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Updated: 18.12.2012 15:51
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ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 502 / 20.1.2006

Im Jahr 1 nach Hartz IV

Das Netzwerk Agenturschluss präsentiert eine Zwischenbilanz von unten

Pünktlich ein Jahr nach In-Kraft-Treten von Hartz-IV wurde am 2. Januar auf einer gut besuchten Pressekonferenz in Berlin das "Schwarzbuch Hartz IV" präsentiert. Der Sammelband wurde vom Netzwerk Agenturschluss herausgegeben und enthält konkrete Tipps und Tricks für Hartz-IV-EmpfängerInnen genauso wie die Analyse arbeitsmarktpolitischer Bausteine und die Einordnung und Bewertung des sozialpolitischen Angriffes der Agenda 2010 im historischen und internationalen Kontext.

"Die Prüfdienste von Hartz IV werden seit Januar 2006 regelmäßig von freundlichen Nachbarn mit einer Kissenschlacht empfangen. Zahnbürsten regnen auf die Sozialschnüffler herab, im Ehebett tummeln sich die Bedarfsgemeinschaften. Zwangsumzüge scheitern, weil der Möbelwagen nicht kommt, denn viele FreundInnen blockieren die Zufahrt." Offensiv und kämpferisch leitet das Editorial die Zwischenbilanz ein, doch beim Lesen der ersten Beiträge, die einen konkreten Einblick in die Hartz-IV-Realität bieten, entsteht eine beklemmende Stimmung, sie vermitteln das Ausmaß der demütigenden und entrechtenden Aktivierungspolitik des Förderns und Forderns. Doch bleiben die Beiträge nicht nur bei der Beschreibung des Elends stehen, sondern liefern auch konkrete Tipps und Tricks und zeigen Widerspruchsmöglichkeiten gegen das schikanöse und z.T. auch rechtswidrige Vorgehen der Agenturen auf.

Ein anderer Beitrag beschäftigt sich mit dem aggressiven Fallmanagement sowie der Praxis des so genannten Profiling. Diese Maßnahmen zielen nicht auf die Vermittlung in Arbeit, sondern dienen der Abschreckung und sollen Anspruchsberechtigte aus den Leistungsbezügen hinausdrängen. Zugleich erhöhen diese Disziplinierungen den Druck auf Erwerbslose und Erwerbstätige, Lohnarbeit unter miesen Bedingungen anzunehmen. Die AutorInnen kritisieren die umfassende und auch rechtswidrige Datenerhebung im Rahmen des Profiling und sprechen von einem sozialpsychologischen Erwerbslosenscreening, bei dem der Persönlichkeitsschutz unter Androhung von Strafe aufgelöst wird. Schade, dass dieser Beitrag derart mit Detailwissen und Fachbegriffen bestückt ist, dass einige Passagen für LeserInnen ohne entsprechende Kenntnisse zusammenhangslos und unverständlich bleiben.

In mehreren Texten wird ein Zusammenhang zwischen den in regelmäßigen Abständen öffentlich lancierten Missbrauchsdebatten und der Legitimation verschärfter Kontrollmaßnahmen gegenüber Erwerbslosen hergestellt. Die Überwachungspraxis wird inzwischen mittels der Prüfung telefonischer Erreichbarkeit und unangemeldeter Besuche von Sozialschnüfflern an den Wohnungen der LeistungsempfängerInnen durchgeführt. Hartz IV entpuppt sich vor diesem Hintergrund als ein Instrument der Arbeitsmarktpolitik, mit dem der repressive und kontrollierende Zugriff auf die Bevölkerung verschärft wird. Das neue Sozialgesetzbuch II (SGB II) markiert den endgültigen Übergang vom Wohlfahrt- zum Workfare-Staat.

Tipps, Tricks und Analysen - Tristesse und Widerstand

In der gängigen Berichterstattung wird der demütigende und zurichtende Charakter, das Zwangsverhältnis und die ideologische Funktion dieser Arbeitsmarktpolitik ausgespart. Nicht so im "Schwarzbuch Hartz IV". Hier werden die Agenda 2010 und die forcierten Verarmungsprozesse als organisierter sozialer Angriff und Ausdruck kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse verstanden. Das macht das Buch lesenswert. Die Vielzahl der Beiträge hat allerdings den Nachteil, dass sich bestimmte Beschreibungen und Bewertungen wiederholen.

Ergänzt und unterstützt werden die Einschätzungen, Erfahrungen und Analysen durch Ergebnisse anonymer Umfragen zum Arbeitsamt und zu Ein-Euro Jobs, durchgeführt von der Dokumentationsstelle Hartz IV zwischen März und November 2005. 664 Erwerbslose hatten sich daran beteiligt. Daneben wird auch eine explizite Online-Befragung zu Ein-Euro-Jobs, initiiert von LabournetGermany und Agenturschluss , ausgewertet. Die Umfrageergebnisse belegen zweierlei: Ein-Euro-Jobs sind für die unterschiedlichen Träger ein Quell profitabler Arbeitskräfte und für die Arbeitsagenturen ein Trick, einen Teil der Erwerbslosen aus der offiziellen Statistik zu verdrängen. Was hier allerdings fehlt, ist die im Editorial angekündigte politische Praxis, die sich an die Erhebungen anschließen sollte und mit der diese Projekte wesentlich begründet wurden.

Interessant ist der Beitrag, der die neoliberalen Veränderungen in Westeuropa anhand der Beispiele Frankreich und England in den 1970er und 1980er Jahren behandelt. Vielleicht ist er auch deshalb anregend, weil er mit der historischen und internationalen Perspektive den Blick von den konkreten und tristen Verhältnisse in Deutschland wegführt. Die Beschreibung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Riots, maßgeblich getragen von MigrantInnen, wirkt motivierend, trotz der Tatsache, dass auch in diesen Gesellschaften der neoliberale Zugriff auf die Bevölkerung die Oberhand gewonnen hat.

Unsere Agenda heißt Widerstand

In Deutschland hat es seit der Umsetzung der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 kontinuierlich kleinere Protestaktionen gegeben, wenn auch häufig nur mit symbolischem Charakter. Unter dem Titel "Unsere Agenda heißt Widerstand" zieht sich eine Protestchronik durch das Buch, in der die verschiedenen Aktionen beschrieben werden und die eine beachtliche Bandbreite sozialer Proteste wiedergeben. Nicht nur deshalb lohnt es sich, das Buch bis zum Ende zu lesen. Mit ihren unterschiedlichen Perspektiven regen die Beiträge dazu an, den sozialen Protest rund um Hartz IV als einen Anknüpfungspunkt für gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu sehen, die weit über den Bezug von staatlichen Transferleistungen hinausreichen könnten.

Carola Peterson

Agenturschluss (Hrsg.): Schwarzbuch Hartz IV, sozialer Angriff und Widerstand - eine Zwischenbilanz, Assoziation A, Berlin 2006, 188 Seiten, 11 Euro


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