letzte Änderung am 4. Sept. 2002

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Abweichende Zeitwünsche ernstnehmen

Norbert Engelhardt zu Grundproblemen und Perspektiven gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik, Teil II

Sofern überhaupt noch Gegenstand einer politischen Debatte – von einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung ganz zu schweigen – wird Arbeitszeitverkürzung auch in den Gewerkschaften oftmals nur noch als beschäftigungspolitisches Instrument thematisiert. Voraussetzung dafür, dass Arbeitszeitverkürzung selbst nur in dieser instrumentellen Perspektive »funktioniert«, ist und bleibt jedoch, dass sie nicht über Flexibilisierungseffekte kompensiert wird. Das ist auch der IGM klar, wenn sie angesichts der offenkundigen Schwierigkeiten, Flexibilisierungsbedürfnisse und Beschäftigungseffekte zur Quadratur des Kreises verbinden zu wollen, vor der zentralen Herausforderung kapituliert, indem sie auf kollektive, überbetriebliche Begrenzungen von vornherein verzichtet und Arbeitszeit-Regelungen am liebsten ganz auf die betriebliche Ebene verschieben würde. Mit dem Beitrag von Norbert Engelhardt im Rahmen der express-Dokumentationsreihe erinnern wir daran, dass Arbeitszeitverkürzung in einer emanzipatorischen Perspektive immer mehr war als ein Instrument: Die partielle Reduktion der Fremdverfügung über die Lebenszeit bedeutet ganz banal – partielle – Freiheit von Lohnarbeit und zugleich Möglichkeit der Reflexion, der gemeinsamen Erfahrung und Willensbildung auf dem Weg zu gesellschaftlicher Selbstbestimmung – ein radikales und uneingelöstes Ziel. Wie dies trotz und angesichts der »Auflösung der zeitlichen Homogenität in der Alltagsstruktur der abhängig Beschäftigten«, die weniger zu einem »Freiheitsgewinn«, sondern eher zu einer zunehmenden Durchdringung des Alltags von der »abstrakten Logik der Kapitalverwertung« geführt hat (Engelhardt, Teil I), angegangen werden kann, darüber mehr in Teil II:

 

Neben der Ausweitung der Betriebsnutzungszeiten ist eine andere Dimension der Kapitalinteressen in Hinsicht auf Arbeitszeitflexibilisierung das Bestreben, die verfügbare Arbeitskraft möglichst variabel an schwankende Betriebsanforderungen anzupassen. Im Kern geht es dabei um das Ziel, Leerzeiten bei der Nutzung der Arbeitskraft zu vermeiden, die Arbeitskraft flüssig zu halten für auftrags- oder produktionsbedingte Kapazitätsschwankungen. Die einheitliche Normierung des Arbeitstages mit fest stehenden Arbeitszeiten steht solchen Kapitalinteressen bisher entgegen.

Variabilisierung bei der Lage und Verteilung der Arbeitszeit

Flexibilitätsinteressen wurden bisher überwiegend in Mehrarbeit umgesetzt oder zum Teil über betriebliche Gleitzeitsysteme aufgefangen. Es scheint so, dass diese Instrumente den Unternehmen nicht mehr ausreichen. Im Rahmen eines allgemeinen Trends zu erhöhter Produktionsflexibilität nimmt auch der Druck zu, die Arbeitszeit solchen Flexibilitätsinteressen anzupassen. Die Ursachen will ich nur kurz andeuten: In verschiedenen Konsumgütermärkten ist die Nachfrage äußerst labil, es kommt verstärkt zu zyklischen Schwankungen in der Nachfrage und zu einem erhöhten Anpassungsdruck an kurzfristige Modetrends und veränderte Käufergewohnheiten. Damit verbunden ist generell die Tendenz zur Verringerung der Lagerhaltung. Darüber hinaus lässt die Verkettung von Betriebseinrichtungen oder ganzen Produktionen bis in die Zulieferbetriebe im Rahmen neuer Produktionskonzepte, bekannt unter dem Stichwort Just-in-Time-Produktion, bisherige Formen der Arbeitszeitgestaltung fragwürdig werden. Gefordert ist die Bereitschaft der Betriebe, die Produktionskapazität kurzfristig und zugeschnitten auf bestimmte Aufträge hochzufahren und sie in der Folgezeit wieder auf ein Minimum zu begrenzen.

Für solche Betriebsanforderungen werden zunehmend neue Formen der Arbeitszeitgestaltung entwickelt und erprobt. Die Regelungen sind dabei im Einzelnen unterschiedlich, gemeinsamer Nenner ist aber meistens, dass die Arbeitszeit über die Woche und den Monat hinaus offen gehalten wird und in längeren Zeiträumen variabel regelbar sein soll mit der Perspektive auf variable Jahresarbeitszeitverträge. Es wird zunehmend üblich, dass individuelle Arbeitszeitverträge mit offenem Zeitumfang geschlossen werden oder betriebliche Zeitkontensysteme errichtet werden, in denen Mehrarbeit und Freizeitausgleich gegeneinander verrechnet werden. Während es bisher überwiegend im Angestelltenbereich üblich war, dass im Rahmen von Gleitzeitregelungen Zeitguthaben und Zeitschulden gegeneinander verrechnet wurden, dringen solche Arbeitszeitsysteme allmählich in den Arbeiterbereich vor. Daneben gibt es auch auf der Seite der Beschäftigten unübersehbare Interessen, persönliche Zeitwünsche bei der Lage und Gestaltung der Arbeitszeit einzubringen. Ein wesentlicher Teil solcher Zeitwünsche richtet sich auf die variable Gestaltung des täglichen Arbeitsbeginns und Arbeitsendes. Die rigide Einhaltung starrer täglicher Arbeitszeiten mit pünktlichem Arbeitsanfang und pünktlichem Arbeitsende hat nicht immer etwas mit den technischen und arbeitsorganisatorischen Betriebsanforderungen zu tun. Wenn es gelingt, derartige Konventionen durch variierbare Arbeitszeiten aufzulösen, dann kann damit ein Stück Lebensqualität gewonnen werden. Die Situation derer, die morgens zur Arbeit antreten, muss nicht zwangsläufig vereinheitlicht werden, sondern es gibt wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Familien- und Wohnsituation, hinsichtlich Wegezeiten und Verkehrsverhältnissen.

Eine andere Frage ist es, inwieweit Wünschen nachgegeben werden soll, die Arbeitszeit an einzelnen Arbeitstagen auszudehnen und damit Freizeitansprüche anzuhäufen, die gebündelt geltend gemacht werden in Form von freien Tagen oder längeren Freizeiten. Es scheint so zu sein, dass bei solchen Arbeitszeitwünschen unterschiedliche kulturelle Interessen eingehen, verschiedene Arbeitssituationen und wohl auch Altersgruppen- und geschlechtsspezifische Prioritätensetzungen. Es ist durchaus denkbar, dass hier Einzelinteressen artikuliert werden, die kollektiv unvernünftig sind, so dass es gerechtfertigt sein kann, gebündelte Freizeitansprüche einzuschränken und für tägliche und wöchentliche Arbeitszeiten klare Höchstgrenzen festzulegen.

Wie kann aber eine sinnvolle Strategie aussehen, die sich berechtigten Ansprüchen der Beschäftigten nach Verfügung über ihre Arbeits- und Lebenszeit nicht entgegenstellt und zugleich die Ansprüche des Kapitals nach variabler Verfügung über die Arbeitskraft klare Grenzen setzt?

Betrachtet man die Politik der Gewerkschaften in der Vergangenheit, so lässt sich nicht sagen, dass sie gegen variable Arbeitszeitregelungen grundsätzlich Widerstand geleistet hätten. Es ist bekannt, dass Betriebsräte sehr häufig durch Genehmigung von Mehrarbeit auf schwankende betriebliche Bedürfnisse reagiert haben. Flexible Reaktionen der Belegschaften auf betriebliche Arbeitsanforderungen sind also niemals grundsätzlich in Frage gestellt worden. Die Gewerkschaften haben sich darauf konzentriert, bei variablen Arbeitszeiten möglichst enge Anpassungszeiträume und geringe Schwankungsbreiten festzulegen.

In der Tarifpolitik hat im Augenblick die Forderung hohes Gewicht, aus beschäftigungspolitischen Gründen beim Anpassungsinstrument Mehrarbeit vom finanziellen Ausgleich auf Freizeitausgleich überzugehen und dabei die Mehrarbeit im Umfang einzugrenzen. Sofern hier Konflikte zu erwarten sind, dürften diese nicht grundsätzlich über das Für und Wider des Freizeitausgleichs ausgetragen werden, sondern eher über die Frage, wieweit die Grenzen für Mehrarbeit gesteckt werden und nach welchen Prinzipien die Lage des Freizeitausgleichs betrieblich geregelt wird. Grundsätzlich steht nämlich der Freizeitausgleich auch Kapitalinteressen nicht entgegen. Wenn sich die Lage des Freizeitausgleichs betriebspolitisch steuern lässt, ergeben sich unter Umständen beträchtliche Kostenvorteile gegenüber der bisherigen Praxis der Mehrarbeit, die erhöhten finanziellen Aufwand verursacht hat.

Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass bei der variablen Arbeitszeitgestaltung relativ weite Spielräume für Kompromissregelungen zwischen gewerkschaftlichen Forderungen und Kapitalinteressen vorhanden sind. Ich sehe im Augenblick keine ausgewiesene linke Position, von der aus man solche Kompromissstrukturen beurteilen und auch eventuell kritisieren könnte. Es wäre zu diskutieren, wie die vom Kapitalinteresse vorgegebenen Flexibilitätserwartungen gegenüber den Beschäftigten im Betrieb eingegrenzt werden können, oder ob in begrenztem Umfang flexible Reaktionen auf ökonomische und technisch begründete Zwangslagen in betrieblichen Produktionsprozessen zugestanden werden sollen, wenn auch unter Umständen mit Kompensationsforderungen, etwa in Form von Zeitausgleich. Es wäre auch zu diskutieren, ob betriebliche Zeitkontensysteme grundsätzlich abzulehnen sind oder ob man Forderungen entwickelt, wie sie im Einzelnen ausgestaltet sein müssen. Es fehlt also insgesamt an Kriterien für die Ausgestaltung variabler Arbeitszeiten.

Falls der Einwand kommen sollte, wir brauchen das nicht, weil wir variable Arbeitszeiten nicht wollen, möchte ich darauf hinweisen, dass es bereits heute in etwa einem Drittel aller Betriebe allein in der Metallindustrie Regelungen über gleitende Arbeitszeit gibt. Und in wie vielen Betrieben Mehrarbeit geleistet wird, sei es mit oder ohne Freizeitausgleich, dürfte hinlänglich bekannt sein. Wo immer variable Arbeitszeiten auftreten, gibt es auch Interessenkonflikte zwischen den Interessen der jeweils Betroffenen und den Anforderungen der Betriebe. Neben tariflich geregelten Grenzwerten, etwa für die tägliche Arbeitszeit, für die wöchentliche Arbeitszeit und für mögliche Zeitguthaben, bedarf es vor allem präziser Bestimmungen darüber, wie Interessenkonflikte ausgetragen werden über die Lage der Arbeitszeit. Hier ist an so etwas wie ein individuelles Reklamationsrecht zur Durchsetzung von humanen Zeitansprüchen zu denken, über das Interessenkonflikte im Betrieb ausgetragen und durch Einbeziehung des Betriebsrates der Betriebsöffentlichkeit zugänglich ge-macht werden. Damit kommen wir zu der Frage, wo eigentlich Arbeitszeitpolitik gemacht wird, im Tarifvertrag, im Betrieb oder individuell auf der einzelvertraglichen Ebene.

Regelungsebene der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik

Ich denke, es gibt zunächst keinen Zweifel daran, dass alle Arbeitsbedingungen und auch die Arbeitszeiten möglichst umfassend und präzise im Tarifvertrag festgelegt werden sollten, also einheitlich für alle Betriebe und einheitlich für alle Beschäftigtengruppen, wobei branchenübergreifende Tarifverträge gegenüber branchenspezifischen Regelungen vorzuziehen sind. Bezogen auf die Arbeitszeit gilt insbesondere bei der Dauer des Normalarbeitsverhältnisses und auch für die Bedingungen der Betriebsnutzung, dass hier vereinheitlichende tarifliche Regelungen unumgänglich sind.

Darüber hinausgehend können allerdings die Einzelheiten der Arbeitszeitgestaltung nur auf der betrieblichen Ebene festgelegt werden, das gilt vor allem für die Lage und Verteilung der Arbeitszeiten in einzelnen Betriebsbereichen sowie für die einzelnen Beschäftigten. Die Lage der Arbeitszeit und deren Verteilung ist der Regelungsausgleich, in dem auch die Beschäftigten selber ihre Arbeitszeitwünsche geltend machen wollen und können. Dabei ist die Einbindung der betrieblichen Entscheidungsprozesse in gewerkschaftliche Diskussionszusammenhänge wichtig. Die Gewerkschaftsorganisation kann durchaus Vorgaben machen, die über den Regelungsinhalt der Tarifverträge hinausgehen, und sie kann Betriebsräte verpflichten, ihre Entscheidungen gewerkschaftsöffentlich zu legitimieren.

Eine offensive gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik kann also nicht darauf verzichten, die gewerkschaftliche Betriebspolitik neu zu beleben und mit zusätzlichen Inhalten zu versehen.

In diesem Zusammenhang halte ich manche Kritik für überzogen, die mit dem Tarifabschluss der Metallindustrie zur 38,5-Stunden-Woche den Weg zur Verbetrieblichung der Gewerkschaften und ihrer Tarifpolitik eingeleitet sieht. Die Kritik ist grundsätzlich sicherlich berechtigt, nur richtet sie sich nicht auf ein neues Phänomen, sondern auf ein sehr altes Problem der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik. Fast alle Tarifverträge der Vergangenheit haben zur konkreten Ausgestaltung der Arbeitszeit in den Betrieben wenig gesagt, das meiste ist in den Betrieben entschieden und oft auch in eine falsche Richtung gelenkt worden. Das Problem der Gleitzeitarbeit ist niemals gewerkschaftspolitisch angegangen worden, die Schichtarbeit ist hingenommen worden, ohne dass tarifpolitisch daraus Konsequenzen gezogen wurden.

In dem Tarifergebnis für die Metallindustrie wie auch für andere Branchen, in denen die Wochenarbeitszeitverkürzung vereinbart wurde, sehe ich immerhin den Gewinn, dass mehr gewerkschaftliche Öffentlichkeit entstanden ist über das, was in den Betrieben praktiziert wird. Das macht es möglich, daraus auch politische Konsequenzen zu ziehen. Eine Reihe von Betriebsräten hat starke Kritik daran geübt, dass die IG Metall mit ihrem Tarifabschluss gewerkschaftliche Aufgaben auf die Betriebsebene verlagert habe. Der Zugewinn an Gestaltungsmacht wurde von den Betriebsräten also nicht positiv aufgenommen. Das kann man auch damit begründen, dass ihnen ein Stück betrieblicher Autonomie verlorengegangen ist dadurch, dass ihre Entscheidungen stärker mit gewerkschafts- und tarifpolitischen Zielsetzungen abgestimmt werden müssen und sie in ihrer Politik unter einen stärkeren gewerkschaftspolitischen Handlungsdruck geraten.

Natürlich ist es wichtig, dass gewerkschaftliche Ziele möglichst klar und eindeutig in Tarifverträgen ausformuliert sind. Aber das allein reicht nicht. Vor allem die politischen Ziele, die hinter einem tariflichen Konzept stehen, müssen deutlich und klar sein und in die Betriebe hinein vermittelt werden, wenn dort die tarifpolitischen Grundsätze auch in die Realität umgesetzt und verteidigt werden sollen.

In den meisten Betrieben gibt es nicht nur eine Form der Arbeitszeitregelung, sondern mehrere Formen der Arbeitszeitgestaltung, die nebeneinander praktiziert werden. Das geht zum Teil darauf zurück, dass technische und arbeitsorganisatorische Vorgaben in der Arbeitszeitgestaltung berücksichtigt werden, zum Teil ist dies auch Ergebnis von unterschiedlichen Arbeitszeitwünschen der Belegschaften in einzelnen Betriebsteilen. Diese Voraussetzungen sind für eine realistische Umsetzungskonzeption von tariflichen Wochenarbeitszeitverkürzungen nicht zu ignorieren. Auch die Forderung des einheitlichen 7-Stunden- oder 6-Stunden-Tages wird nichts daran ändern, dass es keine Einheitsarbeitszeiten in den Betrieben gibt. Die Tendenz zur feingliedrigen Arbeitszeitgestaltung dürfte kaum umzukehren sein, vielleicht lässt sie sich bremsen und etwas aufhalten.

Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?

Großer Wert ist darauf zu legen, dass betriebliche Arbeitszeitsysteme in den Diskussions- und Entscheidungszusammenhang der kollektiven Interessendurchsetzung eingebunden sind. Die Arbeitszeiten müssen überschaubar bleiben, das heißt kontrollierbar und gestaltbar für die betriebliche Interessenvertretung, aber auch überschaubar und überprüfbar für den Einzelnen, der seinen Arbeitsalltag noch auf einen kollektiven betrieblichen Zusammenhang zurückbeziehen können muss. Dabei muss es nicht immer darum gehen, einmal vereinbarte Arbeitszeiten festzuhalten. Arbeitszeitregelungen können auch reversibel sein, wenn sie sich nicht bewährt haben. Es gilt, in der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung von der defensiven Abwehr unternehmerischer Zeitansprüche wegzukommen und eigene offensive Gestaltungsvorstellungen einzubringen. Die politischen und rechtlichen Handlungsmöglichkeiten sind dabei nicht zu unterschätzen vor allem, wenn es gelänge, so etwas wie ein Reklamationsrecht für eine souveräne Arbeitszeitgestaltung im Betrieb zu verankern. Arbeitszeitpolitik kann eine emanzipatorische Funktion haben, wenn Interessenkonflikte unter Bezugnahme auf kollektive Regeln in offenen gewerkschaftlichen und betrieblichen Diskussionen ausgetragen werden können.

Dabei wird es im betrieblichen Regelungsprozess unter Umständen nicht einfach sein, zwischen legitimen persönlichen Zeitinteressen und egoistischen Zeitvorstellungen zu unterscheiden. Allerdings wurde in der Vergangenheit kaum der Versuch unternommen, persönliche Vorstellungen überhaupt in einer solchen Spannbreite zu thematisieren.

Erst wenn ein individueller Anspruch auf Verfügung über die eigene Lebens- und Arbeitszeit auch gewerkschaftlich anerkannt ist, kann darüber diskutiert werden, wo die Grenzen des individuellen Begehrens gegenüber kollektiven Interessen zu setzen sind.

Wie auch immer man solche Gedanken weiterentwickelt, eine Konsequenz ist nicht zu leugnen: Je deutlicher sich Arbeitszeitsysteme ausdifferenzieren, umso stärker werden soziale Zusammenhänge im Betrieb aufgelöst und damit auch die Basis der gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit im Betrieb angegriffen. Die Erfahrung des kollektiven Lohnarbeiterschicksals wurde und wird zu einem Teil über die rigiden industriellen Zeitsysteme vermittelt.

Gewerkschaftliche Politik muss sich darauf einstellen, dass mit der Durchsetzung der angestrebten spürbaren Arbeitszeitverkürzung die inneren Kommunikationszusammenhänge, der Einfluss gewerkschaftlicher Kader und die identitätsstiftende Ausstrahlung der Gewerkschaftsorganisation in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Interessenlagen differenzieren sich mehr aus, Arbeitszeiten entwickeln sich auseinander, und die Betriebe werden stärker zu einem Ort kontinuierlicher Produktion, aber weniger zu einem Ort sozialer Begegnung.

Es gibt keine Möglichkeit, dieser tendenziellen Entwicklung zu entgehen. Die Arbeitszeitentwicklung ist nur ein Teil der strukturellen Veränderung in der gesellschaftlichen Realität.

Die Gewerkschaften werden nicht umhin können, an die Stelle des bisher äußerlich gesetzten Kollektivzusammenhangs der Lohnabhängigen neue Strukturen der innergewerkschaftlichen Meinungsbildung und Identitätsfindung zu setzen. Sie müssen sich neuen Themen- und Fragestellungen öffnen, die nicht allein die äußeren Bedingungen der Arbeit, sondern im umfassenden Sinne die Lebensprobleme der abhängig Beschäftigten und ihr persönliches Verhältnis zur industriellen Arbeit aufgreifen.

Dabei wird es darauf ankommen, dass die Gewerkschaften sich von dem Zwang zur Vereinheitlichung der Interessen ein Stück weit lösen und sich für unterschiedliche Positionen, wie sie in den Betrieben vorfindlich sind, öffnen, also quasi eine neue Qualität innergewerkschaftlicher Dissenskultur entwickeln.

(Aus express, Nr. 11/87)

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/02

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