Einschätzung des BAG-Urteils
Das Komitee "Solidarität mit Emmely" hebt auf mögliche widersprüchliche Wirkungen des BAG-Urteils ab und kritisiert die mediale Darstellung des Falls in Bezug auf die Akteure. Der einfachen und falschen Darstellung, es handelte sich um einen Alleingang von Emmely oder eine Kampagne von ver.di stellt das Komitee entgegen, wie viele viele Menschen an diesem Erfolg mitgewirkt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, GegenerInnen von Bagatell- und
Verdachtskündigungen,
wir melden uns erst jetzt mit einer Einschätzung bei Euch, weil
wir erst mal ausspannen und feiern mussten.
Wann hat man das schon mal: Sieg auf der ganzen Linie? Für die,
die nicht in Erfurt waren: Besonders schön waren die Gesichter
des Kaiser's-Regionalmanagers, der Kaiser's-Anwältin und der
Betriebsratsvorsitzenden unmittelbar nach Urteilsverkündung.
Emmely hat gewonnen, Kaiser's ist mir der Kündigung nicht
durchgekommen, sie kriegt ihren Arbeitsplatz wieder und den
entgangenen Lohn (das JobCenter kriegt sein Geld auch wieder,
bloß Emmely kriegt ihre alte Wohnung nicht wieder, aus der sie
wegen der unrechtmäßigen Kündigung von Kaiser's ausziehen
musste...)
Bislang gibt es noch keine Urteilsbegründung, nur eine
Pressemitteilung (die der mündlichen Urteilsbegründung
entspricht). Soweit diese eine Interpretation zulässt, kann man
bislang folgendes sagen:
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich gerade so weit bewegt,
wie nötig war, um weiteren Legitimationsverlust der
Arbeitsrechtsprechung zu vermeiden. Dafür, dass das der Zweck
der Übung war, spricht auch der Umstand, dass die dritte Kammer
des BAG zunächst die Revision zugelassen hatte, weil eine Frage
von grundsätzlicher Bedeutung noch einer höchstrichterlichen
Klärung harre: Die Frage der Bewertung des Prozessverhaltens von
Emmely. Verhandelt wurde die Revision jedoch vor der zweiten
Kammer. In der o. g. Pressemitteilung ist diese Frage auf die
Feststellung zusammengeschmolzen: "Es [das Prozessverhalten]
erschöpfte sich in einer möglicherweise ungeschickten und
widersprüchlichen Verteidigung." Aha. Das war's dann auch zu
dieser Frage.
Das BAG hat die Begriffe seiner Rechtsprechung kein Stück
geändert. Weder die Verdachtskündigung, noch die zentrale
Stellung des "Vertrauens" sind aus der Welt. Allerdings ist
Vertrauen seit dem Emmelyurteil nicht notwendig immer und sofort
und unwiderruflich zerstört. Immerhin: in 31 Jahren aufgebautes
Vertrauen kann nicht durch einen einmaligen geringfügigen Vorfall
zerstört werden.[fn:1]
Mit dem Urteil ist allerdings auch der Forderung nach Abschaffung
von Bagatell- und Verdachtskündigungen der Wind aus den Segeln
genommen, weil man ja sieht, dass es auch ohne Gesetzesänderung
geht (von der Leyen -Argumentation).
Trotzdem: Emmely hat gewonnen, Kaiser's steht ohne Kleider da, in
der öffentlichen Wahrnehmung hat David gegen Goliath gesiegt,
Arbeitnehmerin gegen Arbeitgeber, das macht Mut. Es zeigt, dass
es sich lohnen kann zu kämpfen: Vielleicht wehren sich jetzt
mehr Gekündigte gegen ihre Arbeitgeber. Das wäre gut.
Und: Es hat sich im Laufe der Kampagne auch gezeigt, dass es
möglich ist, die Öffentlichkeit für eine Kritik an der
Rechtsprechung zu interessieren. Da gibt es sicher noch mehr zu
tun.
Problematisch ist freilich, dass in den Medien kaum erwähnt
wurde, wie dieser Erfolg hart erarbeitet wurde: Der Erfolg
erscheint als alleiniges Ergebnis der Hartnäckigkeit einer
Einzelperson (Emmely), oder als Ergebnis eines öffentlichen
Aufschreis, oder als Ergebnis einer Kampagne von ver.di. Nichts
davon trifft zu. Das unsolidarische Verhalten des Betriebsrates
wird kaum wo erwähnt. So kann sich niemand eine realistische
Vorstellung bilden, wie unwiederholbar dieser Fall ist
beziehungsweise was man alles *selbst* dafür tun muss, um sich
gegen einen Bagatell- oder Verdachtskündigung durch zu setzen.
Ihr hingegen wisst, dass das zweieinhalb Jahre (Soli-) Arbeit
waren und habt Euch daran beteiligt. Wir hoffen deshalb, dass
Ihr nicht nur mit-, sonder auch Euch gefeiert habt, als Ihr die
Nachricht von Emmelys Siegt gehört habt. Es ist ganz unmöglich
alle aufzuzählen, die mit geholfen haben: Beispielsweise haben
hunderte, wahrscheinlich über tausend Menschen in Kommentaren zu
Artikeln auf den Onlineseiten von Zeitungen sich eingemischt
(freilich nicht alle auf der Siegerseite...). Hunderte haben
Unterschriften für eine Petition gesammelt (über die der
Bundestag heute noch brütet), haben an Kundgebungen und
Veranstaltungen teilgenommen, die dutzende organisiert haben etc.
Bleibt zu Hoffen, dass dieser Erfolg Kraft für weitere Kämpfe
gibt.
Mit solidarischen Grüßen,
Gregor (für's Komitee "Solidarität mit Emmely")
[fn:1] Damit sind künftig hoffentlich Urteile, wie das des
Landesarbeitsgerichts Nürnberg unter Vorsitz von Richter
Prof. Dr. Dr. Alfred Holzer-Thieser aus dem Jahre 2007 (Az 7 Sa
182/07) ausgeschlossen:
Kündigung eines 47jährigen Teigmachers nach 31 Jahren
Betriebszugehörigkeit wegen des Verdachts der Entwendung eines
500-Gramm-Brotes (Preis wahrscheinlich 1,30 EUR). Der Teigmacher
bestritt den Vorwurf. Gegen ihn sprach ein Zeuge, der ihn mit
einem Brot gesehen hatte. Das ist insgesamt doch dünn, das
Gericht macht sich also Gedanken: "Mit seinem Gehverhalten hat
der Kläger den Tatverdacht weiter gesteigert." Auch in diesem
Urteil wird die Rechtmäßigkeit der Kündigung mit dem zerstörten
Vertrauen des Untermnehmens und einer Zukunftsprognose begründet.
Die vom Bundesarbeitsgericht vorgeschriebene Interessenabwägung
wird wie üblich vorgenommen: Ein Hauptsatz mit der Erwähnung von
drei Sachverhalten zu Gunsten des Beschäftigten. Eine Gliederung
von fünf Punkten und insgesamt achtzehn Sätzen mit Bezügen zu den
Schriftsätzen des Unternehmens mit Begründungen zugunsten des
Unternehmens.
Interessant an diesem Urteil ist, wie das LAG Nürnberg in der
Interessenabwägung auf die lange Betriebszugehörigkeit des
Teigmachers eingeht:
"Seine Betriebszugehörigkeitsdauer von 31 Jahren hält die
Kammer für gewichtungsneutral, da einerseits zwar eine lange
Betriebszugehörigkeitsdauer das Bestandsschutzinteresse
steigert, andererseits aber die Zerstörung des Vertrauens um
so schwerer wiegt, je länger dem Arbeitnehmer Vertrauen
entgegen gebracht worden ist."
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