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Updated: 18.12.2012 15:51
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Grand Cru auf den Barrikaden

Ohne Genussfähigkeit keine soziale Umwälzung

Der folgende Text ist ein Vorabdruck für Lunapark21 aus dem Buch "Das linke Weinbuch-Plädoyer für eine demokratische Genusskultur". Es erscheint im Herbst beim Mondo Verlag (Heidelberg).

Linke Weinpublizistik erscheint auf den ersten Blick etwas abseitig. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass es linke oder rechte, sozialdemokratische oder liberale Weine gibt. Bei Attributen wie "konservativ" und "ökologisch" erscheint eine gewisse Zuordnung dagegen durchaus möglich. Verlässliche Parameter für die Qualität oder den Wert eines Weines sind das aber keinesfalls.

Wein soll schmecken. Doch Geschmack muss man lernen. Wer sich ausschließlich mit Popmusik bedröhnt, wird kaum Zugang zu einer Bach-Kantate finden, wer nur Splatter-Movies kennt, wird sich nicht für eine Brecht-Inszenierung begeistern können. Und wer ausschließlich Wein trinkt, der anhand genormter Aromaprofile industriell produziert wird, dem bleibt die Vielfalt und Schönheit dieses Kulturgutes verborgen. Ein guter Wein kann Geschichten erzählen. Er hat einen Klang und ein Gesicht. Er kann durch Höhen und Tiefen begleiten, Inspiration vermitteln und Freude spenden. Und zwar nicht nur einer kleinen, begüterten Schicht.

Zu einer demokratischen Weinkultur gehört die Entelitarisierung des Weingenusses. Das heißt nicht, dass künftig jeder Hartz-IV-Empfänger oder Niedriglöhner ein staatlich finanziertes Kontingent an burgundischen Grands Crus und großen Gewächsen aus dem Rheingau erhalten soll (warum eigentlich nicht? - der layouter). Das bedeutet vielmehr, dass die Entwicklung und Förderung der Genussfähigkeit als Bildungsauftrag verstanden werden muss. Jeder Mensch sollte - sofern er am Weingenuss interessiert ist - in die Lage versetzt werden, einen guten von einem schlechten Wein unterscheiden zu können, besonders im unteren und mittleren Preisbereich. Er sollte wissen, wie die Weinwirtschaft strukturiert ist, welche Geschmacksnuancen es gibt und welche Parameter die Weinqualität beeinflussen. Besonders Menschen mit schmalem Geldbeutel sollten wissen, dass es auch für sie Alternativen zu der Industrieplörre von Aldi&Co gibt.

Weingenuss gehört zur soziokulturellen Teilhabe. Neben einem Minimum an materiellen Ressourcen ist dafür Bildung in jeglicher Form der entscheidende Schlüssel. Bildung bedeutet nicht nur Vermittlung von gesellschaftlich notwendigen Verhaltensformen sowie Elementar- und Spezialwissen, sondern sollte die dauerhafte Aktivierung der Neugier auf neue Erkenntnisse zum Ziel haben. Wem dies verweigert wird, der läuft Gefahr, sein Leben auf einfachste Formen der Bedürfnisbefriedigung zu reduzieren und keine Genussfähigkeit zu entwickeln. Er wird sich - egal, ob er zu den "absolut" oder "relativ" materiell armen Menschen gehört - auch nicht für kostenlose oder äußerst preisgünstige Kulturangebote wie subventionierte Konzert- und Theaterkarten oder öffentliche Bibliotheken interessieren. Er wird keinen Gedanken an schmackhafte und gesunde, aber dennoch bezahlbare Nahrung verschwenden. Und er wird alkoholische Getränke als willkommene Dröhnung begreifen und sich Wein ebenfalls unter dieser Prämisse einverleiben. Das hat dieses erhabene Getränk ebenso wenig verdient wie der Konsument, dem das Wissen um seine Besonderheiten vorenthalten wird. Genug Stoff für linke Weinpublizistik ist das allemal.

Nicht nur an deutschen Universitäten wird regelmäßig protestiert; gegen schlechte Studienbedingungen, mangelnde Berufsperspektiven, Studiengebühren oder weiß der Teufel was. Auch im traditionell rebellionsfreudigen Frankreich gehen Studenten regelmäßig auf die Straße, besetzen Hörsäle oder belagern Parteizentralen, und das meistens etwas heftiger als im Nachbarland.

Doch Letzteres ist beileibe nicht der einzige Unterschied in der jeweiligen Protestkultur. So kann man in Deutschland höchstens damit rechnen, dass die protestierenden Studenten in besetzten Unigebäuden "vegane Volxküche" auf die Beine stellen. An den Info- und Soliständen gibt es, falls auf einer der obligatorischen basisdemokratischen Vollversammlungen kein generelles Alkoholverbot beschlossen wurde, bestenfalls schlechtes Bier und inferioren Wein. Viel mehr als Punk, House oder Techno ist bei regenerativen Besetzer-Partys auch nicht zu erwarten. Manchmal droht sogar selbstverfasstes Protestliedgut.

Dementsprechend hoch schlug das Herz eines jeden Freundes demokratischer Genusskultur, als er im Herbst 2008 lesen konnte, dass Studenten der altehrwürdigen Pariser Sorbonne nicht nur ihre Universität besetzt hatten, sondern bei dieser Gelegenheit auch den Weinkeller des Uni-Präsidenten knackten, einen sympathisierenden Pianisten einluden und sich mit guten Getränken und einem gepflegten Chopin-Programm einen schönen Abend im altehrwürdigen Hauptgebäude der legendären Bildungsstätte machten.

Auch Arbeiter wissen in Frankreich und einigen anderen etwas südlicher gelegenen Ländern anständig zu feiern. Wer mal eine Mai-Feier bretonischer Sozialisten erlebt hat, wird sich angenehm an die frischen Austern, die exzellenten Langostinos mit Knoblauchmayonaise und den dazu gereichten "Gros Plant" erinnern, und auch bei den Festen portugiesischer Kommunisten scheint es nie an gegrillten Fischen, tollen Bacalhau-Gerichten und anständigem Wein zu mangeln.

Und in Deutschland? Der Besuch von "Mai-Festen" des DGB verbietet sich nicht nur aufgrund der langweiligen Reden, sondern auch wegen der unerträglichen Geruchsbelästigung durch altes Frittenfett und angekokelte Bratwürste. Dazu kommt dann noch möglichst mieses Bier aus Plastik- oder Pappbechern. Selbst den Kreuzberger Autonomen nebst extra angereisten Erlebnistouristen fällt bei ihren jährlichen Randalefestspielen am 1. Mai oftmals nichts Besseres ein, als nachts irgendwelche Billig-Supermärkte zu entglasen, um anschließend palettenweise "Sternburg-Pils" oder ähnlich schlimme Flüssigkeiten sowie Kartoffelchips palettenweise ins Freie zu tragen, statt im Vorfeld mit einer gut geplanten Kommandoaktion ausreichende Mengen Gänsestopfleber und Veuve Clicquot aus dem KaDeWe zu besorgen. Wahrscheinlich haben die auch Dario Fos Hymne auf die direkte Umverteilung ("Bezahlt wird nicht") weder gelesen, noch im Theater gesehen.

Das Strickmuster ist einfach: Gutes Essen und Trinken = bourgeois und "Herrschende Klasse"; schlechtes = proletarisch bzw. revolutionär. Dabei macht doch jede Revolte nur Sinn, wenn sie bessere Lebensverhältnisse für alle zum Ziel hat und dieses Ideal in der Phase des Kampfes bereits antizipiert. Proletarisches Bewusstsein heißt - wenn man die gängigen Denunziationen dieses Begriffs mal ausklammert - zu wissen, dass man einer Gruppe (von mir aus auch Klasse) angehört, die durch ihre Arbeit den gesellschaftlichen Reichtum schafft, denn bekanntlich lassen sich durch die Vermehrung von Geldscheinen keine realen Werte schaffen, sondern lediglich Umverteilungen realisieren. Und es heißt, einen angemessenen Anteil an diesem Reichtum einzufordern, sowohl als gesellschaftliche Norm, wie auch individuell. Statt dessen bescheidet man sich in linken Kreisen zumeist mit "proletarischen" Bierpappbechern und Bratwürsten. Da ist ein Mensch wie der Schlagersänger Frank Zander, der jährlich ein großes Gänseessen für Obdachlose in einem großen Berliner Hotel organisiert, um Längen "revolutionärer" als so mancher "Sozialaktivist".

Doch es geht noch absurder. Ausgerechnet die Top-Verdiener vom Spiegel widmeten der bekennenden Sozialistin, früheren EU- und jetzigen Bundestagsabgeordneten der Linken, Sahra Wagenknecht, einen hämischen Artikel, als diese in Brüssel beim Verspeisen eines Hummers "erwischt" wurde und prangerten ihre "Unglaubwürdigkeit" an. Aber warum bitte soll Frau Wagenknecht keinen Hummer essen? Sind die Brandreden der gut verdienenden Politikerin gegen Hartz IV und für eine Vermögenssteuer deswegen nicht mehr ernst zu nehmen? Ist sie wegen ihres Brüsseler Restaurantbesuches unglaubwürdiger als ein Ex-Bundeskanzler, der sich öffentlich gerne als Saumagenverzehrer und Freund einfacher pfälzischer Landweine zelebrieren ließ, aber aus seiner Verantwortung für millionenschwere Parteispendenskandale mit Erinnerungslücken ("Blackout") und "Ehrenworten" herauszumogeln vermochte? Oder als ein kürzlich verstorbener Ex-Finanzminister, der rechtskräftig wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde?

So genannte Linke, die sich dem Genuss verweigern, können mir mal. Sie sind auch politisch nicht ganz ungefährlich, wenn sie beispielsweise unter (berechtigtem) Verweis auf soziale Disparitäten in bestimmten Städten gegen die öffentliche Förderung von Opernhäusern und Sinfonieorchestern oder den Bau von Konzerthallen zu Felde ziehen.

In diesem Sinne geht mir auch die deutsche Variante des "Kampftages der Arbeiterklasse" am 1. Mai meilenweit am Allerwertesten vorbei. Ich brauche keinen gesetzlichen Feiertag, um mich für die Rechte der Marginalisierten - sei es als Journalist oder in Form direkten Engagements - einzusetzen. Und "proletarische" Bratwürste brauche ich ebenso wenig wie volksverbundenes Schrottbier. Für mich ist der 1. Mai daher seit Jahren mein persönlicher "Kampftag" des Spargelschälers. Schließlich müssen ein paar Kilo des edlen Gemüses kochfertig vorbereitet und die Schalen für den Sud ausgekocht werden, wenn ich für den Nachmittag einige Freunde und Bekannte in mein Wandlitzer Domizil eingeladen habe. Und bei den Küchenarbeiten höre ich auch kein "proletarisches" Liedgut, sondern eher dezente Meisterwerke aus feudalen Epochen (Bachs "Französische Suiten", gespielt von Glenn Gould, sind der Hammer zum Spargelschälen!) oder coolen Jazz. Die Freunde bringen dann einen Salat mit, ein Dessert, ein bisschen Rohmilchkäse oder ein paar Flaschen angemessenen Riesling und Weißburgunder (Elbling habe ich ohnehin immer im Haus). Falls ich mal wieder knapp bei Kasse sein sollte, wird für den Spargel eine kleine Umlage veranstaltet. Und wer keine Kohle hat, bringt eben nichts mit, zahlt auch nichts und ist dennoch herzlich willkommen. Am Tisch sitzen dann möglicherweise ein abgesicherter Beamter, ein Hartz IV-Empfänger, ein Erbe, ein Niedriglöhner, ein prekärer Scheinselbständiger, ein Gutverdiener und meine Wenigkeit - und allen schmecken an diesem 1. Mai die Bio-Frühkartoffeln, der Beelitzer Spargel, der Gurkensalat und der Wein.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin der Letzte, der etwas gegen ein gepflegtes Bier in einer gemütlichen Eckkneipe einzuwenden hat. Wenn ich mich in Berlin aufhalte, gehören das gegenüber meiner Wohnung im "Problemkiez" Moabit-West gelegene Etablissement "Zum Stammtisch" (dort gibt es im Winter manchmal sogar Pferderouladen oder hausgepöckeltes Eisbein mit Erbspürée) sowie das "Keglerheim" in Kreuzberg zu meinen bevorzugten Orten gelegentlich notwendiger aushäusiger Entspannung. Da bekomme ich von freundlichen und kompetenten Gastwirten ein gut gezapftes großes Pils für zwei Euro, kann entweder ungestört vor mich hin sinnieren, mit Freunden und Bekannten bierselige Gespräche führen, oder in den Alltag der dort verkehrenden "gewöhnlichen" Menschen eintauchen. Man bekommt spannende Geschichten, aber auch viel schräges Zeug zu Gehör, vor allem politisch. Gerne zeige ich Flagge und streite mich ein wenig, was in der Regel ohne unangenehme Eskalation verläuft. Außerdem darf ich dort rauchen!

Auch das ist für mich demokratische Genusskultur. Aber eben nur eine Facette. Frau Wagenknecht soll in Brüssel ohne hämische Kommentare Hummer essen können, und ich meine Austern, Garnelen und den Beelitzer Spargel. Wenn der IG-BAU-Vertrauensmann oder der IG-Metall-Betriebsrat auf Pappbecherbier stehen, bitte sehr! Doch ich sehe mich nicht als "Verräter" mit "bourgeoisen Allüren", wenn ich in der Regel solide oder manchmal auch richtig edle Weine bevorzuge. Der (meist aus Schwaben stammende) Kreuzberger Autonome darf auch gerne Punk hören und vergöttern, solange er nichts dagegen hat, dass andere Linke mehr auf barocker Kirchenmusik, Sinfonien des 20. Jahrhunderts und Miles Davis stehen. Eine vermeintlich Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie - Heft 9 vom Frühjahr 2010fortschrittliche Bewegung, die dies negiert, wird mich jedenfalls in den Reihen ihrer erbitterten Gegner finden.

Artikel von Rainer Balcerowiak aus Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie - Heft 9 vom Frühjahr 2010 - exklusiv im LabourNet Germany

Rainer Balcerowiak, Jahrgang 1955, lebt in Berlin und Wandlitz und arbeitet als Politikredakteur bei der Tageszeitung junge Welt. Seit geraumer Zeit beschäftigt er sich - nicht nur publizistisch - mit Wein.

Zum ganzen Heft Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie siehe die Verlagshomepage externer Link


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