Home > Diskussion > EU > Sopo > azricht_neu | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Angriff auf die EU-Arbeitszeitrichtlinie Kommission und Parlament weichen Schutzstandards auf - von Klaus Dräger * Europaweit trommeln die Unternehmerverbände für eine Verlängerung und weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Sie finden willige Helfer in den meisten Regierungen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union sollen nun bestehende soziale Mindestvorschriften ausgehöhlt werden: Es geht um die Revision der EU-Arbeitszeitrichtlinie, deren bisheriges >Mindestniveau< nun noch weiter unterschritten werden könnte, wenn sich nicht eine breite kritische Öffentlichkeit des Themas annimmt und die von Kommission bzw. Parlament geplanten Richtlinienentwürfe - ähnlich wie im Falle »Bolkestein« - zu Fall bringt. Klaus Dräger berichtet über den Stand der Revisions-Verhandlungen und die geplanten Entwürfe. Das Europäische Parlament hat am 11. Mai 2005 mit einer Mehrheit von 355 zu 272 Stimmen und 31 Enthaltungen Änderungsanträge zum Vorschlag der Kommission zur Revision der EU-Arbeitszeitrichtlinie beschlossen. Berichterstatter für das Europäische Parlament war der spanische Sozialdemokrat Alejandro Cercas. Für den sog. »Cercas«-Bericht mit seinen Änderungsvorschlägen stimmte eine Große Koalition von Sozialdemokraten (PSE), Grünen (V-ALE) sowie Teilen der Konservativen (PPE-DE) und Liberalen (ALDE). Vertritt die Mehrheit der Europaparlamentarier nun einen »ausgewogenen Kompromiss«, oder unterstützt sie Kommission und Rat beim Schleifen sozialer Schutzstandards? Noch ist die Richtlinie nicht verabschiedet, und um diese Frage beurteilen zu können, ist ein Blick auf die jeweiligen Positionen der beteiligten Akteure und Institutionen notwendig: Die Europäische Kommission will, ginge es nach ihrem eigenen Revisionsvorschlag, das individuelle Opt-out (d.h. die Überschreitung der maximalen wöchentlichen Durchschnittshöchstarbeitszeit von 48 Stunden per individueller Vereinbarung (siehe unten); weiter erhalten. In Betrieben ohne bestehende Kollektivvereinbarung oder ohne anerkannte Arbeitnehmervertretung soll das individuelle Opt-out mit bestimmten Einschränkungen weiterhin gelten. Für viele Kleinunternehmen und »gewerkschaftsfreie« Betriebe würden unhaltbare Zustände wie in Großbritannien also weiter gehen. Darüber hinaus will die Kommission erreichen, dass das Opt-out auch durch Kollektivverträge genutzt werden kann, um Wochenarbeitszeiten von mehr als 48 Stunden zu vereinbaren. Genau dies sieht bereits das seit dem 1. Januar 2004 geltende neue deutsche Arbeitszeitgesetz für das Gesundheitswesen und die Pflegedienste vor. Bis zum 31. Dezember 2005 sollen Gewerkschaften (ver.di) und Arbeitgeber Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen über längere Arbeitszeiten (einschließlich Bereitschaftszeiten) auf Basis des Opt-outs abschließen können. Mit einem allgemeinen Opt-out per Tarifvertrag kämen die Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen noch zusätzlich unter Druck. Entweder sie unterzeichnen »Opt-out«-Verein-barungen, oder sie werden von den Unternehmerverbänden nicht mehr als Vertragspartner anerkannt. Die Kommission liefert den Arbeitgebern damit einen kräftigen Knüppel, um Arbeitszeitverlängerung durchzuprügeln. Das Europäische Parlament fordert dagegen, das Opt-out 36 Monate nach Inkrafttreten der geänderten Arbeitszeitrichtlinie gänzlich abzuschaffen. Auf Basis des Opt-outs geschlossene Arbeitsverträge sollen danach noch maximal ein Jahr gelten dürfen - insgesamt also eine Übergangsfrist von vier Jahren bis zur endgültigen Abschaffung dieser Ausnahmeregelung. Die Linksfraktion im Europäischen Parlament wiederum forderte eine schnellere Abschaffung des Opt-outs (bis 2008), unterstützt aber die Position des Parlaments zur Abschaffung des Opt-outs mit aller Kraft. Angriff Nr. 1: Flexibilisierte Jahresarbeitszeit Die Europäische Kommission will den Mitgliedstaaten ermöglichen, per Gesetz oder Verordnung den Bezugszeitraum für die Messung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit generell auf zwölf Monate auszudehnen. Nach der geltenden EU-Arbeitszeitrichtlinie ist dies nur auf Basis von Kollektivvereinbarun-gen möglich. Regierungen könnten so an den Gewerkschaften vorbei erheblich größere Spielräume zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten im Unternehmerinteresse schaffen. Das Europäische Parlament will zwar die bisherige Regelung zu Kollektivvereinbarungen beibehalten. Aber seine Mehrheit will den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen, durch Gesetze und Verordnungen den Bezugszeitraum auf zwölf Monate für jene Bereiche auszuweiten, deren Beschäftigte keiner tarifvertraglichen Regelung oder Betriebsvereinbarung unterliegen. Dafür stellt es zwei Bedingungen: Erstens müssen die Beschäftigten vor der Einführung oder Änderung entsprechender Arbeitszeitregelungen informiert und angehört werden - mitbestimmen können sie also nicht. Zweitens soll der Arbeitgeber Maßnahmen ergreifen, um mögliche Risiken der Arbeitszeitorganisation für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zu vermeiden. Wenn diese aus Sicht der Belegschaften unzureichend sind - welche Rechte und Einflussmöglichkeiten haben diese dann? Diese schwachen Bedingungen errichten keine ernsthaften Hindernisse für die Unternehmensleitungen, ihren Willen bei der Einführung oder Veränderung flexibler Arbeitszeitorganisation voll durchzusetzen. Die Unternehmerverbände könnten bestehende Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge zu Jahresarbeitszeitkonten kündigen und dann die (wahrscheinlich schlechteren) Bedingungen nutzen, die neue Gesetze und Verordnungen als Mindeststandards verankern. Angriff Nr. 2: Bereitschaftszeiten Der Europäische Gerichtshof hat in bislang drei Urteilen (SIMAP 2000, Jäger 2003, Pfeiffer 2004) verfügt, dass am Arbeitsplatz verbrachte Bereitschaftszeiten voll als Arbeitszeit bewertet werden müssen. Ferner müssen Ausgleichsruhezeiten unmittelbar im Anschluss an eine Arbeitsperiode mit Bereitschaftszeiten gewährt werden. Der Gerichtshof hat dabei die bestehenden Bestimmungen der EU-Arbeitszeitrichtlinie dahingehend ausgelegt, was unter den Begriff der Arbeitszeit fällt und was nicht. Die Urteile stärkten die Position der Beschäftigten im Gesundheitswesen und Rettungsdiensten. Die Europäische Kommission schlägt vor, bei Bereitschaftszeiten zwischen einem aktiven und einem inaktiven Teil zu unterscheiden. Als aktiver Teil gilt, wenn auf ausdrückliche Aufforderung durch den Arbeitgeber Arbeitstätigkeit verrichtet wird. Der »inaktive« Teil soll nicht als Arbeitszeit gewertet werden. Die Gewährung von Ausgleichsruhezeit soll bis zu 72 Stunden (d.h. sieben Arbeitstage) aufgeschoben werden können. Damit werden nicht nur die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auf den Kopf gestellt. Die Neudefinition der Bereitschaftszeit widerspricht auch z.B. der geltenden EU-Richtlinie (2002/15/EG) über die Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausüben. Dort wird Bereitschaftszeit definiert als Zeitraum, in dem der Arbeiter nicht frei über seine Zeit verfügen kann und sich am Arbeitsplatz bereithalten muss, um normale Arbeitstätigkeit aufzunehmen. Diese Bereitschaftszeit wird nach dieser Richtlinie vollständig als Arbeitszeit gewertet. Auch das Europäische Parlament übernimmt die Unterscheidung der Kommission zwischen einem aktiven und einem »inaktiven« Teil der Bereitschaftszeit. Zwar soll auch der inaktive Teil als Arbeitszeit gelten. Durch Kollektivverträge oder Gesetze und Verordnungen der Mitgliedstaaten soll dieser »inaktive Teil« aber »besonders gewichtet« werden können. Dies könnte zum Beispiel heißen, dass acht Stunden »inaktiver« Bereitschaftszeit nur als zehn Minuten, als eine Stunde oder voll als Arbeitszeit gewertet werden. Die Ausgleichsruhezeit soll »nach« (following) einer Arbeitsperiode mit Bereitschaftsdienst gewährt werden, in Übereinstimmung mit den entsprechenden gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Bestimmungen. »Nach« ist eine sehr unbestimmte Zeitspanne - sind das zehn Minuten, eine Stunde, zwei Wochen? Die inakzeptablen 72 Stunden des Kommissionsvorschlags erscheinen hiergegen noch als konkret. Geht es nach dem Europäischen Parlament, dann erhält auch die Bundesregierung ein Instrument an die Hand, die mühsam erstrittene Neuregelung des deutschen Arbeitszeitgesetzes wieder zu kippen oder auf dem Verordnungsweg für eine andere Interpretation (Anrechnungsmodus) zu sorgen. Das Bundesarbeitsgericht in Deutschland hatte in seiner Entscheidung vom 18. Februar 2003 bekanntlich den Standpunkt des Europäischen Gerichtshofs zur Bewertung von Bereitschaftszeiten übernommen. Als Reaktion auf diese Urteile ist in Deutschland zum 1. Januar 2004 ein neues Arbeitszeitgesetz in Kraft getreten. Es bestimmt wenigstens im Grundsatz, dass Bereitschaftszeiten bei der wöchentlichen (48 Stunden) und täglichen (acht bzw. zehn Stunden) Höchstarbeitszeit anzurechnen sind. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder mahnt bereits, dass im Bereitschaftsdienst in Krankenhäusern allgemeine Visiten oder das Schreiben von Berichten als »inaktive« Bereitschaftszeit gelten müssen - und damit nicht als Arbeitszeit! Auch außerhalb des Gesundheitswesens könnte normale Arbeitszeit als »inaktive« Bereitschaftszeit umgedeutet werden - z. B. Wartezeiten von Kellnerinnen, Servicekräften usw. Sozialpolitische »Rolle Rückwärts« in Europa? Sozialpolitische Mindestvorschriften der EU spiegelten bisher zwar meist nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Mitgliedstaaten mit hohem und solchen mit niedrigem Sozialschutzniveau wider. Doch es bestand stets ein partei- und länderübergreifender Konsens, dass das europäische Mindestschutzniveau im Geiste des sozialen Fortschritts anzuheben sei, wenngleich dies meist nur langsam und in kleinsten Schritten geschah. Damit ist es nun vorbei. Die EU-Institutionen wollen den Rückwärtsgang einlegen. Das ist eine historische Wende in der EU-Politik. Die Europäische Kommission ist fest entschlossen, die ohnehin schwachen Mindeststandards der EU-Arbeitszeitrichtlinie zu schleifen. Das Europäische Parlament schlägt einen Tauschhandel vor: Abschaffung des Opt-outs gegen Zugeständnisse zur weiteren Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Aushebelung der EuGH-Urteile. Insofern kommt es der Kommission in entscheidenden Punkten bereits weit entgegen. Sowohl die Europäische Kommission als auch eine starke Blockademinderheit um Großbritannien im Europäischen Rat sind gegen die Abschaffung des Opt-outs. Europaabgeordnete von New Labour, welche mit der Mehrheit des Parlaments für die Abschaffung des Opt-outs gestimmt hatten, haben bereits erklärt, dass sie dies nur aus taktischen Gründen taten. Für sie kam es darauf an, dass vor allem die Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die Aushebelung der EuGH-Urteile vom Parlament mitgetragen werden. In den nächsten Verhandlungsrunden zwischen Parlament, Rat und Kommission bis zur Zweiten Lesung der Veränderung der Arbeitszeitrichtlinie wird also Druck auf das Parlament aufgebaut, in punkto Opt-out nachzugeben. Ob der Tauschhandel danach überhaupt aufgeht, ist sehr fraglich. Und selbst wenn er erfolgreich wäre, käme immer noch eine deutliche Schwächung der bestehenden Richtlinie dabei heraus. Wenn die Vorschläge zur Verlängerung des Bezugszeitraums auf zwölf Monate in der einen oder anderen Form durchkommen, dann sind ohnehin sehr viel längere Wochenarbeitszeiten als 48 Stunden möglich. Schon jetzt kann auf Basis des Standard-Bezugszeitraums von vier Monaten die Arbeitszeit in einer einzigen Woche auf bis zu 78, und unter bestimmten Bedingungen sogar auf 89 Stunden ausgeweitet werden. Das Hauptinteresse der Unternehmerverbände liegt in der Durchsetzung des »atmenden Unternehmens«: Arbeitszeiten nach Auftragslage. Eine allgemeine 60-Stunden-Woche will kaum ein Unternehmen bezahlen - aber eben die Möglichkeit haben, bei geringeren Kosten die Belegschaften mal 65 Stunden oder mal 35 Stunden pro Woche arbeiten zu lassen. Mit allgemeinen Jahresarbeitszeitkonten sind überlange Arbeitszeiten auch ohne das Opt-out bequem zu erreichen. So leistet die europäische Ebene im Wesentlichen Schützenhilfe für die Kampagne von Unternehmern und Regierungen, längere und flexiblere Arbeitszeiten in den Mitgliedstaaten durchzudrücken. In Frankreich attackierte die Raffarin-Regierung die 35-Stunden-Woche. In der Bundesrepublik sind Arbeitszeitverlängerungen nicht nur bei Beamten und Lehrern im öffentlichen Dienst an der Tagesordnung. Die noch amtierende rot-grüne Bundesregierung will die Arbeitszeiten noch flexibler machen. Die Opposition von CDU/CSU und FDP fordert generell längere Arbeitszeiten. Im Sommer 2004 setzte Siemens die 40-Stunden-Woche in zwei Betrieben durch und vermeldete im November 2004 einen Rekordgewinn in Milliardenhöhe. Dieses Beispiel hat inzwischen Schule gemacht - nicht nur bei Großkonzernen wie Daimler Chrysler, General Motors, Karstadt usw., sondern auch in vielen mittelständischen Unternehmen in Deutschland. In vielen EU-Staaten gibt es vergleichbare betriebliche »Pakte zur Standortsicherung«, welche die Belegschaften zu längeren und flexibleren Arbeitzeiten, zu Abstrichen bei Entgelten und sonstigen Leistungen gezwungen haben (concession bargaining). Nahezu alles, was die europäische Arbeiterbewegung seit 1919 in punkto Begrenzung der Arbeitszeiten erreicht hat, ist zur Disposition gestellt und bereits ein gehöriges Stück zurück gedrängt worden. Hinzu kommt: Arbeitzeitverlängerung bei gleichem Monatsgehalt ist schlicht Lohnsenkung. Dieser soziale Rückschritt wird von den EU-Institutionen mit der einlullenden Formel von der »neuen Balance zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit« schönfärberisch verbrämt. Linke, hört die Signale? Die wackeren Gallierinnen und Gallier hatten mehrheitlich die Schnauze voll von dieser Sorte Europapolitik. Sie stimmten am 29. Mai 2005 mit Nein beim französischen Referendum über eine EU-Verfassung, die ihnen als zu neoliberal erschien. Ein Akt der »sozialen Rache«, wie manche Kommentatoren zu Recht meinen. Nicht nur der Bolkestein-Hammer (Dienstleistungsbinnenmarkt), sondern auch die geplante Änderung der Arbeitszeitrichtlinie und die marktradikale Liberalisierungspolitik der EU erzürnten die Gemüter der Erwerbstätigen, Erwerbslosen und kleinen Selbständigen. Kommission und Rat sind konsterniert, wollen angeblich nachdenken, aber orientieren zunächst stur auf »weiter so«. Das psychologische Signal des massenhaften Neins zu fortgesetzter neoliberaler Politik wird seine Schockwellen aber weiter verbreiten - und nicht nur in Frankreich. In Deutschland wäre schon mal ein Anfang gemacht, wenn die »üblichen Verdächtigen« ihre Antennen auf »Empfang« ausrichteten. Konkret zur Arbeitszeitrichtlinie könnte das bedeuten:
Mit einer schnellen Verabschiedung der veränderten Richtlinie ist aufgrund der Blockade im Rat und der europäischen Großwetterlage nach dem französischen »Nein« nicht zu rechnen. Das gibt uns Zeit, auf eine Veränderung der Kräfteverhältnisse hinzuwirken. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/05 * Klaus Dräger ist Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament und im Beirat der EU-AG von Attac Deutschland |