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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Franz, Denise und Nico"[*]

Biografischer Hintergrund

Franz K., 39 wuchs in einem Heim in München auf. Nach dem Sonderschulabschluss begann er eine Ausbildung als Kraftfahrzeugmechaniker. Die musste er krankheitsbedingt abrechen. Danach arbeitete er als Schausteller, als Lagerarbeiter oder freier Handelsvertreter. So kam er nach Osnabrück und lernte Denise L. kennen. 1998 wurde Sohn Nico geboren. Seit 1999 ist Franz durchgehend arbeitslos, 2003 hat er eine "Ich-AG" gegründet.

Denise L., 35, begann 1989 nach der Hauptschule eine Lehre zur Bäckereifachverkäuferin. Nach einem Monat wurde sie gekündigt, ohne Angabe von Gründen. Seitdem ist sie arbeitslos. Unterbrochen wurde die Arbeitslosigkeit bisher nur einmal durch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Sozialames - und die Geburt des Kindes. Inzwischen bezieht sie Arbeitslosengeld II.
Nico, 5, besucht zurzeit die Vorschule.

Beim Sozialamt (2000)

Bei der ersten Befragung lebten Franz, Denise und Nico noch zusammen. Sie hatten etwa 1.150 € zur monatlichen Verfügung. Schon knapp die Hälfte des Einkommens musste allerdings für die Miete verausgabt werden. Dies bedeutete für sie: Das Geld sicherte zwar das Überleben - doch nur um den Preis drastischer Einschränkungen. Schon bei Ernährung und Kleidung wurde gespart, für gesundes Essen, haltbare oder gar modische Kleidung reichten die Leistungen von Arbeitsamt und Sozialamt nicht aus. Die Freizeitgestaltung beschränkte sich auf das Ausleihen von Videos. Ausgehen oder gar Urlaubfahrten waren nicht erschwinglich.

Franz und Denise belastete das Gefühl sozialer Ausgrenzung. Sie selbst konnten zwar mit ihren geringen Ausstattungsmöglichkeiten umgehen, doch in der Nachbarschaft fielen sie auf, ohne Auto, mit immer der gleichen Kleidung, ohne die Möglichkeit, an Festivitäten teilzunehmen. Frühere "Freunde" hätten sich zurückgezogen, seit man einfach kein Geld mehr für Ausflüge und Ausgehen habe. Und: Dauerhaft auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein, immer sagen zu müssen, man habe keine Arbeit, das mindere das Selbstwertgefühl doch erheblich.

Stärker belastete sie jedoch die Sorge um die Zukunft ihres Sohnes Nico. Zwar sei für ihn die gebrauchte Kleidung, der abschätzige Blick der Nachbarschaft, noch nicht so wichtig. Doch reichte das Geld schon jetzt nicht für gesunde Ernährung, für ökologisch und pädagogisch wertvolles Spielzeug für den Kleinen. So fürchteten die Eltern, dass Nico sich nicht angemessen entwickelt und später in der Schule Probleme bekommen würde. Um die Sorge zu mindern, hatten Franz und Denise das Geld für das neue Dreirad, den Malblock und die Stifte von der letzten Weihnachtsbeihilfe vom Sozialamt abgespart.

Denise hoffte damals, dass sich ihre Situation verbessern würde, wenn sie endlich einen regulären Job fände. Franz verfocht die Idee einer Selbstständigkeit. Allerdings waren beide skeptisch. Denn es bestanden noch ca. 1.800 € Altschulden. Für jemanden ohne Geld keine geringe Summe. Für einen potentiellen Arbeitgeber sicherlich ein "Einstellungshemmnis".

"Arbeitslosengeld II - Ich-AG gegründet - Lage unverändert (2005)

Als wir Franz, Denise und Nico wieder treffen, leben sie nicht mehr zusammen.

Sie sind jedoch weiter befreundet. Franz hat sich als "Ich-AGler" mit Hilfe der Bundesagentur für Arbeit selbstständig gemacht. Denise ist weiter arbeitslos. Sie bezieht jetzt Arbeitslosengeld II und für Nico gibt es Sozialgeld. Insgesamt hat sich die Einkommenslage damit gegenüber 2001 kaum verändert.

Vor etwas mehr als einem Jahr kam Denise in den Genuss einer Fördermaßnahme des Sozialamtes. Sie hat ein Jahr lang bei einem beruflichen Bildungsträger für sozial benachteiligte Jugendliche in der Küche gearbeitet und dort monatlich gut 800 € verdient. Zu wenig, um vom darauf folgenden Arbeitslosengeld leben zu können, aber immerhin genug, um für ein Jahr unabhängig von Ämtern zu sein. Und sogar genug, um einen Teil der Schulden zurückzuzahlen. Und nebenbei: Der Bildungsträger hat für ein Jahr eine äußerst kostengünstige Arbeitskraft gehabt.

Denise hat auf jeden Fall die Tätigkeit - und vor allem die einhergehende Unabhängigkeit von Ämtern - sehr gut gefallen. Sie beklagt deshalb auch, dass die Maßnahme nicht verlängert wurde. Auch die Wünsche, durch die Arbeitserfahrung jetzt besser einen Job zu finden, haben sich nicht erfüllt. 2-3 Bewerbungen schreibt sie jede Woche, allerdings in einer Beratungseinrichtung oder bei Freunden, weil sie selbst keinen Drucker besitzt: An Schlecker, Lidl, Coca-Cola-Heydt, Schöller usw., als Kassiererin, Aushilfe, Stundenkraft, zum Einpacken, Auspacken, Kommissionieren etc. Bisher hat sie jedoch nur Absagen bekommen - wenn die Arbeitgeber überhaupt reagierten. Die einzigen Einladungen, die sie erhält, kommen vom Arbeits- oder vom Sozialamt. Nicht, weil die Jobs im Angebot hätten. Sondern dort wird dann geprüft, ob sie ihren "Bewerbungsverpflichtungen" oder sonstigen Auflagen nachkommt.

Neuerlich hat sie eine Sperrzeit erhalten. Der Arbeitsberater hatte sie zum 1 Tag vor Weihnachten eingeladen, um mit ihr über ihre "Arbeitsbemühungen" zu sprechen! Denise ist wegen Problemen mit ihrem Sohn und der anstehenden Feiertage darüber hinweg gekommen. So bekam sie zwei Wochen kein Geld von der Arbeitsagentur.

In einer ähnlich vertrackten Situation steckt auch weiterhin Franz. Zwar erklärt er beim Zweitgespräch stolz, dass er - dank des neu eingeführten Ich-AG-Zuschusses - jetzt endlich selbstständig sei. Er hat einen Einkaufs- und Transportservice für jede Gelegenheit gegründet. Für alte Leute, die den Weg zum Supermarkt nicht mehr allein schaffen, für berufstätige Singles, die keine Zeit haben, für Menschen, die ihr Haustier zum Tierarzt bringen, aber sich nicht die Zeit dafür nehmen wollen, für solche, die Hilfe bei der Entrümpelung ihrer Wohnung benötigen usw. Daneben versucht er durch Nebenjobs, als Packer und Aktenvernichter auf Abruf (für 6-10 € pro Stunde), zusätzlich Geld zu verdienen.

Doch trotz dieser Entwicklung zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass sich auch für Franz wenig geändert hat. Auf Nebenjobbasis kommen kaum Aufträge, trotz des geringen Lohnes, den er nimmt. Und die Nachfrage nach Dienstleistungen der oben beschriebenen Art ist weit geringer, als öffentlich immer wieder verkündet. Zu allem Überfluss ist inzwischen auch noch der Geschäftspartner, der einzige der einen Führerschein hatte, aus Frust ausgestiegen. So kann Franz im Endeffekt von seinen Einnahmen gerade mal die Kosten für die Krankenversicherung abdecken. Den Ich-AG-Zuschuss in Höhe von 600 € braucht er schon jetzt, um nur zu überleben. Und der wird schon bald auf 360 € gesenkt, dann auf 240 €. Nach drei Jahren wird er ganz entfallen.

Fazit:

Franz, Denise und Nico kann nicht vorgeworfen werden, das sie sich zu wenig bemühen oder gar in der Armutssituation verharren wollen. Ihr Beispiel zeigt, dass es in unserer Gesellschaft - trotz aller Bemühungen - kaum noch Entwicklungsspielräume für Menschen mit geringer formaler beruflicher und schulischer Qualifikation gibt.

Die vorgeblich vorgehaltenen "aktivierenden Hilfestellungen" erweisen sich entweder, wie Denises Erfahrungen mit der Arbeitsagentur zeigen, als Versuch, diesen Personenkreis weiter zu drangsalieren oder, wie im Fall von Franz` geförderter Existenzgründung, als Weg, der mittelfristig wieder in die Armut führt.

Wirklich hilfreich wäre hier eine ausreichende materielle Grundsicherung ohne bürokratische Auflagen, sodann die Ausweitung von Qualifikationsprogrammen und schlussendlich die Schaffung von existenzsichernden Arbeitsplätzen, damit auch für Menschen mit formal geringeren Qualifikationen die Teilhabe sichergestellt wird.

Hinweis:

Die Erfahrung von Denise, von der Arbeitsagentur keine Arbeitsangebote zu bekommen, dafür aber Vorladungen zur Überprüfung der Bewerbungsbemühungen, teilt sie seit geraumer Zeit mit vielen Erwerbslosen. Denn bei etwa 5 Mio. Arbeitslosen, aber nur ca. 350.000 freien Arbeitsplätzen, fehlt es einfach an Jobs. Trotzdem soll die Arbeitsagentur zumindest offiziell die Arbeitslosenzahlen senken. Nach einer Dienstanweisung (Titel: "Geschäftspolitik 2003, Ziel: Bestand Arbeitslose senken") sind die Mitarbeiter der Agenturen aufgefordert, den Zugang zu den Leistungen zu erschweren, ältere Arbeitslose, trotz deutlicher Rentenabschläge, in den Vorruhestand abzuschieben, oder mehr Sperrzeiten zu verhängen. Ein Mittel hiefür: Erwerbslose möglichst zu unmöglichen Terminen (zum Beispiel spät nachmittags oder an "Brückentagen") einzuladen, damit sie die Vorladung versäumen. Die Strategie selbst scheint erfolgreich: 2003 ist die Zahl der Sperrzeiten um mehr als 1/3tel auf 423.775 angestiegen. Insgesamt verschwanden in diesem Jahr 3,8 Millionen vormals Erwerbslose wegen Vorruhestand, Nichterneuerung ihrer Meldung, fehlender Mitwirkung oder Krankheit aus der Statistik. Zum Vergleich: Wegen eines neuen Jobs meldeten sich nur 3,3 Millionen Menschen aus der registrierten Arbeitslosigkeit ab. (vgl. hierzu: Rolf Winkel: Vermitteln oder Vergraulen. In: Süddeutsche Zeitung 21.02.2004)

Anmerkung:

Der Text ist eine Leseprobe aus: Armutsverläufe - Publikation zu Armut und Lebenslauf

Armutsverläufe ist der Titel einer neuen Publikation zu Armut und biografischer Erfahrung. Sie wurde im Rahmen des Ausstellungsprojektes "Armut grenzt aus" der Osnabrücker Arbeitslosenselbsthilfe e.V. erstellt und porträtiert sechs von Armut betroffene oder bedrohte Haushalte in Texten und Bildern.

Die Porträts basieren auf umfangreichen Interviews mit den Betroffenen. Da die Haushalte schon einmal im Jahr 2000 nach ihrer Lebenssituation befragt wurden, illustrieren Texte und Bilder nicht nur die aktuelle Lebenssituation. Sie zeigen auch auf, wie sich die Lage der Betroffenen im Verlauf der Jahre verändert hat.

In der Gegenüberstellung der damaligen und heutigen Lebenssituation wird deutlich, welche äußeren Bedingungen und welche individuellen Entscheidungen für Veränderungen in der Lebenslage verantwortlich sind. Unmittelbar aus diesen Lebenserfahrungen der Betroffenen werden dann Vorschläge zu einer effektiven Armutsbekämpfung abgeleitet.

Eine allgemeine Einführung zum Begriff relativer Armut und aktuelle Fakten zu Armut und Reichtum in Deutschland sind der Publikation vorangestellt.

Die Publikation "Armutsverläufe" (24 Seiten, vierfarbig) kostet 7,50 Euro und ist bei der Arbeitslosenselbsthilfe e.V. sowie im Buchhandel erhältlich (ISBN 3-935431-06-6, Verlag Sozio-Publishing, service@sozio-publishing.de, www.sozio-publishing.de externer Link).

Wer weitere Informationen zur Publikation oder zum Projekt möchte, kann sich direkt an die Arbeitslosenselbsthilfe e.V., Lotter Straße 6-8, 49074 Osnabrück, 0541/4097725, wenden.

 


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