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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Aktuell in Brüssel: Die Debatte um die Arbeitszeit-Richtlinie der EU Vor dem französischen Referendum ziert man sich ein bisschen Es ist kein Geheimnis (für diejenigen, die es wissen wollen) dass mehrere Entwürfe für wirtschaftsliberale und antisoziale EU-Richtlinien derzeit in den Schubladen schlummern und darauf warten, nach dem französischen und dem niederländischen Referendum ab Juni hervorgeholt zu werden. Die französische KP-nahe Tageszeitung "L`Humanité" vom gestrigen Donnerstag zitiert ihrer sechs. Es geht um die Privatisierung bzw. Wettbewerbs-Öffnung des Personentransports (nach der bereits begonnenen beim Gütertransport); um jene der Häfen; um das Patentrecht bei Computerprogrammen, wo den kostenlosen Programmen à la Linux der Garaus bereitet werden könnte... Und natürlich wartet die nur vorläufig zurückgenommene Dienstleistungs-Richtlinie des Herrn Frits Bolkestein darauf, nach den bevorstehenden Abstimmungen wieder auf den Tisch gelegt zu werden. Dagegen debattierte das Europäische "Parlament" in Brüssel (in Anführungszeichen dessen, weil es keinerlei eigenes Gesetzgebungs-Initiativrecht besitzt, was ein Parlament normalerweise ausmacht) am Mittwoch, 11. Mai über die Arbeitszeit-Richtlinie. Es handelt sich um eine Überarbeitung der seit 1993 auf EU-Ebene geltenden Bestimmungen. Diese sehen bisher vor, dass die Arbeitszeit (sofern keine günstigeren nationalen Bestimmungen bestehen) nicht die durchschnittliche Dauer von 48 Stunden überschreiten darf. Dabei soll die Durchschnittsdauer über einen Zeitraum von 4 Monaten als Bewertungsgrundlage genommen werden. Gleichzeitig sieht das bisher geltende EU-Recht einen "opt-out" genannten Mechanismus vor: Demnach können abhängig Beschäftigte in ihrem Einzelarbeitsvertrag individuell auf die Einhaltung der Arbeitszeit-Obergrenze "verzichten". Das ist in mehreren EU-Ländern (darunter Deutschland, Frankreich und Spanien) derzeit im öffentlichen Krankenhauswesen vielfach der Fall. Insbesondere Großbritannien wendet diesen "Opt out"-Mechanismus exzessiv an. In vielen Sektoren haben die Lohnabhängigen natürlich nicht die Wahl, sofern sie einen Arbeitsplatz "erhalten" bzw. nicht verlieren wollen, und so arbeiten manche britischen Lohnabhängigen bis zu 70 Stunden pro Woche. Dies ist auf der Insel heute vor allem an den beiden entgegen gesetzten Enden des Lohnabhängigen-Spektrums der Fall: Einerseits bei den Brokern der Londoner City und den hoch bezahlten Angestellten von Marketing- und Werbeagenturen, andererseits bei Arbeitern auf dem Bau, Hotelangestellten und Saisonarbeitern in der Landwirtschaft. Insgesamt sind in Großbritannien 4 Millionen Menschen vom "Opt-out" betroffen. Das Votum vom Mittwoch Die Neuregelung, über die das Europa"parlament" am Mittwoch dieser Woche abzustimmen hatte, wirkt in zweierlei Richtungen. Einerseits wird die Referenzperiode, für welche die durchschnittliche Wochenarbeitszeit berechnet werden soll, von derzeit 4 Monaten auf künftig 12 Monate ausgedehnt. Damit muss die Obergrenze von 48 Stunden nur noch "auf`s Jahr" erreicht werden, was den Arbeitgebern bereits eine weitgehende Flexibilität im Umgang mit "ihren" Arbeitskräften ermöglicht. Andererseits soll, so lautete der von dem spanischen Sozialisten Alejandro Cercas vorgeschlagene "Kompromiss", der Opt out-Mechanismus bis zum 1. Januar 2010 verschwinden. Bis dahin wird eine neue Obergrenze festgelegt, die bei 65 Stunden Wochenarbeitszeit fixiert ist (für jene Beschäftigten, die von den "individuellen Ausnahmen" nach dem Opt out-Prinzip betroffen sind). Und schließlich enthält das "Kompromisspaket" auch die Einigung über die Bezahlung bon so genanntem Bereitschaftsdienst; das betrifft beispielsweise Ärzte, Krankenschwestern und manche Nachtwächter, die während dieser Periode zwar im Prinzip nicht aktiv arbeiten, aber jederzeit herbeigerufen oder wachgeklingelt werden können. Dieser Bereitschaftsdienst soll zwar künftig im Prinzip als Arbeitszeit gelten und auch bezahlt werden, aber nach einem Umrechnungsmodus, bei dem jedem EU-Land freigestellt ist, ob es einen zwölfstündigen Bereitschaftsdienst "als 10 Stunden, 5 Stunden oder auch 2 Stunden Arbeitszeit", so die französische sozialistische EU-Parlamentarierin Françoise Castex. Dieses "Kompromisspaket" erhielt am Mittwoch eine Mehrheit von 378 Stimmen gegen 262. Es ist offenkundig, dass das Zustandekommen eines solchen Mehrheitsblocks zumindest zum Teil dem Herannahen des französischen Referendums zu verdanken ist: Aus Frankreich stimmten ihm nicht nur Sozialisten und Grüne zu, sondern auch die christdemokratische UDF, die konservative Regierungspartei UMP und der rechtsextreme Front National. So schien vorübergehend fast eitel Einigkeit zu herrschen mal sehen, wie es nach dem Referendum darum stehen wird... Dagegen stimmte die Mehrheit der Europäischen Vereinigten Linken, in deren Fraktion auch die französische KP sitzt, gegen den "Kompromiss", weil dieser noch zu viel anti-soziale Bestimmungen enthalte. (Der Fraktionsvorsitzende, der französische Parteikommunist Francis Wurtz, enthielt sich dagegen der Stimme.) Auch die 19 britischen Labour-Abgeordneten im Europa"parlament" stimmten für den "Kompromiss". Dagegen hat die Regierung unter Premierminister Tony Blair angekündigt, europaweit eine Kampagne gegen ihn führen zu wollen, um ihn zu torpedieren und um die "Opt out"-Regelung beibehalten zu können. Unter den Ländern, die auf EU-Ebene mit der britischen Position übereinstimmen, nennt die Pariser Abendzeitung "Le Monde" in dieser Reihenfolge: "Deutschland (!!), Polen, aber auch die Slowakei, Lettland und Malta". Welche Konsequenzen? Welche Folgen wird das Votum vom Mittwoch haben? Der Beschluss ist auf jeden Fall nicht bindend. Die Änderungen, die das Europa"parlament" an der Vorlage der Kommission (also der Brüsseler Exekutive, des Technokratenorgans, das die EU anführt) vorgenommen hat, können vom Ministerrat wieder gekippt werden. Nun steht die Ausweitung der Referenzperiode von 4 auf 12 Monate im Entwurf der Kommission, dagegen ist die Streichung des "Opt out"-Mechanismus vom EP vorgenommen worden. Der amtierende EU-Kommissar für Arbeit und Beschäftigung, der Tscheche Wladimir Spidla, hat bereits angekündigt, dass die Brüsseler Kommission ihrerseits diese Initiative des Parlaments die Streichung des "Opt out" nicht akzpetieren wird. Nur, wenn der Ministerrat (als Vertretung der nationalen Regierungen) die Änderung durch das Europa"parlament" einstimmig unterstützt, gilt diese als angenommen. Widrigenfalls wird die Änderung gestrichen, kann aber in einer zweiten Lesung nochmals vom Europäischen "Parlament" angenommen werden, woraufhin sie vor einen Ermittlungsausschuss kommt. Im zweiten Anlauf trifft der Änderungsantrag des EP allerdings auf eine höhere Hürde: Die absolute Mehrheit der abstimmenden Mitglieder muss mit "Ja" votieren (während in der ersten Lesung die "Ja"-Stimmen nur die Zahl der "Nein"-Stimmen überwiegen muss, ungeachtet der Enthaltungen und eventuellen ungültigen Stimmen). Befürworter der EU-Verfassung unter den französischen Sozialdemokraten behaupten derzeit, sie vertrauten darauf, dass eine solche Mehrheit auch im zweiten Anlauf erreicht werde. Tatsächlich stimmten 378 Mitglieder des EP in erster Lesung dem "Kompromiss" zu, und 367 müssten es im zweiten Anlauf sein. Nur: Das zweite Mal wird nach dem Referendum abgestimmt werden. Ob die Mehrheitsverhältnisse dann noch so aussehen wie vorgestern... Abwarten und Wetten abschließen? Artikel von Bernard Schmid vom 16.5.05 |