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Updated: 18.12.2012 15:51
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Alles geht kaputt, alles geht kaputt ... und ich lache?

Der eine erlebt sie auf dem Schleudersitz. Die andere ohne Papiere und ohne jede Wahl. Ein Dritter sieht sich als Selbstständiger und die Chance seines Lebens. Eine Vierte floatet zwischen zwei, drei Jobs und hat gar keine Zeit, sich zu beklagen. Die vierte arbeitet und hat trotzdem kein Geld.
Ihnen gemeinsam ist die Prekarisierung, die ihre Arbeits- und Lebenswelt teuflisch eng ineinander schiebt, ob sie es wollen oder nicht.
Jenseits davon, wie unterschiedlich sie alle damit umgehen, gibt es Bedingungen, die sich für alle verändert haben - und politische Einschätzungen, die so verschieden und widersprüchlich sind, wie das Erleben prekärer Zeiten.

Noch vor zehn Jahren ragten prekäre Arbeitverhältnisse wie Bohr-Inseln aus der Flächentariflandschaft. Das existenzsichernde Lohnarbeitsverhältnis war die Norm, prekäre Arbeitsverhältnisse [1] bildeten den Rand der KernarbeiterInnenschaft. Mittlerweile sind über sieben Millionen Menschen zur Annahme prekärer Arbeitsverhältnisse gezwungen worden.

Mit welcher Rasanz sich die Verhältnisse umgedreht haben, verdeutlicht folgende Statistik: Seit 1991 hat sich der Sektor prekärer Arbeitsverhältnisse (Teilzeit- und Gering Beschäftigte) um über 80 % ausgeweitet, während im selben Zeitraum die Vollzeit-Arbeitsplätze um ca. 20 % abgebaut wurden [2].

Die Ränder sind ins Zentrum vorgerückt - und was früher Kern war, sind heute Oasen.

Ging es unter 16 Jahren Kohl- und vier Jahren rot-grüner Regierung i.w. darum, Leistungen in bestehenden Sozialsystemen zu kürzen, die Tarifhoheit durch Serien von Arbeitsmarktreformen (Legalisierung von Zeitverträgen u.s.w.) zu durchlöchern und das Ganze mit der Ideologie von der Eigenverantwortung sonst »selbst-schuld« abzuschmecken... so kündigte Rot-Grün in ihrer zweiten Regierungsperiode mit Hartz I-IV und Agenda 2010 die Sprengung der sozialer Sicherungssysteme an.

Das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Logik: 20 Jahre beteiligten sich schwarz-gelb-rot-grün daran, den Gebäudekomplex sozialer Sicherungssysteme zu entkernen, auszuräumen, tragende Decken und Träger einzureißen - bis auch der letzte Laie Einsturzgefahr feststellen konnte. Nun treten sie mit trauriger Miene an den Ort des Verbrechens und verkünden die Notwendigkeit, das Gebäude abzureißen - zum Schutz ihrer BewohnerInnen.

Eine Große Koalition der Willigen kann sich diese Leistung auf ihre Fahnen schreiben: Fast aller Gesetzesverschärfungen auf diesem Gebiet wurden von Regierung und Opposition gemeinsam verabschiedet. Die Unternehmerverbände nutzten die Gunst der Stunde, forderten die Rücknahme fast aller betrieblichen Sonderleistungen, drohten wahlweise mit Schließungen, Auswanderungen und Tarifflucht - und bekamen, was sie wollten: Die Gewerkschaften stimmten zahllosen »Öffnungsklauseln« [3] im Tarifrecht zu, flexibilisierten bis zum Umfallen, verzichteten auf Lohn und betrieblich erkämpfte Leistungen und verquasteten die versprochene »Arbeitsplatzgarantie« mit einem Bekenntnis zum Standort Deutschland. Und wenn dann doch noch etwas übrig bleibt, erledigen Vereinbarungen auf Betriebsebene den Rest... der Welt-Betriebsratvorsitzende bei VW, Herr Volkert, lässt grüßen...

All dies wird nicht gegen erbitterten Widerstand verabschiedet und beschlossen. Im Gegensatz zu anderen Ländern bleiben betriebliche und außerbetriebliche Proteste marginal, zaghaft - und ohne Erfolg. Und selbst die Gewerkschaftsspitze kann mit einem gewissen Recht darauf verweisen, dass die fehlende Kampfbereitschaft an der Basis kein anderes Ergebnis zuließ. Und passiert doch einmal was, wie beim »wilden« Streik 2004 im Opel-Werk Bochum, bekommt die Gewerkschaftsführung ganz weiche Knie, wird zum Streikbrecher und tritt mit einer Urabstimmung, die kafkasche Züge hatte, den Brandherd aus.

Wie gesagt, die Große Koalition der Willigen ist breit, eingespielt und auf allen Ebenen in der Pool-Position. Man muss keinen Verschwörungstheorien nachhängen, um sich ziemlich allein auf weiter Flur vorzukommen.

So groß wie die Ohnmacht, so zahlreich sind die Fragen: Wo anfangen? Wo ansetzen? Macht es noch Sinn, sich in gewerkschaftliche Auseinandersetzungen einzumischen? Ist die Forderung nach existenzsichernden Arbeitsverhältnissen, nach Arbeitszeitverkürzungen (bei vollem Lohnausgleich) überholt?
An wen richtet man sich im Protest? Ist der (nationale) Staat noch die richtige Adresse, um soziale Standards durchzusetzen? Reklamiert man damit einen »Sozialstaat«, der längst passé ist?
Wenn die Globalisierung ein Fakt ist - was heißt dann »Globalisierung von unten«?
Sind die Kämpfe vor Ort unter diesen veränderten Bedingungen nicht längst überholt?

Ich möchte im folgenden einige linke Positionierungen, die in diesem Zusammenhang immer wieder eingenommen werden, aufgreifen und entlang der gestellten Fragen - anders - antworten.

Ach, waren das noch (fordistische) Zeiten?

Es gibt eine linke Theorie vom Fordismus, die besagt, dass soziale Standards, existenzsichernde Arbeitsverhältnisse und ein keynesianistischer (Wohlfahrts-)Staat das Dreigestirn dieser Wirtschaftstheorie ausmachten. Tatsächlich entspringen diese Systemmerkmale nicht irgend einer Wirtschaftstheorie. Sie sind eine Antwort auf Kämpfe, in denen der Massenproduktion und der brutalen Taylorisierung der Arbeit (Fließbandarbeit) das Soziale abgerungen werden musste. Existenzsichernde Arbeitsverhältnisse sind keine dem Fordismus eingeschriebene Systemkomponente - und prekäre Arbeitsverhältnisse kein spezifisches Kennzeichen des Postfordismus. Sie sind im ersten Fall erfolgreichen Lohn- und Arbeitskämpfen geschuldet, im zweiten Fall Ergebnis ausbleibenden Widerstandes.

Der Postfordismus zielt nicht auf die Überflüssigmachung vom Menschen, sondern auf ihre allseitige Verwertung

Gerne wird die Ära des Fordismus mit Vollbeschäftigung, die neue Epoche des Postfordismus mit dem Abschied von ihr in Verbindung gebracht.

Man hält das Gerede von der »Schaffung von Arbeitsplätze«, »Sozial ist, was Arbeit schafft« (BDI-Chef Rudowski, 2003) für blanke Ideologie, die nur die Überflüssigmachung des Letzten Drittel kaschieren soll. Manche sahen gar am Horizont die »Abschaffung der Arbeit« aufscheinen, die im Kapitalismus zur Verelendung Vieler und im Kommunismus zur Grundlage einer Gesellschaftlichkeit führt, in der jede/r nach ihren/seinen Bedürfnissen leben kann.

Diese Einschätzung sollte sich als großer Irrtum herausstellen. Was die rot-grüne Regierung mit Hartz I-IV und Agenda 2010 in ihrer zweiten Regierungsperiode (2002-05) auf den Weg gebracht hat, zielt - neben der Drohung in Richtung Noch-Beschäftigter - auf die Verwertung der Überflüssigen, auf die Reintegration von Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen in den Vernutzungsprozess.

Die Mär vom hilflosen, nationalen Staat

Seit Jahr und Tag hören wir von Rot-Grün, dass sich nicht nur die BürgerInnen der globalen Herausforderung stellen müssen, sondern auch der Staat. In dieser globalisierten Kampfarena werden nicht nur Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Lohnabhängige und Arbeitslose aufeinander gehetzt. Auch der NationalStaat müsse mit niedrigen Steuersätzen und noch niedrigeren Sozialstandards um den billigsten Standort in den Ring steigen. Bei dieser Gelegenheit schlagen rot-grüne Politiker gerne die Hände über den Kopf zusammen, um (Handlungs-)Ohnmacht zu signalisieren: Sie würden ja gerne vieles ganz anders machen, aber es geht nicht anders...

Solche Augenblicke erzeugen Mitgefühl und das gewünschte Bild: Lauter hochdotierte Butler im Dienste global players, die man bestenfalls um ein großzügiges Trinkgeld anschnorren kann.

Auch in der Theorie des Postfordismus ist vom Abschied vom starken, mächtigen National-Staat die Rede, der aufgehört habe, planend auf ökonomische Prozesse Einfluss zu nehmen. Dabei wird auf den Tod des Keynesianismus verwiesen, eine Wirtschaftstheorie, die durch staatliche Nachfragepolitik, Rezessionen antizyklisch auszugleichen versuchte.

Nein, die (nationale) Politik von Rot-Grün hechelt nicht hilflos und ohnmächtig den Gesetzen des (Welt-)Marktes hinterher: Sie planiert, markiert, räumt ab, macht Wege frei. Alleine im Zuge der Wiedervereinigung flossen bis heute über 1.000 Milliarden Euro an Steuergeldern (incl. Solidarzuschlag) in den Aufbau Ost, nicht von Geisterhand, sondern durch politische Entscheidung von Schwarz-Gelb bis Rot-Grün!

Wenn Unternehmer und Staat in Eintracht existenzsichernde Arbeitsverhältnisse liquidieren und durch prekäre (Zeit-)Arbeitsverhältnisse ersetzen, dann hat ihnen das nicht der global spirit zugetragen, sondern die Hartz I + II-Reform von Rot-Grün aus dem Jahr 2004, durch die über sieben Millionen Menschen in sogenannte Minijobs abgedrängt wurden.

Wenn in den letzten 15 Jahren Hunderte von Millionen Euro von unten nach oben geschaufelt wurden, dann war das nicht der Wind, sondern die Regierungen von Schwarz-Gelb bis Rot-Grün!

Ich habe den Verdacht, dass manch linke Theorie vom Ende nationaler Politik damit etwas zu tun hat, dass sie seine Mächtigkeit fälschlicherweise mit »Interessenausgleich« und »Wohlfahrt« gleichsetzt. Tatsache ist jedoch, dass ein NationalStaat seine Macht auch dadurch demonstrieren kann, indem er soziale Gegensätze verschärft statt ausgleicht. Mehr noch: Diese Politik verlangt geradezu mehr Staatsmacht, wenn man all die »Sicherheitspakete« zusammenaddiert, die die rot-grüne Bundesregierung in den letzten sechs Jahren verabschiedet hat.

Ein gewichtiger Einwand könnte sein, dass der nationale Staat, die politische Klasse, mit all diesen Maßnahmen gar keine Gestaltungs- und Lenkungsmacht mehr ausüben, sondern nur noch ökonomische Vorgaben und Gesetzmäßigkeiten für die politische Bühne aufpoppen. Kurzum, die politische Klasse inszeniere bestenfalls Handlungsfähigkeit, in Wirklichkeit habe sie gar keinen Spielraum.

Ganz allgemein ließe sich dagegenhalten, dass diese Position all die Balgereien und Machtkämpfe unterschlägt, die getroffenen Entscheidungen vorausgehen und beschlossene Gesetzesänderungen begleiten. Das beginnt mit der staatlichen Subventionswirtschaft, bis hin zu Fragen der Steuerpolitik. So mag die Mär von niedrigeren Steuersätzen auf Kapital-Gewinne als Motor für Wachstum und Beschäftigung vielleicht noch in einer Wahlveranstaltung punkten. Unter Systemoptimierern wird sie jedenfalls auf vehementen Widerspruch stoßen. Dass all diese Varianten in Expertenrunden und Hearings nicht der Abschaffung, sondern der Optimierung des kapitalistischen Gesellschaftssystems dienen, ist unschwer festzustellen. Dass die eine oder andere Variante bedeutsame Unterschiede ausweist, die für die, die wenig haben, der Rede wert sind, sollte nicht unter den Tisch fallen.

Für welche Variante sich eine Bundesregierung schließlich stark macht, hängt nicht davon, wie stark oder schwach der Staat ist. Entscheidend ist vielmehr, welche Interessen er berücksichtigen muss, wie stark er Protest von unten integrieren muss, ohne Gefahr zu laufen, den Standortfaktor sozialer Frieden zu gefährden.

Dass das, was Staat ausmacht, nicht einfach der Kapitallogik hinterherkriecht, lässt sich am Vorschlag der BürgerInnenversicherung recht anschaulich erklären. Als 2003 mit der Agenda 2010 u.a. die Zertrümmerung der gesetzlichen Krankenversicherung, die Aufhebung der paritätischen Finanzierungsgrundlage (durch jeweils gleiche Betragssätze von Lohnabhängigen und Unternehmen), die Privatisierung der bestmöglichsten Medizin beschlossen wurde, war das Modell der BürgerInnenversicherung der rot-grünen Regierung durchaus bekannt. Ein Modell, das den Kapitalismus alles andere als überfordert. Ein Modell, das nicht den Sozialismus voraussetzt - wofür die Bürgerversicherung in der Schweiz ein unbestechlicher Beweis ist. Auch unter Systemoptimierern hatte es Befürworter, mit dem unschlagbaren As im Ärmel, durch den Wegfall des Arbeitgeberanteils am Krankenkassenbeitrag den Faktor (Arbeits-)Lohn zu entlasten. Der goldene Schuss für alle, die die Lohnnebenkosten für die depressive Stimmung im Land verantwortlich machen. Durch die Einbeziehung aller hier Lebenden und eine Beitragsermessung, die alle Formen des Einkommens (Lohn-, Gewinn- und Kapitaleinkommen) einschließt, wäre eine Grundversorgung möglich, die allen die bestmöglichste Medizin gewährleistet. Wie wir wissen, hat sich die rot-grüne Regierung gegen dieses Modell entschieden und den Weg in eine Zwei-Klassen-Medizin fortgesetzt. Diese und andere Entscheidungen haben der SPD die politische Basis (in der eigenen Partei und unter ihren StammwählerInnen) entzogen - und zur Einleitung vorgezogener Bundestagswahlen geführt. Nun hat sich die SPD ein neues Image verpasst. Und siehe da, im neuen Wahlprogramm der SPD taucht u.a. die BürgerInnenversicherung als (vages) Versprechen auf. Hier geht es nicht darum, die Ernsthaftigkeit dieser Wahlaussage zu prüfen. Dieses Beispiel soll etwas anderes deutlich machen: Dieser Richtungswechsel folgt weder veränderten kapitalistischen Rahmenbedingungen noch irgendeiner unerbittlichen Kapitallogik. Er nimmt vor allem den politischen Druck auf, der durch die neue Linkspartei entstanden ist. Ein gutes Beispiel dafür, wie die vielbeschworene Alternativlosigkeit (im Bestehenden) von seinen Propagandisten selbst ad absurdum geführt wird.

Die Globalisierung - das oberste, letztinstanzliche Gericht, dem man nur um den Preis des eigenen Todes entgeht?

Rot-Grün-Gelb-Schwarz werden nicht müde, von der Globalisierung zu reden, als wäre es ein Schicksal, eine Naturgewalt, in der man nur mitgoogeln kann oder untergeht. Man müsse sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Zu ihm gäbe es keine Alternative.

Dass das, was Globalisierung genannt wird, immer und zu jeder Zeit ein gesellschaftlicher Prozess ist, der politisch gewollt, gesteuert, von nationalen und transnationalen Machtinteressen gelenkt wird, ist eine Bindenweisheit. Dass der nationale Staat, die Politik nicht abdankt, beweisen tagtägliche Schachzüge, mit denen (trans-)nationale Interessen gegen andere in die Pool-Position gebracht werden. So drohte die US-Regierung mit Handelssanktionen gegenüber China, wenn dieses nicht bereit ist, den freien WTO-Handel mit billigen Textilwaren selbst zu beschränken. Wenn (trans-)nationale Regierungen Milliarden-Subventionen in die (europäische) Landwirtschaft [4] pumpen, um sie vor billigeren Anbietern (aus dem Ausland) zu schützen, dann trällern sie dabei nicht das Hohelied auf den >freien Wettbewerb<, vor dem sich alle verbeugen müssen. Im Gegenteil. Mit diesen und anderen Maßnahmen beweisen sie, dass man dem Schicksal der Globalisierung, dem Gesetz des (Welt-)Marktes durchaus entrinnen kann - wenn man dazu die nötige (trans-)nationale Macht hat, und es gilt, gewichtige (nationale) Interessen zu schützen.

Wenn nichtssagend auf billigere Standorte in der EU verwiesen wird, um damit weitere Raubüberfälle auf Lohn- und RentenempfängerInnen zu rechtfertigen, dann war da nicht die unsichtbare Hand des Marktes im Spiel, sondern eine rot-grüne Bundesregierung, die maßgeblich an der wirtschafts-politischen Richtlinien der EU beteiligt ist!

Wenn französische und/oder deutsche Unternehmen im EU-Land Polen Jagd auf billige Arbeitskräfte machen, mit der Verlagerung ihrer Produktion nach Lettland [5] drohen, dann liegt das nicht an irgendwelchen Unumstößlichkeiten, wie dem Gesetz der Schwerkraft. Dem liegt eine wirtschaftspolitische Verfasstheit der EU zugrunde, in der die Konkurrenz nationaler Ökonomien nicht aufgehoben, sondern zum inneren Akummulationsprinzip erhoben wurde. Der Druck, sich noch billiger zu verkaufen, die Sozialstandards zu senken, sind kein Werk geheimnisvoller, unsichtbarer Mächte, sondern gewolltes und beabsichtigtes Ziel wirtschaftspolitischer Vorgaben vonseiten der EU-Ministerien.

In dem, was Globalisierung genannt wird, ist der nationale Staat, die nationalen Ökonomien keine vernachlässigbare, sondern eine feste, nach wie vor richtungsweisende Größe. Wenn z.B. das EU-Dienstleistungsgesetz zurückgenommen/überarbeitet werden soll, dann nicht, weil sich die lettische Regierung dafür stark gemacht habt, sondern die französisch-deutsche Allianz. Damit wird weder die Macht des transnationalen Kapitals, noch die Macht transnationaler politischer Institutionen bestritten. Wichtig ist mir, festzuhalten, dass nationale Politik darin nicht untergeht, sondern eine bedeutende (Führungs-)Rolle einnimmt.

Manche linke Analysen verbinden das prognostizierte Ende nationaler Politik mit einem Paradigmawechsel: Das Primat der Politik werde vom Primat der Ökonomie abgelöst. Ich befürchte, dass solche Analysen der neoliberalen Ideologie auf den Leim gehen, anstatt sie zu durchschauen. Der Effekt solcher linken Einschätzungen ist nicht Erkenntnis, sondern Ohnmacht: Wenn die (nationale) Politik abgedankt, dann mache es auch keinen Sinn mehr nach linken Interventionsmöglichkeiten zu suchen, die darauf Einfluss nehmen können.

Anstatt das Primat der Ökonomie über das der Politik zu beschwören, sollte eine (radikale) Linke deren Verschränkung als ein gesellschaftliches Kampfverhältnis begreifen - und darin nach Interventionsmöglichkeiten Ausschau halten.

Dem üblen Geruch, sich in nationale Politiken einzumischen, wird gerne mit großer Weitsicht begegnet: »Globalisierung von unten« steht oft am Ende jener Analysen und ganz Oben auf der Liste gerufener Demo-Parolen. Mit Verve verweisen sie auf den internationalistischen Charakter der Kämpfe in China, Mexiko und sonst wo - und bilden Netzwerke auf Kongressen und Foren, in Panels...von Neu-Delhi bis Puerto Alegro. Doch was wäre dieser Internationalismus, wenn er sich nicht auf Kämpfe beziehen könnte, die nur unter je spezifischen, national vertauten Bedingungen geführt werden?

Wenn Menschen in Indien gegen einen Staudamm, gegen die Monopolisierung von Saatgut protestieren, wenn in Bolivien Menschen gegen die Privatisierung von Wasser, Strom und Gas kämpfen, dann machen sie dies unter je spezifischen Bedingungen, die von nationalen Politiken geformt und exekutiert werden. Diese werden nicht gewonnen, weil dort von nationalen Bedingtheiten abgesehen wird, sondern weil diese als Kräfteverhältnis richtig eingeschätzt wurden.

Internationalistisch ist nicht die feurige Bezugnahme und Identifizierung, sondern eine Praxis, die diese Kämpfe mit unseren in Beziehung bringt - wenn wir das in aller Bescheidenheit tun, was wir woanders so bewundern.

Die Referenden in Frankreich und Holland sind mit einem überraschend deutlichen Nein zur EU-Verfassung zu Ende gegangen. Die europäische Rechte wird diese Voten dafür nutzen, mit rassistischen und nationalistischen Argumentationsfiguren (Überfremdung, Beitritt der Türkei etc.) die Europäische Union zu kippen bzw. (noch) weiter nach rechts zu positionieren.

Die Linke, die in Holland und Frankreich mit Nein gestimmt hat, hat nicht die Idee eines vereinigten Europas zurückgewiesen, sondern die Angleichung nach unten, die mit der EU-Fassung festgeschrieben werden sollte.

Die Forderung nach einheitlichen Sozialstandards und Steuersätzen in Europa würde nicht nur der neo-faschistischen, nationalistischen Rechten etwas entgegensetzen. Nicht weniger bedeutsam wäre, den rechten EU-BefürworterInnen die Brechstange aus der Hand zu nehmen, mit der Niedriglöhne und weitere Senkungen von Sozialstandards hier mit den Billigangeboten anderer EU-Länder begründet werden.

Diese Kämpfe auf transnationalem Terrain aufzunehmen, schließt Kämpfe im nationalen Kontext nicht aus, sondern setzt sie voraus. Anders gesagt: Erst wenn die Kämpfe an die Grenzen des national Machbaren, an den Rand kapitalistischer Möglichkeiten stoßen, öffnet man die Tür zur »Globalisierung von unten«.

Der fordistische »Sozialstaat« und der postfordistische »Wettbewerbsstaat«

Zur linken Theorie vom Fordismus und Postfordismus gehört auch eine progressiv zur Schau gestellten Härte: Wer immer noch den »Sozialstaat« reklamiere, dem »Wohlfahrtsstaat« nachtrauere und diesen heute einklage, habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt, betreibe eine nostalgische, also reaktionäre Politik, die mit etwas lockt, was einfach rum ist.

Der von Joachim Hirsch z.B. ausgemachte »Wettbewerbsstaat« ist jedoch nicht das Ergebnis einer neuen liberalen Wirtschaftstheorie, eines dem Postfordismus eigenen Staatsverständnisses. Joachim Hirsch beschreibt damit vielmehr ein neues Regulationsregime, das Klasseninteressen und gesellschaftliche Machtverschiebungen neu austariert. Die Tatsache, das der Staat Abschied von der »Verteilungsgerechtigkeit« nimmt, ist also keinem neuen Staatsverständnis der politischen Klasse geschuldet. Es reflektiert den Umstand, dass die politische Klasse darauf keine Rücksicht mehr nehmen muss, dass sie Klassen-Gegensätze nicht mehr befrieden, durch Zugeständnisse integrieren muss.

Wenn also Linke dem »Sozialstaat« keine Träne nachweinen, dann verwechseln sie Ideologie mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und sozialen Errungenschaften, die in den 60er, 70er und 80er Jahren erkämpft wurden - und nun Zug um Zug kassiert werden.

Weder hat der Fordismus den »Sozialstaat« erfunden, noch hat der Postfordismus ihn abgeschafft. Die beliebteste Variante dieser Ideologieproduktion ist der nette Gegensatz vom Manchester-Kapitalismus á la USA und der »sozialen Marktwirtschaft« als Light-Version des guten/alten Europas. Das, was im nachhinein/postum zum »Sozialstaat« deklariert wurde, waren und sind i.w. soziale Errungenschaften, die dem Taylorismus der 20er/30er Jahre so sehr abgerungen werden mussten, wie dem Nachkriegsdeutschland der 60er und 70er Jahre.

Die Verstaatlichung bestimmter Forderungen von unten, ihre Garantierung, ist also keinem guten, gerechten Wirtschaftssystem geschuldet, sondern den Macht- und Kampfverhältnissen, die sich in diesen Reformen/Zugeständnissen widerspiegeln.

Der Kampf um Sozialstandards, die ein würdiges Leben gewährleisten, unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht und nationaler Zugehörigkeit, hat die deutsche Linke nicht hinter sich, sondern vor sich - wenn eins ihrer zentralen Anliegen eine Gesellschaftlichkeit ist, in der nicht das Geld die Lebenschancen und -erwartungen bestimmt, sondern das universalistische Recht auf Glück.

Keine Angst

Jenseits der doch recht vagen Andeutung »Eine andere Welt ist möglich« oder der streng-orthodoxen Festlegung »Für den Kommunismus« stellt sich nur noch die Frage: Was machen wir (als Linke) bis dahin?

Ganz wenige vertrauen voll und ganz auf ihre Analyse der x-te Untergangstheorie zum Kapitalismus - und warten ruhig ab.

Andere sehen in der Ära des Empire eine Multitute heranreifen, die so gut wie alles auf sich vereinigt, was zum Kommunismus taugt -wenn diese nur begreift... den Kapitalismus nicht mehr länger vor sich hertreibt, sondern einfach links liegen lässt...

Ganz ohne apokalyptische und messianistische Vorhersehungen kämpfen wieder andere lokal, vor Ort (Agenturschluss-Kampagne, Widerstand gegen 1 € Jobs...). Andere engagieren sich in internationalen Netzwerken.

Und ganz viele finden dies und das auch Scheiße, wissen aber nicht, was man dagegen tun kann, was überhaupt noch möglich, realistisch ist.

Ist es zuviel verlangt, einen existenzsichernden Lohn, eine Grundsicherung für alle, eine Gesundheitssystem, das alle mit der bestmöglichsten Medizin versorgt, zu fordern? Überfordern wir damit nicht den Kapitalismus? Muss man Autonome/r, KommunistIn sein, das kapitalistische System beseitigen, wenn's sein muss auch gewaltsam, um diese Vorstellungen umzusetzen?

Ich möchte alle beruhigen und Mut machen.

Selbst in den wilden Jahren (69-73) oder in den 80er Jahren gefährdeten weder Lohn- und Arbeitskämpfe, Haus- und Platzbesetzungen, noch Sabotage und Anschläge das kapitalistische Akkumulationsregime. All diese Kämpfe beeinflussten zwar die Gesellschaft und das politische Klima massiv und nachhaltig. Doch die Zonen kapitalistischer Akkumulation konnten sie nicht erschüttern: Die reale Entwicklung der Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandprodukt) ging stetig und ungebrochen nach oben. Es waren externe Einflüsse, die zur Rezession und Stagnation führten: Einzig und alleine die beiden »Ölkrisen« 1975 und 1982 bewirkten einen leichten Rückgang des Bruttoinlandproduktes (BIP).

Zwischen dem Kampf um Verbesserungen im Bestehenden und dem Kampf um seine Beseitigung ist also noch viel Luft!

Lasst uns tief Luft holen! ... und zu aller erst das Regime der Angst überwinden!

Wolf Wetzel, Juli 2005

Anmerkungen:

1) »Als prekär kann eine Erwerbstätigkeit bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund dieser Tätigkeit deutlich unter das Einkommens-, Schutz- und soziale Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert wird.« (Dörre)

2) FAZ-Grafik, Deutscher Arbeitsmarkt wird flexibler, 2005

3) Die Ausnahme ist die Regel geworden: » ... in drei Viertel der Fälle wird von Öffnungs- und Differenzierungsklauseln Gebrauch gemacht...« WSI-Studie, nach FR vom 30.6.2005

4) Ca. 45 Milliarden Euro jährlich werden für Agrar-Subventionen ausgegeben, das sind 10 Prozent des gesamten EU-Haushaltes

5) In Lettland wurde die Unternehmenssteuer von 19 auf 15 Prozent gesenkt


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