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Updated: 18.12.2012 15:51
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Mag Wompel

Vom Protest zur Revolte? *

Vielen mag der Unterschied zwischen Protest und Revolte marginal erscheinen und dennoch ist er nicht zu unterschätzen: in der Art der Protestformen (Unterschriftenlisten und Demonstrationen vs. Besetzungen, Regelverletzungen und Verweigerung), in ihren Zielsetzungen und - meist dadurch bedingt - auch in ihrer Wirksamkeit. Bezogen auf die aktuellen Widerstandsbewegungen gegen die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 liegt ihr momentan zu konstatierendes Scheitern m.E. in genau diesem Unterschied, den ich im Folgenden an einigen Beispiel aufzeigen möchte.

1. Einmalige Großdemonstrationen oder Alltagswiderstand?

Zugegeben, bundesweite Großdemonstrationen erfüllen eine durchaus wichtige Funktion. Diese wollte ich nicht wahrhaben, als ich mich im Sommer 2003 gegen die Planung der Demo am 1. November 2003 - und erst recht gegen diejenige am 3. April 2004 - ausgesprochen hatte. Die erste wurde durchaus zu einem Erfolg, gerade weil sie an den Gewerkschaftsbürokratien vorbei organisiert wurde, als eine echte Demo »von unten«. Damit erfüllte sie neben einem achtbaren Erfolg durch ihre überraschende Größe die Funktion eines von vielen lange nicht mehr erlebten Kollektivgefühls sowie einer Selbstbestätigung nach Innen. Diese wünschenswerte Stärkung des Selbstbewusstseins der BasisaktivistInnen hielt jedoch nicht lange genug an, um die Organisierung der nachfolgenden Demonstration Anfang April 2004 »auf gleicher Augenhöhe« mit den Gewerkschaftsapparaten durchzusetzen und ihren Dominierungsbemühungen zu widerstehen.

Damit konnte ein weiterer Nachteil ungestört greifen: Großdemonstrationen haben für viele eine Entlastungsfunktion, für das eigene Gewissen und als Ausrede für notwendige dauerhaftere Aktivitäten. Die Zentralisierung der Protestbewegung bindet zudem in unverhältnismäßiger Weise zu viele der ohnehin knappen Kräfte und stärkt nachhaltig die Politik von Repräsentanten (Gewerkschaftsfunktionäre, Attac, linke Splitterparteien) auf Kosten der Selbstorganisation von lokalen Aktivitäten.

Doch angesichts der Tatsache, dass noch so viele Menschen bei zentralen Großdemonstrationen und dezentralen Montagsdemos nichts an den verabschiedeten unsozialen Gesetzen verändern konnten (und ohne breite Arbeitsniederlegungen nicht hätten verhindern können) sowie ziemlich sicher ihre absehbaren Fortsetzungen (z.B. Kürzung der Sozialhilfe für die als nicht erwerbsfähig aussortierten Menschen) nicht werden verhindern können, braucht eine ernsthafte Bewegung dagegen einen langen Atem und regionale Strukturen für den notwendigen und viel wichtigeren Alltagswiderstand.

Denn dass alle Hartz-Gesetze mit ihren Grausamkeiten, den Protesten zum Trotz, tagtäglich reibungslos umgesetzt werden, liegt m.E. nicht an einer fehlenden dritten Großdemo, wie einige meinen, sondern an dem zu schwachen Alltagswiderstand der Betroffenen (samt Unterstützung durch alle potenziell Mitbetroffenen), den ich zum Bereich der Revolte zähle.

Hierfür sind gänzlich andere Ressourcen als für Großdemonstrationen notwendig. Keine zentrale Organisierung, kein einmaliger Verzicht auf etwas Freizeit sowie kein Aufbringen von Reisekosten, sondern Zivilcourage und Mut zum persönlichen Risiko. Solidarisches Verhalten und der eigenverantwortliche Kampf um die eigenen Rechte müssen in der Praxis erprobt und gelernt werden, wenn man endlich einsieht, dass wir uns weder in der Politik noch am Arbeitsplatz oder in der Gewerkschaft auf Stellvertreter verlassen können.

Auf diesem Ansatz basierte die Aktion Agenturschluss, die vom LabourNet Germany mit koordiniert wurde. Während die zuständige Gewerkschaft ver.di - anstatt die Hartz-Gesetze mit den Agentur-MitarbeiterInnen zu blockieren - für ihre reibungslose Umsetzung schulte und den Erwerbslosen bestenfalls beim Arbeitsplatz-Wettbewerb half, setzten wir auf den Widerstand der betroffenen Erwerbslosen und die persönliche Verantwortung ihrer BetreuerInnen bei den Arbeitsämtern bzw. Arbeitsagenturen/ARGEn. Ziel der Aktion waren - neben der öffentlichkeitswirksamen, symbolischen Besetzung der Agenturen am 3. Januar 2005 - die Schaffung von langfristigen Strukturen zum Schutz der Erwerbslosen vor Schikanen und zur Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte. Ziel war es aber auch, die sie betreuenden Agentur-MitarbeiterInnen an ihre Verantwortung zu erinnern, die im Rahmen von Hartz IV stark gewachsenen Ermessensspielräume zugunsten der Erwerbslosen und nicht gegen sie zu nutzen. Beide Ziele sind im Großen und Ganzen bislang gescheitert - aus Ängsten vor Schikanen auf der einen Seite oder aus Angst vor Arbeitsplatzverlust auf der anderen, je nach der Seite des Beratungstisches. Offenbar zählen zwei Dinge in unserer Gesellschaft immer noch zu den wichtigsten: einerseits die vermeintliche Sicherheit viel mehr als die eigene Selbstachtung und andererseits die Gesetzestreue auch den inhumansten Anforderungen gegenüber. Mit bloßen Protesten lassen sie sich beide nicht verändern.

Noch sind die Aktionen von zwar linksradikalen, aber eben doch Stellvertretern dominiert und offensichtlich unvermögend, stärker die bisher unpolitischen Teile der Betroffenen zu erreichen. Daher geht es nicht nur um dezentrale Aktionen, sondern zudem um Aktionsformen, die an Problemen des Alltags ansetzen und noch so zaghafte Formen der Revolte, als Verweigerung der direkt betroffenen Menschen, im Alltag ermöglichen. Diese gibt es ja durchaus, wenn auch subtil und individuell: »Hartz IV hat tatsächlich bewirkt, was zwanzig Jahre Erwerbslosenproteste nicht vermocht haben: Die Betroffenen kriegen ihren Arsch hoch. Sie sind gezwungen, sich nun selbst um ihr >weiteres Schicksal< zu kümmern. Sie bemühen sich verstärkt um Zeitarbeit, um irgendwelche Jobs, >bewerben< sich freiwillig auf Ein-Euro-Jobs, arbeiten schwarz, >organisieren< sich das notwendige Einkommen zu Überleben auf andere (illegale) Art. Jeder für sich, und Gott gegen alle.« [1]

Vielleicht ließe sich mit stärker alltagsorientierten und kollektiven Formen der Revolte das Gefühl der Ohnmacht und Vereinzelung überwinden, das, gepaart mit dem der Demütigung, bislang den Alltag der Betroffenen dominiert. Diese Wirkung wäre es wahrhaftig wert, mit den Aktionen von den bürgerlichen Medien ignoriert zu werden.

2. Gerechtigkeit und Solidarität

Die fast flächendeckend stattfindenden Montagsdemonstrationen seit dem Sommer 2004 nehmen im oben ausgeführten Zusammenhang eine Zwischenposition ein. Positiv an ihnen war und ist, sofern sie noch stattfinden, dass sie vor Ort sind, und sich damit gerade die bereits verarmten Betroffenen beteiligen können. Ebenso vorteilhaft sind ihr regelmäßiger Charakter sowie ihre regionale Ausrichtung, die vielerorts zur Schaffung der auch für den Alltagswiderstand notwendigen übergreifenden Strukturen bzw. zur Stärkung der bereits vorhandenen beigetragen haben.

Doch auch wenn sich viele der (noch?) Beschäftigten an den wöchentlichen Protesten beteiligt haben, ist hieraus leider kaum der wünschenswerte solidarische Zusammenhang erwachsen, auch im Alltag zwischen den jeweiligen Montagsdemos für die Interessen der bereits betroffenen Erwerbslosen einzutreten und ihre Kämpfe zu unterstützen. Wo sich Zusammenschlüsse der Montagsdemos z.B. an der Aktion Agenturschluss beteiligten, taten sie es ohne die Erwerbstätigen - von vielerorts erträumten begleitenden Arbeitsniederlegungen ganz zu schweigen. Auch die Tatsache, dass überall die MigrantInnen von Erwerbslosigkeit, Sozialabbau und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse am meisten betroffen sind, spielte an kaum einem Ort eine Rolle.

Diese weit verbreitete Ignoranz gegenüber den Arbeits- und Lebensbedingungen der ausländischen Menschen in der Republik ist dabei die eine Seite der Medaille. Ihre Kehrseite besteht in der nach wie vor starken nationalstaatlichen Orientierung hinsichtlich der sozialen Absicherung wie der Arbeitsmarktpolitik. Von »Wir wollen hier keine Verhältnisse wie in den USA, Polen etc.« über »Die Arbeitsplätze müssen in Deutschland bleiben« ist es nicht weit zu »Arbeitsplätze zuerst für Deutsche«. Anstatt dieser Ideologie etwas entgegenzusetzen, wird oft reaktionär - und Hand in Hand mit den Gewerkschaftsfunktionären - an eine »nationale Verantwortung« der Unternehmen appelliert, an den Standort Deutschland zu denken. Die Ansätze der Solidarität mit Lohnabhängigen in anderen Ländern sind selten und stecken erst in den Kinderschuhen. Sie hätten auch zur Voraussetzung gehabt, dass bereits auf nationaler Ebene die Spaltungen innerhalb der Lohnabhängigen überwunden wären und ein anderes Gerechtigkeitsverständnis herrschte.

Denn die bei vielen der Montagsdemos verbreitete Kritik an Hartz IV, nach Jahrzehnten des Buckelns und nach nur 12 bzw. 18 Monaten auf das Sozialhilfeniveau zu fallen, bezeugt ein für Spaltungen und Sozialneid anfälliges Gerechtigkeitsverständnis. Anstatt diesen Versicherungsbetrug als solchen anzuprangern - wie auch die Tatsache, dass Sozialversicherungen allgemein durch die zunehmende Privatisierung der Lebensrisiken zu verdeckten Steuern verkommen - grenzt man sich vielmehr von als »Schmarotzern« empfundenen Sozialhilfeempfängern ab, während es (im Gegensatz zu den Angriffen auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) jahrzehntelang nicht kümmerte, dass sie längst unter der Hartz'schen Verfolgungsbetreuung litten und ihre Grundsicherung kontinuierlich gekürzt wurde. Diese an den Sozialhilfeempfängern erprobten Maßnahmen wurden erst als menschenunwürdig erkannt, als es auch die Menschen betraf, die sich bislang fernab und als »bessere Gesellschaftsmitglieder« wähnten . »Ein diskriminierendes, verarmendes, repressives System wird angeklagt, weil es einen selbst trifft - ein interessantes Phänomen, das allerdings in dieser Gesellschaft voller Untertanen zum gängigen Bewusstseinsrepertoire gehört.« [2]

Dieser Haltung müssen wir unbedingt eine solidarische entgegensetzen, bevor uns die andauernde Massenerwerbslosigkeit weitere Spaltungen beschert: unschuldige Konkurs-/Outsourcingopfer vs. Alkohol- und psychisch Kranke? Kurz- vs. Langzeiterwerbslose, nach Jahren gestaffelt? Euphorische Ein-Euro-JobberInnen gegen vermeintliche Drückeberger und Faulenzer? Dies sind denkbare und leider durchaus realistische Spaltungslinien der sich als besser dünkenen Betroffenen, sofern das Bedürfnis nach Abgrenzung >nach unten< und das unsolidarische Gerechtigkeitsempfinden unhinterfragt bleiben.

3. Objekte und Ziele der Proteste

Dauerhafte alltägliche Wirksamkeit der Protestformen und die Überwindung der Spaltung zwischen den (noch?) beschäftigten und den (noch?) erwerbslosen Lohnabhängigen wurden bisher als Voraussetzung für die erfolgreiche Blockade der sozialpolitischen Grausamkeiten genannt. Sie können jedoch nur als notwendige, aber keinesfalls als hinreichende Bedingung genannt werden. Der Erfolg der sozialen Widerstände steht und fällt nämlich mit ihren inhaltlichen Forderungen.

Als die größte Klippe für wirksame einheitliche Proteste und den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze hat sich die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsicherung erwiesen. Dies gilt für die Gewerkschaftsbürokratie gleichermaßen wie für die meisten der (noch?) beschäftigten wie erwerbslosen Lohnabhängigen selbst.

Durch die geschickte Propaganda der Regierung, mit den Ergebnissen der Hartz-Kommission sich endlich wirksam um das Schicksal der Erwerbslosen kümmern zu wollen, wurde von Beginn der Debatte an jeder Kritiker des Zynismus gegenüber den Erwerbslosen und ihrem plötzlich so bedauernswertem Zustand bezichtigt. Durch diese Propaganda wurden auch die Gewerkschaftsspitzen ins Boot geholt, die ihre oberste Aufgabe schon immer darin gesehen haben, »Menschen in Arbeit zu bringen«. Wird das Schicksal von bisher unbeachteten Millionen von »Verlierern« plötzlich zum Politikum und bleibt die Lohnabhängigkeit unhinterfragt, akzeptieren auch vermeintlich linke Kreise längst überkommene Rezepte der Realpolitik: Vollbeschäftigung durch wirtschaftspolitische Anreize, Lohnsenkung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse bis hin zu ihrer Auflösung und nicht zuletzt »Beschäftigungspolitik« durch Arbeitsdienste, unsinnige Weiterbildungs- und Trainingsmaßnahmen, über Leiharbeit erzwungene Arbeitseinsätze in schlechter bezahlte Jobs sowie ihre Subventionierung durch die Steuergelder der Lohnabhängigen. Das Argument vieler halbherziger Hartz-Kritiker schlägt uns nun mit voller Wucht zurück ins Gesicht: »Hartz-Gesetze schaffen keine Arbeitsplätze«.

Und ob sie schaffen! Erstens menschenunwürdige, repressive, dafür aber »moderne« Arbeitsdienste in Form von erzwungenen und entrechteten sowie nur angeblich »zusätzlichen« Ein-Euro-Jobs in rauen Mengen und zweitens schaffen sie »reguläre« Arbeitsplätze ab. Von den Arbeitsplätzen der Fallmanager, Kontrolleure und Sozialschnüffler abgesehen. In der Summe können sie ein reines Beschäftigungswunder vorweisen, zumindest solange, wie bisher überwiegend, die Qualität und der existenzsichernde Charakter dieser Arbeitsplätze außer Acht gelassen werden.

Die Mischung aus angeblicher Alternativlosigkeit der Lohnabhängigkeit und Angst vor Hartz IV lässt die Belegschaften weitere Verzichte an Lohn wie an Arbeitsbedingungen hinnehmen, anstatt die erkämpften Standards zugunsten aller Lohnabhängigen hochzuhalten. Und es steht zu befürchten, dass die meisten Erwerbslosen sich nicht gegen den Zwang zum Lohndumping durch Ein-Euro-Jobs wehren werden, aus der Hoffnung heraus in einen festeren Job übernommen zu werden. Denn das zweite, mit der angeblichen Alternativlosigkeit der Lohnabhängigkeit zusammenhängende Hemmnis für einen wirkungsvollen, einheitlichen Widerstand ist die Angst, die sich in der Bevölkerung ausbreitet. Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren oder Angst, keinen Arbeitsplatz zu finden. Immer öfter blanke Existenzangst. Diese Angst lähmt und verstärkt wiederum die Fixierung auf die Lohnarbeit. Im Zeitalter des propagierten Endes der Arbeitsgesellschaft ist Arbeit als Lohnarbeit dominierender denn je. Sie nimmt nicht nur zeitlich immer breiteren Raum in unserem Leben ein, auch Gedanken und Träume drehen sich darum, den vergangenen Arbeitstag oder die Angst vor dem kommenden zu bewältigen.

In dieser gewollten Konzentration auf das Notwendige, auf die blanke Existenz, sollen wir alle Hoffnungen und Träume von Menschenwürde, Luxus und Muße vergessen. Denn die Praxis von Hartz und Agenda 2010 heißt Entwürdigung: um den Job zu bekommen oder um ihn zu behalten. Grundrechte als unveräußerliche, also auch »unverdiente« werden abgeschafft, denn »nichts ist umsonst«. Neben dem ökonomischen Elend, das dadurch keinesfalls vernachlässigbar wird, muss auch dieses kulturelle Elend in den Blick geraten, wenn Protest und Widerstand nicht nur bloße Abwehr, sondern auch ein wirklich besseres Leben bewirken sollen. Denn bloß den schon immer repressiven Sozialstaat verteidigen zu wollen, beließe uns in der Defensive und überließe uns permanent erneuten Zumutungen und Angriffen.

Doch die aktuellen allenfalls am Anfang stehenden sozialen Bewegungen haben bislang selbst im ökonomischen Bereich die Debatte um Inhalte und Ziele des Widerstandes noch zu führen. Dieser fehlenden inhaltlichen Auseinandersetzung, aber auch der Scheu vor ihr, ist geschuldet, dass es bislang nur einen sehr schmalen gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Akteure dieser Bewegungen gibt. Dieser gemeinsame Nenner beschränkt sich auf einige kurzfristige und defensive Ziele: Sie reichen von der Rücknahme der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze, der »Umverteilung von oben nach unten«, bis hin zur Forderung nach Grundeinkommen oder Arbeitszeitverkürzung - und selbst hinter diesen Zielen steht man nicht unbedingt kompromisslos.

Parolen wie »Arbeit statt Hartz« oder Modelle einer Grundsicherung werden immer wieder mit den Bedingungen der kapitalistischen Lohnarbeit verknüpft. Es kommt aber darauf an, bedingungslose soziale Grundrechte als Mensch, nicht als Lohnabhängiger, zu stärken, um kapitalistische Zumutungen zurückzuweisen und menschliche Bedürfnisse ohne (Selbst-)Disziplinierungen zu realisieren. Es kommt darauf an, die Ansprüche der Menschen an das Leben und ihr Selbstbewusstsein zu erhöhen.

Denn Selbsterniedrigung und Gehorsam haben wir genug:

»Was machen 8.614 Bedarfsgemeinschaften, was machen 15.000 Alg II-Bezieher, was machen 11.000 Langzeitarbeitslose in Oldenburg? Sie lassen sich in den Arsch treten und kuschen!

  • Sie nehmen klaglos ihre Bescheide entgegen, obwohl sie kein Wort davon verstehen, obwohl ihnen mit diesen bewusst verweigert wird, die Berechnungen nachzuprüfen, die doch über ihr weiteres Leben bestimmen.
  • Sie lassen sich von überarbeiteten und abgenervten ARGE-Mitarbeiter-Innen abwimmeln, vertrösten, rumschubsen und schikanieren.
  • Sie widersprechen nicht, wenn sie aus ihren Wohnungen geschmissen werden sollen, weil die angeblich ein paar Euro über der Angemessenheit liegen; sie fragen nicht einmal danach, was angemessen heißen soll und wer das denn für sie festlegt.
  • Sie hauen den Bütteln nicht auf die Finger, die in ihren privaten Wohn- und Lebensverhältnissen herumschnüffeln, um ihnen irgendwas unterzuschieben, womit wieder eine Leistung gestrichen werden kann.
  • Sie lassen sich ihre über lange Jahre mühsam angesparte private Altersvorsorge einfach wegnehmen.
  • Sie wehren sich nicht dagegen, dass sie mit perspektivlosen Ein-Euro-Jobs abgespeist werden.
  • Sie schreien nicht auf, wenn das ganze Hartz-Gesabbel sich als dreiste Lüge entpuppt: statt mehr Arbeitsplätze weniger Arbeitsplätze, statt besserer Betreuung und Vermittlung mehr Chaos und Schikane, statt einer Perspektive auf menschenwürdige Arbeit die Perspektive auf weitere Verarmung und Ausgrenzung.« [3]

Der m.E. einzig mögliche Ansatz dagegen besteht nicht im Schrei nach mehr Arbeitsplätzen und Ausbeutung, sondern in bedingungslosem Grundeinkommen und bedingungslosen sozialen Grundrechten für alle. Eine Perspektive kann nur sein, die Ideologie von Hartz IV zu brechen und die Grundphilosophie der kapitalistischen Verwertung durch eine Philosophie der Menschen- und Grundrechte hochzuhalten. Die Arbeitslosigkeit ist in diesem Sinne nur ein Symptom der Lohnabhängigkeit und letztere gilt es zu bekämpfen.

*) Es handelt sich um einen - exklusiven - Auszug aus dem Buch "Klassen und Kämpfe", herausgegeben von der jour fixe initiative berlin. Das Buch, gerade erschienen im Unrast-Verlag Münster ( ISBN  3-89771-438-8), beinhaltet u.a. Beiträge von Sergio Bologna, Daniel Bensaïd, Moishe Postone. Siehe weitere Informationen und Bestellmöglichkeit beim Verlag externer Link

Anmerkungen

1) Bättig, Michael: Ein neuer Anfang? In: quer - Überregionale und unabhängige Zeitschrift für Erwerbslose Heft 2/2005.

2) Sonnenfeld, Christa: Ein neues Protestpotential? In: links-netz, August 2004. <http://www.links-netz.de/K_texte/K_sonnenfeld_potential.html> externer Link

3) ERGO (ERwerbslosen-Gewerkschaft-Oldenburg): Hartz-IV ist der notwendige Tritt in den Arsch der Arbeitslosen (Redaktionsleiterin der Financial Times Deutschland) - Hat sie nicht recht? In: STACHEL, unabhänige Stadtzeitung für Oldenburg, Sondernummer zu »100 Tage Alg II«. <http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/stachel.html>


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