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Updated: 18.12.2012 16:00
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Auftakt-Rede von Dirk Hauer zum Euromayday am 01. Mai 2005 in Hamburg

Liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen,

Es gibt einen schönen Film - "Erst die Arbeit und dann." Aber was kommt nach der Arbeit? Das Vergnügen? Das Leben? Das schöne Leben vielleicht sogar? Nein, heute kommt nach der Arbeit noch mal die Arbeit. Heute heißt es arbeiten, um zu arbeiten - und zu jedem Preis.

Dabei sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen so unsicher wie nie zuvor. Gibt es einen Folgeauftrag? Wird der Betrieb geschlossen oder verlagert? Lande ich bei Hartz IV? Reicht das Geld - für den Urlaub, für die Ausbildung der Kinder, fürs nackte Überleben? Was passiert, wenn ich krank oder alt bin?

Ganz egal, ob in einer kleinen Klitsche oder in einem Großbetrieb gearbeitet wird, ganz egal, ob man sich als Selbstständiger selbst verwertet oder Angestellte des öffentlichen Dienstes ist - heutzutage ist nur eines sicher: die Unsicherheit. Und diese Verunsicherung ist Herrschaftsstrategie. Sie ist das Programm der Agenda 2010.

Das Motto der DGB-Demo heute lautet Arbeit in Würde, und in der Tat gehen Würde, Respekt und Achtung verloren, wo sich Menschen den ganzen Tag nur noch um ihre (Überlebens-)Ökonomie kümmern sollen. Wenn sie den ganzen Tag mit Selbstverwertung und Aktivierung beschäftigt sind. Wenn der bloße Arbeitsplatz zum eigentlichen Lohn wird. Oder wenn Arbeitszwang zum "Aktiv-Job" umgedichtet wird.

125.000 1-Euro-PflichtarbeiterInnen arbeiten z.Z. in Deutschland. Geplant sind 600.000. Sie arbeiten in Bautrupps - wie z.B. hier gegenüber am Michel, immerhin eines der hanseatischen Wahrzeichen. Sie putzen Flure und Klos in Stadtteilcafés. Sie arbeiten in den Bibliotheken und Geräteräumen von Schulen und Universitäten. Sie sind Hausmeister in Kindergärten oder SprachlehrerInnen in Deutsch-Kursen. Und sie arbeiten als BetriebspraktikantInnen in ganz normalen Privatbetrieben.

Sie arbeiten und haben doch keine Jobs. PflichtarbeiterInnen arbeiten ohne Arbeitsvertrag, ohne Tarif, ohne ArbeiterInnenrechte, ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ohne bezahlten Urlaub. Sie arbeiten unter direktem Zwang und ohne Lohn. PflichtarbeiterInnen sind rechtlos der Willkür von FallmanagerInnen, AnleiterInnen oder GeschäftsführerInnen ausgesetzt. Meldungen bei der ARGE können zu Leistungskürzungen oder der kompletten Streichung des Alg II führen.

In Hamburg werden z.Z. vor allem proletarische Jugendliche unter 25 Jahre systematisch in diese Zwangsmaßnahmen getrieben. Statt Ausbildung oder Jugendberufshilfe bringt ihnen die schwarze Pädagogik der Pflichtarbeit bei, wo der Hammer hängt. Sie sollen sich Ansprüche und Erwartungen von der Backe putzen. Ihre Lebensperspektive heißt Rotation zwischen Erwerbslosigkeit, befristeten Niedriglohnjobs an der Armutsgrenze und Arbeitszwang.

Die Pflichtarbeit schafft keine Perspektiven, sondern zerstört sie. Und dennoch ist es offensichtlich möglich, Menschen so schlecht zu behandeln, dass sie sich freiwillig um solche Tätigkeiten bemühen - weil der eine Euro in der Stunde zusätzlich besser ist als nichts, weil sie tatsächlich auf einen "echten" Job hoffen, oder ganz einfach weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Diese PflichtarbeiterInnen müssen sich zwischen Pest und Cholera entscheiden. Doch wenn sie wirklich die Wahl hätten, dann wollen sie vor allem einen Job, von dem man vernünftig leben kann.

Mit der Pflichtarbeit wird die Erwerbslosenstatistik geschönt und Menschen aus dem Hilfebezug getrieben. Vor allem aber ist die staatlich organisierte Pflichtarbeit ein Angriff auf die Arbeitsbedingungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Gummibegriffe von Zusätzlichkeit und öffentlichem Interesse öffnen Lohndumping Tür und Tor. Erwerbslose ErzieherInnen finden sich als 1-Euro-Kraft in ihrer alten Einrichtung wieder. Entlassene KrankenpflegerInnen arbeiten anschließend für 1 Euro in irgendwelchen Pflegediensten, MaschinenschlosserInnen leiten für 1 Euro in Beschäftigungsprojekten Jugendliche an - die dort ihrerseits auf 1-Euro-Basis arbeiten. Es gibt inzwischen Einrichtungen, die ihre komplette Belegschaft durch PflichtarbeiterInnen ersetzt haben.

Zwangsdienste machen erpressbar - selbst da, wo sie nicht sofort eingeführt werden: Arbeitet länger! Verzichtet auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Schicht- und Wochenendzulagen und Pausenregelungen! Willigt in Haustarife ein! Oder wir ersetzen euch durch 1-Euro-JobberInnen! - Eine solche Sprache sprechen alle Arbeitgeber, auch die im Öffentlichen Dienst, bei den Kirchen und in der frei-gemeinnützigen Wohlfahrt.

Und erst Recht spricht diese Sprache der öffentliche Zuwendungsgeber. Wo die Regelangebote des sozialen Hilfesystems seit Jahren weggehauen werden, kommt jetzt die Pflichtarbeit als billiger Jakob daher. Ganzen Stadtteilen wie etwa St. Georg werden 1-Euro-Zangsdienste als billige und einfache Variante der Quartiersbelebung angedient.

Der Rückgriff auf Zwangsdienste legitimiert den Sozialkahlschlag: "Seht ihr, es geht doch! Trotz Sparen funktioniert doch alles!" Zum anderen ist die Pflichtarbeit der Einstieg in eine ruinöse Abwertungsspirale ohne Ende: Abwertung von Tätigkeiten, Abwertung von Leistungsangeboten, Deregulierung von Arbeitsverhältnissen. Wer vor diesem Hintergrund glaubt, mit der Einführung von Pflichtarbeit die eigene Einrichtung und den eigenen Arbeitsplatz retten zu können, die schneidet sich ins eigene Fleisch.

Aber tatsächlich sind die Würfel noch nicht gefallen. Es gibt erhebliche interne und organisatorische Schwierigkeiten bei der Umsetzung des 1-Euro-Arbeitsdienstes, und es wäre unsere Aufgabe, diese Schwierigkeiten noch zu erhöhen.

Diskutiert auf Betriebs- und Personalversammlungen! Sprecht mit PflichtarbeiterInnen!

Unterstützt sie bei der Selbstorganisation und bei ihren Forderungen!

Nehmt als Betriebsräte und Mitarbeitervertretungen euer Mitbestimmungsrecht wahr

Die Profiteure der Armut haben Namen und Anschriften. Sie lassen sich unter Druck setzen.

Solidarität und die Überwindung von Hierarchien und Spaltungen gelingt letztlich nur dort, wo sich Kämpfe aufeinander beziehen. Unterstützen wir also den Kampf gegen die Zwangsdienste, in dem wir auch unsere eigenen Kämpfe führen, gegen unsere eigenen beschissenen Arbeitsbedingungen, gegen unsere eigene Unterwerfung unter den Terror der Ökonomie.

Ich danke euch.


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