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Updated: 18.12.2012 15:51
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NEUERSCHEINUNG (April 2000):

Hans-Peter Krebs/Harald Rein (Hg.):

Existenzgeld, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster

Vorwort:

Die Idee für den vorliegenden Band entstand anlässlich der Konferenz "Für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Zur Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft", die im März 1999 auf Initiative der Zeitschrift Arranca! und der Sozial AG von FelS (Für eine linke Strömung) organisiert wurde. Damals beteiligten sich gut 300 TeilnehmerInnen aus dem links-oppositionellen Spektrum an mehreren Diskussionsrunden um das Thema Existenzgeld und radikale Arbeitszeitverkürzung. Sowohl die unterschiedliche Herkunft der TeilnehmerInnen als auch die Vielfalt der vertretenen Positionen zum Thema zeigten dessen hohe Relevanz und aktuelle Anschlussfähigkeit an breitere gesellschaftliche Fragen wie Geschlechterverhältnisse, Rassismus, Migration und gesellschaftliche Naturverhältnisse. Gerade diese Ausweitung in gesellschaftspolitische Themenbereiche hinein ermöglichte eine sachbezogene Überwindung der anfänglich noch vorherrschenden Skepsis gegenüber diesem Politikansatz. Ohne Zweifel konnte dabei auf die zahlreichen Erfahrungen der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen zurückgegriffen werden, die sich seit vielen Jahren (jenseits von Gewerkschaften) um das Thema formieren. Aber auch die eher skeptischen Erfahrungen der Betriebsarbeit flossen ein. So gesehen war die Konferenz angesichts der gelungenen Öffnung ein Erfolg - trotz kleinerer Mängel hinsichtlich ihrer Konzeption. Wie produktiv die Debatte war, zeigt sich auch darin, dass verschiedene Vortragsaktivitäten quer durch die Bundesrepublik auf ein reges Interesse stießen, die von einigen Gruppen in Kooperation mit Initiativen vor Ort im Laufe des Jahres 1999 veranstaltet werden konnten. Dieser positive Schwung wurde durch den Kriegseintritt der Bundesrepublik im Falle Kosovo jäh unterbrochen, was zahlreiche politische Aktivitäten anderweitig band. Wir wollen daher mit diesem Band den angefangenen Faden wieder auf und sowohl den Stand der Diskussion festhalten als auch die vorhandenen Diskussionsstränge aufnehmen, erweitern und verbreitern.

Obwohl vieles mittlerweile auf das Ende der Vollbeschäftigung hinweist, hält das herrschende Kartell der Herrschenden (Regierung, Unternehmer, Gewerkschaften) am obsolet gewordenen Ziel der Arbeitsgesellschaft fest - als wäre noch alles beim Alten. Zweifelhafte "Erfolge" in der Beschäftigungspolitik und die in zunehmendem Umfang erodierenden Normalarbeitsverhältnisse (prekäre Beschäftigungsverhältnisse, so genannte Scheinselbständigkeit, "geringfügige" Beschäftigungsverhältnisse etc.) sind nur einige Stichpunkte, die auf eine mehr und mehr "auseinander fallende Gesellschaft" (Gorz) hindeuten. Darüber kann auch der "heldenhafte" Pyrrhussieg des Bundeskanzlers im Fall der Holzmann AG mit bis zu 3000 "verloren gegangenen" Arbeitsplätzen nicht hinwegtäuschen. Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist durch eine Perversion gekennzeichnet, dass - so erkannte schon Marx - der enorme gesellschaftliche Reichtum (der in wenigen Händen angesammelt ist) sich in Arbeitslosigkeit von vielen ausdrückt. Da in einer "Lohngesellschaft" die Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse immer mit der Verschlechterung der Lebensverhältnisse einher geht, treffen die Diskussionen im Umfeld des Existenzgeldes sowie die Debatten zur Überwindung der Arbeitsgesellschaft ins strukturelle Zentrum der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse. Auf diese Weise können sie an die Debatten um das garantierte Grundeinkommen in den 80er Jahren anknüpfen, verweilen dort jedoch nicht nostalgisch, sondern stellen eine Beziehung sowohl zur Politik von oppositionellen Bewegungen nicht nur in romanischen Ländern als auch zu neueren gesellschaftstheoretischen Diskussionen her - hierfür seien stellvertretend André Gorz und der Operaismus genannt.

Zwar bleibt für Theorie die Praxis das bestimmende Moment - schließlich geht es um "das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung [...] als revolutionäre Praxis" (MEW Bd. 3, S. 6) -, was nur bedeutet, dass sich die eine ohne die andere nicht verwirklichen kann. Gerade aus diesem Grunde erinnert uns Lenin: "Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung." (LW 5, 379) Und Engels hatte in seinen Reflexionen über den deutschen Bauernkrieg sogar drei Seiten des Kampfes (theoretisch, politisch und praktisch-ökonomisch) gesehen, die es in Einklang zu bringen gilt. Seine Schlussfolgerung:

"Es wird namentlich die Pflicht der Führer sein, sich über alle theoretischen Fragen mehr und mehr aufzuklären, sich mehr und mehr von dem Einfluss überkommener, der alten Weltanschauung angehöriger Phrasen zu befreien und stets im Auge zu behalten, dass der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d.h. studiert werden will." (vgl. MEW Bd. 7, S. 542)

Sicherlich wird der letztgenannte Punkt heute inhaltlich anders aussehen als noch zu Marx und Engels oder auch zu Lenins Zeiten. Aber dass die klassischen Politiken der Armutsbekämpfung und Arbeitsbeschaffung in eine Sackgasse geraten sind, damit auch ein Stück weit die Krise von Sozialdemokratie und Gewerkschaft sowie der Arbeiterbewegung offen zu Tage tritt, macht ein Umdenken nötig, das gleichfalls eine andere Politikpraxis erzwingt. Hier werden die aktuellen Erfahrungen von oppositionellen Bewegungen Erwerbslosen vor allem in Frankreich nützlich und wichtig sein, aber auch theoretische Sichtweisen, wie sie beispielsweise in Büchern von Marco Revelli Die gesellschaftliche Linke. Jenseits der Zivilisation der Arbeit oder von André Gorz Arbeit zwischen Misere und Utopie enthalten sind. Von letzterem haben wir die Passage über das Existenzgeld sowie den darin vollzogenen Perspektivenwechsel des Autors abgedruckt, was mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags erfolgt. Beide Seiten, praktische Erfahrung und theoretische Reflexion, stehen in einem komplexen Zusammenhang, der in sich auch Gefahren der Reduzierung und Vereinseitigung, aber auch der Gleichsetzung beinhaltet. Insofern bleibt zu wünschen, dass beide in einer produktiven Dialektik münden und synergetische Wirkungen hervorbringen. Vielleicht kann das bereits laufende Projekt MORIANA, das vom Forschungsinstitut A. Aster in den europäischen Städten wie Milano, Genua, Torino und Napoli sowie Berlin (Kreuzberg, Friedrichshain), Paris und Valencia durchgeführt wird, auch dazu Anregungen liefern. Es geht dabei um neue Arbeitsformen und daraus entstehende Sozialstrukturen und ist methodisch an Mischformen von Aktion und Untersuchung orientiert, die sich aus Erfahrungen des Operaismus speisen. Neben Dario Azzelini arbeiten daran Aldo Bonomi, Marco Revelli, Marizio Lazzarato und Yann Moulier-Boutang mit.

Wir sehen die Aufgabe des vorliegenden Bandes insbesondere darin, die Vielfalt der Debatte beizubehalten und darüber hinaus ausweiten. Dieser Multiperspektivismus ist keineswegs ein Mangel, wie das manche während der Konferenz meinten, sondern eher eine Form der Kommunikation, die uns mit den zahlreichen Praxisfeldern in Verbindung bringt, in denen sich Kritik am Kapitalismus und an seiner Form der Vergesellschaftung angesammelt hat, für deren Artikulation aber noch nicht die geeignete Politikform gefunden worden ist. In diesem Sinne gilt heutzutage eben nicht mehr das Engelssche Motto von 1873 in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Bakunin: "Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns"( MEW Bd. 18, S. 386). Es geht uns daher auch nicht darum, Kritiken abzuwürgen, weshalb wir kritische Positionen explizit aufgenommen haben. Nach Antonio Gramsci beinhalten solche Kritiken oftmals rationale Elemente, auf die man erst im Spiel zwischen Argument und Gegenargument stößt. Der Band soll aber auch dazu anregen, Erfahrungen für praktische Politik formen auszutauschen und neue Räume für politische Praxis zu erschließen. In manchen Punkten ist er gleichwohl eine Art Dokumentation über den Stand der Debatte. Wem das zu wenig ist, der oder die sollte neue Ideen oder auch Kritiken am vorliegenden Bandes in einem Folgeband realisieren, zu dem wir hier alle Interessierten aufrufen. Für uns steht "Existenzgeld" nicht nur für eine bestimmte Position in der Debatte um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft oder vielmehr zur Überwindung der "Lohngesellschaft", sondern bietet eben auch Anschlüsse an viele gesellschaftsrelevante Themen. Sie ist geradezu Bestandteil einer praktischen Gesellschaftskritik.

Der Band beginnt mit einer Darstellung der Geschichte der Entwicklung zur Existenzgeldforderung innerhalb der Erwerbsloseninitiativen. Dies ist besonders deshalb notwendig, weil in vielen vergangenen Diskussionen der Begriff Existenzgeld in unterschiedlichster Weise gebraucht wurde. Im weiteren folgen in vier Diskussionsblöcken Positionen von Einzelpersonen sowie von politischen Gruppen zum Existenzgeld Diese umfassen sowohl Beiträge, die auf dem Kongress selbst gehalten wurden, sowie solche, die vor bzw. nach dem Kongress entstanden, als auch Originalbeiträge, die eigens für diesen Band geschrieben wurden. Der erste Diskussionsblock beinhaltet Beiträge im Zusammenhang mit der Existenzgeldkonferenz, der zweite stellt die Meinung der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverbände dar, während im dritten Block Beiträge veröffentlicht werden, die nach unserer Ansicht der allgemeinen Diskussion wichtige Impulse verleihen können, so etwa ein aktuelles Interview mit Michael Opielka, der sich in den 80er Jahren stark in den damaligen Debatten um ein garantiertes Grundeinkommen engagierte. Der vierte Diskussionsblock schließlich versammelt Beiträge zum Thema aus Frankreich, Italien und Spanien.

Neben den AutorInnen, die uns ihre Beiträge ohne Honorar überließen, möchten wir uns besonders bei der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt in Berlin bedanken, die uns finanziell mit einen Druckkostenzuschuss unterstützen.

Siehe auch weitere Beiträge aus und zum Buch

 


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