müssten, um wieder in die Vorhand zu kommen, müssen wir klären, was uns seit Jahren so zu schaffen macht, was die ökonomischen Rahmenbedingungen sind, an denen wir als Gewerkschaften ständig scheitern.

Das gewerkschaftliche Dilemma

Nehmen wir als Ausgangspunkt eines Klärungsversuch das gewerkschaftliche Schlüsselerlebnis schlechthin, die derzeit allgegenwärtige und traumatisierende Erfahrung vieler ArbeitnehmerInnen und GewerkschaftterInnen: einen Standortsicherungskonflikt wie bei Siemens oder DaimlerChrysler. Als Idealtypus soll ein Konflikt dienen, bei dem auf der einen Seite ein hochprofitables Unternehmen steht, also nicht das Opfer eines klassischen kapitalistischen Marktbereinigungsprozesses auf dem Höhepunkt der Krise, und auf der anderen Seite eine gut organisierte Belegschaft, ein Betriebsrat, den man früher klassenbewusst genannt hätte (neuerdings "debattenfest" nennt), der jedenfalls alle Schulungen seiner Gewerkschaft über Wirtschafts- und Finanzpolitik, über Makroökonomie und die Bedeutung von Flächentarifverträgen durchlaufen hat, die vielen Broschüren und Folienvorträge dazu verinnerlicht und selber auf Betriebsversammlungen und in Maireden immer vertreten hat.

Diesem Betriebsrat also tritt der Arbeitgeber mit dem Ansinnen gegenüber, ein "betriebliches Bündnis für Arbeit" zu schließen, das im Kern auf eine Senkung der betrieblichen Personalkosten von 20% hinausläuft - wobei er sehr flexibel sei, ob dieses Ziel durch unbezahlte Mehrarbeit oder durch Streichung von Vergütungsbestandteilen erreicht werde - ansonsten er leider gezwungen sei, die anstehende Investitionen in eine bestimmte Produktlinie nicht hier sondern in der Ukraine vorzunehmen. Dies bedeute den mittelfristigen Abbau von X-tausend Arbeitsplätzen am hiesigen Standort. Man bedauere dies auch, aber Abteilseigner und Investmentbanken hätten ihre Erwartungen deutlich gemacht. Das Kostensenkungsziel müsse erreicht werden, wobei es dem Management lieber wäre, wenn dies durch das betriebliche Bündnis und nicht durch Standortverlagerung möglich werde. Welche der beiden gleichermaßen möglichen Wege man gehe, sie die Entscheidung von Betriebsrat und Gewerkschaft.

Wo die KollegInnen in besseren Zeiten vermutlich stehenden Fußes und bestenfalls grußlos die Sitzung verlassen hätte, sind sie diesmal zwar empört, bitten aber um Bedenkzeit, um die vorgelegten Zahlen des Standortkostenvergleichs zu prüfen. Auf Kosten des Arbeitgebers und unter Vermittlung der örtlichen Gewerkschaftsstelle prüft eine gewerkschaftsnahe Unternehmensberatung die Kostenrechnungen und strategischen Szenarien des Arbeitgebers.

Der Fall, dass sich der Vorstoß der Gegenseite als großer Bluff erweist, ist leider die Ausnahme. Zwar können hier und da Übertreibungen aufgedeckt und brachliegende Optimierungsmöglichkeiten am bisherigen Standort gegengehalten werden, aber im Kern lautet die Zusammenfassung: Die Gewinnlage des Unternehmen ist ausgezeichnet, aber sie lässt sich gleichwohl durch die Produktionsverlagerung an einen Billiglohnstandort deutlich steigern auch bei Berücksichtigung von Währungsrisiken, Verlagerungskosten, unterschiedlicher Infrastrukturen und anderen Marktzugängen.

Das gewerkschaftliche Dilemma ist offensichtlich: Gibt der Betriebsrat dem Druck nach, löst dies wie beim Fall des ersten Dominosteins eine Kettenreaktion in der Branche aus, der Flächentarifvertrag gerät mit der Folge von Absenkungen für alle ins Rutschen. Hält die ArbeitnehmerInnenseite dem Druck stand, ist zwar der Flächentarif an dieser Stelle erst mal gesichert, aber Tausende Arbeitsplätze in Folge einer Standortverlagerung sind in Gefahr. Innerhalb der Gewerkschaft kommt es zu einer Zerreißprobe. Die Ebenen, die Verantwortung für die ArbeitnehmerInnen der Branche, makroökonomisch und nachfragepolitisch gar für alle ArbeitnehmerInnen tragen, sind für Standhalten, die Ebenen, vor allem die betriebliche Ebene, die als erstes für die Interessenvertretung der von Arbeitsplatzverlust Bedrohten zuständig sind, tendieren zum Nachgeben.

Am Ende ist das Hemd der betrieblichen Interessenvertretung näher als der Rock des Flächentarifvertrags und der Makroökonomie.

Bis hierher ergeben sich drei Schlussfolgungen:

  1. Der Erpressungsdruck lässt sich nicht an der (ohnehin statistisch kaum abgrenzbaren) Zahl der Standortverlagerungen bemessen (oder mit ihr abstreiten). Der Erpressungsdruck besteht in der "Realität des Möglichen" (Ulrich Beck), das meist nicht eintritt, weil die Erpressung eben zum Rückzug gezwungen hat.
  2. Das erzwungene Nachgeben der Gewerkschaften, über tausend Medienkanäle multipliziert, steht in direktem Widerspruch zu dem zentralen gewerkschaftlichen Programmsatz, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze schafft oder sichert. Genau das Gegenteil ist geschehen: Mit gewerkschaftlicher Billigung und Unterschrift wurden im Einzelfall Tausende Arbeitsplätze durch Lohnverzicht (erstmal) gesichert. Während die Gewerkschaften als inkonsequent, moralisch unzuverlässig und in ihre Argumentation inkonsistent dastehen, speist der Neoliberalismus aus eben diesen Erfahrungen seine falsche Überzeugungskraft. Der Neoliberalismus ist nicht zu schlagen (und die Krise der Gewerkschaften nicht zu lösen), in dem ihm eine "bessere Ideologie" entgegengesetzt wird, weil er sich aus der Erfahrung des oben beschrieben Falls immer wieder reproduziert. Ein Kampf gegen Windmühlenflügel!
  3. Selbst beste programmatische und strategische Qualifizierung der betrieblich und gewerkschaftlich Handelnden kann die Niederlage nicht abwenden, weil diese eine Folge der materiellen Machtkonstellation vor Ort ist und nicht in erster Linie des fehlenden guten Willens oder Klassenbewusstseins ist.

Was also ist das Machtmittel der Arbeitgeberseite, das sie neuerdings so übermächtig gemacht hat und warum wirken die gewerkschaftlichen Gegenmittel, die so lange gut funktioniert haben, nicht mehr?

Kleiner gewerkschaftstheoretischer Exkurs

Durch den staatlich garantierten Schutz des Privateigentums auch an Produktionsmitteln ist das Kapital von vornherein in der "Pole-Position". Ob ein Arbeitsvertrag mit dem einen oder der anderen ArbeitnehmerIn zustande kommt und welcher, ist für den Unternehmer eine Geld-, für die ArbeitnehmerInnen aber eine Existenzfrage. Ihr Gegenmittel ist, moralisch gesagt, die Solidarität, ökonomisch gesagt, der Ausschluss der Konkurrenz der ArbeitskraftanbieterInnen auf dem jeweiligen (Arbeits-)Markt.

Dies funktioniert nur begrenzt auf betrieblicher Ebene. Erst der Flächentarif, das heißt die für alle ArbeitnehmerInnen einer Branche gleichermaßen durchgesetzten Standards schließen die Konkurrenz aus, bilden ein Marktmonopol auf Arbeitskraft. Nur auf diesem Weg eröffnet sich für die Arbeitnehmerinnen eine existenzielle und letztlich auch politische Überlebensperspektive im Kapitalismus.

Ein solches Marktmonopol auf Arbeitskraft hat nichts mit Sozialismus und Umsturz zu tun. Es war in den Jahrzehnten des Rheinischen Kapitalismus ein auch von den Arbeitgebern akzeptiertes Markenzeichen des Modells Deutschland. Der Preis der Arbeitskraft wurde kollektiv zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ( die es nur deswegen und solange diese Mechanismus funktioniert, gibt) verhandelt und festgelegt. Solange die Gewerkschaft dem Arbeitgeber garantieren konnte, dass sein Mitbewerber auf dem jeweiligen Markt Arbeitskraft nicht billiger bekommt, war ihm diese Regel recht. Aber eben dies können die Gewerkschaften seit einigen Jahren und immer weniger garantieren ...

Europa als Instrument zur Herausbildung des globalen Arbeitsmarkts

... weil der Kapitalismus sich infolge einer Revolutionierung seiner technischen Basis radikal verändert hat, ohne dass die Gewerkschaften dies auch nur ansatzweise nachvollzogen hätten. Die Digitalisierung von Kommunikation und Produktion hat vor allem zu zwei andernorts ausführlich beschriebenen Umwälzungen geführt: zu einer Entgrenzung oder Delokalisierung von Produktion und Marktprozessen und zu ihrer Beschleunigung.

Für die Gewerkschaften bedeutet das vor allem, dass sich der Raum, innerhalb dessen sie das Monopol über die Arbeitskraft herstellen müssen, radikal verändert, nämlich ausgeweitet hat. An die Stelle der nationalen nach Branchen gegliederten Arbeitsmärkte, denen entlang sich die nationalen Gewerkschaften organisiert haben, sind zunehmend globale ebenfalls segmentierte Arbeitsmärkte entstanden, die in vieler Hinsicht anders funktionieren.

Klassischerweise stellt man sich Arbeitsmarkt als Bewegung der Arbeit zum Kapital vor. Assoziiert werden die polnischen Zuwanderer, die in der Gründerzeit des vorletzten Jahrhunderts ins Ruhgebiet migrierten und die Stahlbaronen in die Lage versetzen, die beschäftigten Arbeiter gegen die Arbeitssuchenden vor den Werkstoren auszuspielen. Dies durchzieht mit GastarbeiterInnen und Flüchtlingsbewegungen bis zu den heutigen Erscheinungsformen wie Greencard, Entsendegesetz, und ganzen Schiffsladungen polnischer Krankenschwestern, die wie weiland Sklaven in die USA verschifft werden, die Geschichte des Kapitalismus und führt je nach Arbeitsmarktlage und gewerkschaftlichen bzw. politischen Rahmenbedingungen zu mehr oder weniger Absenkungsdruck auf den Preis der Arbeitskraft.

Ob die Bolkesteinrichtlinie entgültig begraben ist, oder vielleicht nach den wichtigsten Referenden zur EU-Verfassung wieder fröhliche Urständ feiert ist noch offen. Würde sie oder etwas Vergleichbares umgesetzt, käme dies einer völligen Deregulation und Aufhebung aller Schutzregelungen auf dem Arbeitsmarkt gleich und würde sowohl eine dramatische Absenkung aller Lohn-, Arbeitszeits- und Sozialstandards, wie auch eine in jüngster Zeit beispiellose Migrationswelle auslösen. Auch hier würde gelten: je mehr Anpassung nach unten, desto weniger Migration und umgekehrt.

Aufschlussreich dabei ist die im Bolkesteinansatz angelegte strukturelle Verunmöglichung der Kontrollen selbst der Standards der Herkunftsländer, indem den externen Dienstleitern nicht einmal eine Registrierungspflicht im Zielland - Begründung wettbewerbsfeindlich ! - abverlangt werden darf, was die Mindestvoraussetzung jeder Kontrolle wäre. Damit wäre der Unterbietungskonkurrenz nach unten überhaupt keine Grenze, nicht einmal mehr die der untersten Standards auf EU-Ebene gesetzt. Über die Installation von regelungsfreien Inseln werden die Tore für einen Weltarbeitsmarkt weit geöffnet, bei denen ganz liberal nur noch Angebot und Nachfrage wie auf allen anderen Warenmärkten den Preis der Arbeitskraft bestimmen.

Eine schnelle und wirksame Absenkung des gesamten europäischen Sozialniveaus erfüllt für die weltmarktorientierten Unternehmen und "ihre" Staaten eine wichtige Rolle im GATS Prozess der Liberalisierung des Welthandels, den übrigens die EU unmittelbar verhandelt. Grundregel dort ist "do ut des", Geben um Nehmen zu können: je niedriger die Sozialstandards in Europa, desto geringer die Widerstände der betroffenen Teile der europäischen Wirtschaft ihre Märkte zu öffnen, desto größer die Möglichkeiten für die weltmarktorientierten Unternehmen, im Gegenzug andere Länder zur Öffnung ihrer Märkte zwingen zu können.

Europäischer Gerichtshof: soziale Gesichtspunkte marktwidrig

Wenn auf einem italienischen Flughafen ein Bodenabfertigungsdienst privatisiert oder verkauft wird, sollte sichergestellt werden, dass das Personal übernommen wird. So sah es ein Decreto legislativo der italienischen Regierung vor, das von der EU-Kommisssion als Verstoß gegen eine einschlägige EU-Richtlinie vor dem EuGH angegriffen wurde.

Dem gab der EuGH am 9. Dezember 2004 mit folgender Begründung statt: Die Richtlinie habe die Öffnung des Marktes der Bodenabfertigungsdienste sowie unter anderem die Senkung der Betriebskosten der Luftverkehrsgesellschaften bezweckt. Die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte würde den Zugang neuer Dienstleister zum Markt für Bodenabfertigungsdienste übermäßig erschweren, die Öffnung des Marktes sowie die rationelle Benutzung der Flughafeneinrichtungen gefährden und die Verringerung der Kosten für die Nutzer in Frage stellen.

s. Alice Wagner in: Infobrief EU international der Arbeiterkammer Wien vom 1.2.2005

Dies zeigt einmal mehr, wie das von den ProtagonistInnen von Lissabon, Bolkestein und EU-Verfassung gemeinte Europa aussehen soll: als ein entscheidender Hebel, über die Senkung von Sozialstandards die globale Wettbewerbsfähigkeit auch bei den Lohnkosten herzustellen. Es geht also nicht um eine Europa als neuem Rahmen oder Grenzbestimmung, in der das Kapital quasi wieder eingefangen werden könnte, in dem es eine neue Chance auf Flächentarife und sozialstaatliche Regulation gäbe. Diesen gewerkschaftlichen Traum, diese Illusion nähren allerlei unverbindliche Formulierungen in den Präambelbereichen, die den Gewerkschaften im Konventsprozess konzidiert wurden. Im harten ökonomische Kern des Verfassungsentwurfs ist dieses Europas jedoch ein Instrument der Globalisierungsstrategie des Kapitals.

Offshoring: Kapital auf dem Weg zur billigen Arbeitskraft

Der zweite Modus der Genese des globalen Arbeitsmarkts ist am besten mit Offshoring zu überschreiben, was den umgekehrten Prozess meint: Kapital bewegt sich zur Arbeit. Auch dies ist historisch nicht neu, erreicht aber in Zeiten der digitalen Revolution und der weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus ganz neue Dimensionen. Die Verlagerung ganzer industrieller Produktionsprozesse oder bestimmter Fertigungsstufen in der Auto- oder elektrotechnischen, in der Druck- oder Möbelindustrie bis hin zur Filmindustrie in Weltregionen, in denen die Arbeitskraft einen Bruchteil dessen kostet, was die Tarifverträge in Industrieländern normieren, ist längst eine realistische und vielfach praktizierte Option vieler Unternehmen.

Vielfach werden auch Dienstleistungen in ausländische Standorte oder Tochterunternehmen ausgelagert. Das kann Finanzdiensleistungsbereiche, Buchhaltungsaufgaben oder Callcenter betreffen. Längst sind in großem Stil Ingenieursarbeiten oder IT- Qualifikationen betroffen, womit eine weitere besonders bei den Gewerkschaften gern gepflegte Lebenslüge auffliegt: es beträfe ja nur die anderen, die Unqualifizierten, aber nicht die Kerngruppen der deutschen Facharbeiterschaft oder die "wissensbasierten" Tätigkeiten. Gern beruft man sich auf die Textilindustrie mit ihrem hohen Anteil niedrig qualifizierter Tätigkeiten, die man in einem Akt der Generosität gern den Entwicklungsländen überlassen habe.

Weit gefehlt: global Arbeitsmärkte kennen keine Ländergrenzen und auch keine Status- und Berufsgruppengrenzen. Wenn industrielle Planungstätigkeit in weltweiten virtuellen Teamräumen stattfindet, wenn kurzfristig und mit wenigen Mausklicks entschieden werden kann, ob ein Airbus zur Reparatur und Wartung in Hamburg oder Schanghai landen soll, wenn ein Reeder oder eine Airline ihre Crew auf den Phillipinen genauso anheuern kann wie in Amsterdam, Hamburg oder Paris, dann stehen ArbeitnehmerInnen in einem Land in ganz direkter Konkurrenz zu ihren KollegInnen in einem anderen Land, egal ob blue oder white collar, egal ob skilled oder unskilled.

Nicht nur Kapital, auch KäuferInnen können dahin gehen, wo Produkte oder Dienstleistungen aufgrund geringerer Arbeitskosten billiger sind. Zahnersatz gibt es ähnlich gut auch in Polen, Hüftoperationen und Schönheitschirurgie sind in Mallorca oder Tschechien zu haben, die Marktzulassungsreife eines neuen Produkts kann von einem Ingenieurbüro in Glasgow oder Budapest genauso geprüft werden wie von einem in Passau. Dass auch der Staatssektor hier und andernorts nicht außen vor ist, führt das baden-württembergische Justizministerium vor, das EDV-Dienstleitungen in Bulgarien einkauft oder belegt umgekehrt die Bertelsmanntochter Arvato aus Gütersloh (3.8 Mrd. € Jahresumsatz weltweit) mit der für 1. Juli vorgesehenen Übernahme der Verwaltung des englischen Landkreises Bast Riding bei York, samt seiner 500 Beschäftigten. Arvato besorgt im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags künftig den Einzug der Müllgebühren für 350 000 EinwohnerInnen, die Gehaltsabrechnung für die Beschäftigten und betreibt das kommunale Bürgerbüro. Ganz bewusst ist Bast Riding als Probelauf für die Eroberung des weltweiten Marktes der kommunalen Verwaltungen ("Schlafender Riese", so Arvato - Manager Rolf Buch/ Mindener Tageblatt 26.2.05) angelegt.

All dies sind Beispiele für Dienstleistungen, die wegen ihrer Ortsansässigkeit oder weil sie Öffentlicher Dienst sind bei den vielen, die die Herausforderung der ökonomischen Globalisierung gern runterkochen, immer als globalisierungsresistent galten. Selbst der vielzitierte Friseur von nebenan gerät unter Druck, wenn jeder Aufenthalt in den Zielgebieten des Massentourismus auch zum Haarschneiden genutzt wird.

Nationale Gewerkschaften anachronistisch

Auf verschiedenen Wegen und Umwegen, von denen hier nur die offensichtlichsten beschrieben sind, haben sich globale Arbeitsmärkte herausgebildet oder befinden sich mit vielen Ungleichzeitigkeiten auf dem Weg dorthin. Logik kann brutal sein: wenn erstens also zutrifft, dass wir es mit tendenziell globalen Arbeitsmärkten zu tun haben und zweitens das Prinzip Gewerkschaft nur funktioniert, wenn es gelingt wenigstens näherungsweise ein Angebotsmonopol auf dem maßgeblichen, dann nämlich globalen Arbeitsmarkt durchzusetzen, dann sind weiterhin den Nationalstaatsgrenzen entlang organisierte Gewerkschaften ein Anachronismus, weil sie nur noch Teilmärkte eines längst globalen Arbeitsmarkts abdecken, was, wie sich täglich zeigt, nur in die Niederlagen führt. Ein Monopol funktioniert eben nur aufs Ganze bezogen, oder es funktioniert nicht!

Umgekehrt gesagt: Auf globalen Arbeitsmärkten können Gewerkschaften den für sie konstitutiven Mechanismus der Gegenmachtentfaltung nur dann in Funktion setzen, wenn sie darauf zielen, die globale Angebotskonkurrenz der Arbeitskraft zu monopolisieren. Dies können letztlich nur global handlungsfähige Gewerkschaften, global unions! Mitgliedsgewerkschaften also (nicht Dachverbände), die die Weltmarktbranchen abdecken, die über gemeinsame Tarifkommissionen und tarifdemokratische Strukturen verfügen, eine gemeinsame Kasse haben, die sie streikfähig macht, die auf globaler Ebene Arbeitgeber zwingen könnte, komplementäre Gegenstrukturen auf zu bauen und Parteien zwingen könnte ArbeitnehmerInneninteressen zu berücksichtigen. Nur eins wäre auf lange Sicht nicht ihre Aufgabe (um einem Missverständnis vorzubeugen): weltweit gleiche Lohn- und Sozialbedingungen herzustellen. Sie hätten für lange Zeit genug damit zu tun, das Absenken der Standards für alle durch wechselseitiges Runterdumpen zu beenden.

Die Konsequenz der global unions ist zwingend und es lässt sich ihr auch nicht entkommen mit Verweis auf den utopischen Charakter diese Ziels oder die Vielzahl von Hürden auf dem Weg dahin. Jedes weitere Jahr mit dem Kopf im Sand (und so haben die Gewerkschaften schon mindestens 10 Jahre seit der Erkennbarkeit des Problems verbracht) wird das Ziel weiter entrücken und zur Utopie werden lassen, ohne dass es einen Weg zurück oder seitwärts vorbei gäbe. (Näheres zu praktischen Konsequenzen, ersten Schritten und zur ITF- Section maritim, der ersten global union, in: Riexinger/Sauerborn, Vorwärts zu den Wurzeln - Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle, VSA, Oktober 2005).

Europa als Zwischenschritt aus der Globalisierungsfalle

Wenn dies die zutreffende Analyse der Lage der Gewerkschaften und der sich daraus ergebenden Konsequenzen ist, was hat dann aus dieser Perspektive Europa für einen Stellenwert für die Gewerkschaften?

Zunächst werden sich die Gewerkschaften auf ihrem Weg nach Europa fast zwangsläufig aus ihrer nationalen Befangenheit lösen und damit in politisch-kultureller Hinsicht ein großes handicap überwinden. Wo sich das Kapital längst aufgrund der Bildungsvorsprünge seiner Protagonisten mit großer Souveränität auf dem internationalen Parkett bewegt, tun sich die KollegInnen schwer. Es fehlt an Erfahrung und Sprachkenntnissen als den elementarsten Voraussetzungen für die Identifizierung und Verfolgung gemeinsamer grenzüberschreitender Interessen. Alle ersten Schritte auf dem Weg nach Europa, ob die Eurobetriebsräte in inzwischen 731 multinationalen Unternehmen, die Koordinationsversuche einer europäischen Tarifpolitik, die Zusammenarbeit in europäischen Dachverbänden und Institutionen oder die Kooperationen in Grenzregionen, dienen diesem Ziel.

Ein weiterer positiver Effekt der Europaorientierung der Gewerkschaften ist, dass die Richtung des Aufbruchs stimmt, in dem sich die Erkenntnis ausdrückt, dass einer nationale Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen sowohl gewerkschaftlich wie politisch immer mehr der Boden entzogen wird, dass eine weitere Konservierung des Handlungsrahmens des Rheinischen Kapitalismus zu immer weiteren Positionsverlusten führen muss.

Diese richtige Blickrichtung und Aufbruchstimmung darf aber nicht in einer unrealistischen, "weltfremden" Europaeuphorie hängen bleiben. So wie Europa sich derzeit konstituiert, werden es die Gewerkschaften mit denselben neoliberalen Totschlagargumenten zu tun bekommen, werden es mit ähnlichen Erpressungskonstellationen und ökonomischen Machtverhältnissen zu tun bekommen, wie sie derzeit die nationale Szenerie prägen. Löhne werden dann nicht unter Berufung auf die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standorts gekürzt (und Arbeitszeiten verlängert und Unternehmenssteuern gesenkt und ...) sondern unter Berufung auf eine europäische Wettbewerbsfähigkeit.

Die Gewerkschaften werden auch in Europa aus ihrer Defensivrolle nicht herauskommen. Wer hier mehr verspricht, weckt Illusionen, die, wenn sie platzen, leicht in einem nationalistischen roll-back enden können. Europa realistisch sehen, heißt, diese Defensivrolle anzunehmen und in Sinne einer langfristigen, über Europa hinausweisenden Gewerkschaftsstrategie konstruktiv zu nutzen.

Europa kann von den Gewerkschaften weder mangels Aussicht auf Erfolg gemieden noch darf es als gelobtes Land verklärt werden, das uns aller gewerkschaftlicher Sorgen entledigen könnte. Europa wird auf fast allen für die Gewerkschaften wichtigen Themenfeldern in den nächsten Jahren zum Ort des Geschehens werden - aber eben nicht zum Ort, an dem die Kräfterelationen definiert werden.

Es ist wie bei einer Wippe: die Kräfte wirken am Drehpunkt, aber die Kraftwirkung kommt vom Ende des Hebels. Dort sitzen die Arbeitgeber, schalten und walten auf globalen Arbeitsmärkten ohne dass ihnen Gewerkschaften und erst recht kein Sozialstaat soziale Auflagen machen können. Wir Gewerkschaften tummeln uns ziemlich in der Mitte der Wippe, rücken vielleicht mit Europa ein bisschen nach außen, aber sind damit noch weit davon entfernt, das andere Ende der Wippe zu erreichen.

Europa realistisch sehen, bedeutet für die Gewerkschaften ...

... erstens, die Chance des Aufbruchs aus ihrer nationalen Befangenheit nutzen, insbesondere in politisch-kultureller Hinsicht,

... zweitens, ihre Defensivrolle anzunehmen, dem Kapital auf den Fersen zu bleiben, um weitere Positionsverluste via Europa zu verhindern. Zur Einflussnahme auf den politischen Prozess ist eine bündnisorientierte Mobilisierung und daraus resultierend eine Stärkung insbesondere der verallgemeinerten Gewerkschaftsfunktion, also des EGB erforderlich,

... drittens, in den einzelnen Branchen trotz schwieriger Rahmenbedingungen eine offensive Tarifpolitik zu betreiben, aus deren Erfahrungen sich Lernprozesse organisieren lassen, die die Perspektive von global unions in den Blick nehmen. Europäische Branchengewerkschaften müssen je nach Branchenstruktur von vornherein als Zwischenebene multinationaler oder globaler Branchengewerkschaften angelegt werden.

Realistisch und illusionslos angegangen ist der gewerkschaftliche Aufbruch nach Europa nicht nur unverzichtbar, er bietet gewerkschaftspolitisch auch Perspektiven. Er zwingt zur Auseinandersetzung mit Krise und Zukunft der Gewerkschaften. Gegen die Angst vor der Zukunft und gegen den denkblockierenden Utopie-Vorwurf hilft ein Blick zurück und einer nach vorn.

Am Anfang der Gewerkschaftsgeschichte stand nicht der Erfolg, sondern das Leitbild einer gerechteren Gesellschaft und die ansteckende Idee eines Wegs dorthin. Ein solches Leitbild, das den KollegInnen, die angesichts der Übermacht der Gegenseite erpressbar sind und ständig in die Knie gehen, vermittelt, wo der strategische Ausweg liegt, wie sie ihre Gewerkschaften weiterentwickeln müssen, um wieder Paroli bieten zu können - ein solches Leitbild fehlt den Gewerkschaften derzeit komplett. Die konkret ausgestaltete Idee aber, die Gewerkschaften dorthin zu bekommen, wo das Kapital schon ist, könnte den neuerdings vom DGB beschworenen "tournaround" bringen.

Mit Europa wird sich das Hase-Igel-Spiel noch ein weiteres Mal wiederholen. Die Gewerkschaften kommen an und das Kapital ist schon weiter. Irgendwann ist jedoch Schluss mit diesem Spiel. Spätestens auf globaler Ebene werden die Gewerkschaften ihren Widerpart endgültig stellen können, weil es dann aus logisch-geografischen Gründen keinen Fluchtweg mehr gibt, weil dann das Ende der Wippe erreicht ist.

Überarbeiteter Vortrag auf des Europakonferenz von attac D am 4./5. März in Stuttgart


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