Home > Branchen > Auto allgemein > Erwin
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Wer im Mittelpunkt steht, ist allen im Weg. Aus dem Leben eines Arbeiters in der Autoindustrie

Erwin - nennen wir ihn Erwin, denn Frauen gibt es kaum noch in der direkten Automobilindustrie - Erwin staunte nicht schlecht, als eine Delegation, die durch die Montagehalle marschierte, auf ihn zukam. Sein Arbeitskollege rief ihm zu: "hab` gehört, das ist der Europa-Boss, der da vorne läuft!" Erwin staunte noch mehr, als der Europa-Boss des Konzerns direkt auf ihn zukam, ihm auf die Schulter klopfte und sich übersetzen ließ: "Sie sind unser wichtigster Mann, ohne Sie und Ihre Kollegen würde kein Auto vom Band fahren!"

Das war Anfang der 90er Jahre. Nicht nur die Autoindustrie entdeckte damals, dass Automatisierung zu teuer, zu unflexibel und zu störungsanfällig war. "Der Mitarbeiter" stand plötzlich "im Mittelpunkt" und Vorbild war Japan. Das japanische Toyota-Modell wurde für westliche Verhältnisse übersetzt als Lean Produktion (schlanke Produktion) und in den Montagehallen sollte ein neuer Wind wehen, ein Rückenwind, der das ganze Unternehmen beflügeln sollte. Gruppenarbeit und flachere Hierarchien standen im Zentrum der neuen Arbeitsorganisation und hierfür sollten alle mehr Kompetenzen und erweiterte Aufgaben erhalten.

Denn - so Gesamtmetall bereits 1989 - die Unternehmen brauchen "mehr denn je den kreativen, über den eigenen Arbeitsbereich hinausdenkenden, planenden und handelnden Mitarbeiter, den Mann und die Frau, die Eigeninitiative entwickeln und in Kenntnis der Zusammenhänge zielstrebig und selbständig handeln."
Der "neue Arbeiter" sollte gut ausgebildet, motiviert und flexibel sein sowie wie als "Unternehmer im Unternehmen" Eigeninitiative entwickeln. Vor allem Gruppenarbeit sollte ihm Spielräume eröffnen, die er für Produktivitätsgewinne nutzen konnte - und sollte. Für das "Wir-Gefühl" (heute: corporate identity), den "Teamgeist", war dem Management nichts zu teuer. Zu diesem Zeitpunkt war Erwin noch nicht klar, daß in diesen Teams der Einzelne noch weniger als zuvor zählen würde.

Erwin war wie viele andere zunächst begeistert ob der überfälligen Anerkennung, fand er sich doch Jahrzehnte lang in der Arbeit gedemütigt. Er, ein Familienvater und politisch interessierter Bürger, wurde acht Stunden am Tag wie ein unmündiges Kind gegängelt; denn in der fordistischen Fabrik waren andere für die Aufrechterhaltung und Optimierung der Prozesse da. Obwohl sein Wissen immer gefragt war (aber nicht bezahlt wurde) - sobald es Maschinenstillstand gab, sagte anschließend der Meister zu ihm: "Du bist nicht für`s Denken da!" Als der Meister Meister wurde, hatte man ihm beigebracht: "Was nicht kontrolliert wird, wird auch nicht gemacht". Sein Job war Anleiten und Kontrollieren. Und für alles andere gab es Spezialisten.

Nun hatte sich alles verändert: Auch der Meister mußte um seinen Job bangen, denn er zählte zu den "Unproduktiven", "Indirekten", die als Kostenfaktor der Schlankheit einer pufferlosen Fabrik im Wege standen.

Der Job des Meisters war nicht mehr so stark gefragt, weil viele seiner Aufgaben von den Arbeitsgruppen übernommen werden sollten: viele der sog. indirekten Tätigkeiten wurden in die Gruppe integriert. Die Vertretbarkeit untereinander (job rotation), die steigende Flexibilität der Arbeitszeit und Einsatzfelder sollten als gerechter Belastungsausgleich angenehmere Arbeitsbedingungen schaffen. Für den Kontakt zur betrieblichen Außenwelt waren Gruppensprecher zuständig und selbst Urlaubsplanung wurde der Gruppe überlassen. Kontrolle? Die schien plötzlich überflüssig, denn in den Fabrikhallen sollte eine "Unternehmenskultur des Vertrauens" herrschen. Motto: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.

Zusammen mit vielen mittleren Führungskräften wurde noch viel anderer Ballast abgeworfen: Lagervorräte, die nun auf den Straßen fuhren, denn durch Just-in-time bekamen die Zulieferer das Risiko der Lagerhaltungskosten und der Pünktlichkeit zugeschoben; unbezahlte Arbeitsstunden, denn im Rahmen der Arbeitszeitflexibilisierung sollte nur noch bezahlt werden, wer 100 % ausgelastet war. Ballast waren aber auch ältere und leistungewandelte Arbeiterinnen und Arbeiter, die in einer schlanken Fabrik nicht belastbar genug waren. Sie wurden gekündigt oder durch Abfindungsregelungen und Vorruhestand aus dem Betrieb "entsorgt". Erwin und seine KollegInnen bekamen das mit. Auch dass die Polsterei, in der viele Frauen und angeschlagene Kollegen arbeiten konnten, genauso ausgelagert, "fremdvergeben" wurde wie die Kantine. Doch die meisten dachten: "die Zeiten sind schlecht, die Arbeitslosigkeit greift um sich - mit jedem, der geht, wird unser Arbeitsplatz umso sicherer."

Erwin kam nach Hause und erzählte mit glänzenden Augen seiner Familie, dass das Management endlich zur Vernunft gekommen sei. Er erzählte, wie oft er und seine Kollegen sich ärgerten, weil die falschen Teile vom falschen Zulieferer gekauft wurden oder sie alle unsinnige Arbeitsschritte verordnet bekamen, weil die zentrale Arbeitsvorbereitung sie sich so ausgerechnet hatte. Erwin sagte zu seiner Frau: "Und heute wurden wir alle zusammengerufen und der Bereichsleiter sagte doch tatsächlich: "Sie, liebe Mitarbeiter, Sie sind doch die Experten für Ihren Arbeitsplatz!" Deshalb erklärte er ihnen allen, dass sie von nun an in den Arbeitsgruppen auch für KVP zuständig seien. "KVP, erklärte Erwin stolz seiner Frau, "das nennt sich Kontinuierlicher Verbesserungsprozess, das bedeutet, dass wir ständig in unserem Bereich die Organisation verbessern sollen und vieles können wir sogar tun, ohne um Erlaubnis zu fragen. Nur aufschreiben müssen wir das, und wenn es sich bewährt, sollen die anderen Schichten das auch so machen." "Kontinuierlich", sagte seine Frau gedehnt, "ist das nicht anstrengend? Ständig alles ändern? Stell Dir vor, ich würde die Küchenschränke ständig umräumen!" "Ach ne, Du redest fast wie mein Kumpel", winkte Erwin etwas enttäuscht ab, "der sagte heute auch zu uns: `an das Gold in unseren Köpfen wollen sie ran, sagen sie, und dann? Rübe ab?` Ich finde", so Erwin weiter, "dass er bloß zu alt ist um sich wieder umzustellen. Fast 30 Jahre ist er nun in der Fabrik und taucht lieber stupide in der Arbeit ab, träumt vom Schrebergarten und vom Urlaub. Aber ich, ich will doch stolz sein können auf meine Arbeit, ich bin doch Facharbeiter, schlimm genug, dass ich am Montageband bin...Und selbst unser Betriebsrat sagte, die Gewerkschaft hätte seit dem Programm zur Humanisierung der Arbeitswelt darauf gewartet, dass die Unternehmen die Mitarbeiter stärker beteiligen, Gruppenarbeit einrichten und die Arbeit anreichern. Das wäre auch für die Unternehmen besser so und damit auch für unsere Arbeitsplätze. Dass wir nun auch mit bei der Rationalisierung machen, das nannte der Kollege von der Gewerkschaft "den Fuß in der Tür haben", das wäre der Preis und besser, wir haben es in der Hand. Recht hat er oder etwa nicht?"

Wer den Fuß in der Tür hat, kann leicht Quetschungen erleiden. Denn was heißt das, den Fuß in der Tür haben in einer labilen Produktion, die von jedem tagtäglich extremen Einsatz zur Aufrechterhaltung der Prozesse erfordert? Der Erfinder des Toyotismus, Ohno, bezeichnete die schlanke Fabrik als eine gespannte Kette und zwar eine, die immer wieder angespannt werden muss, um eben gespannt zu bleiben. Warum? Eine gespannt Kette, also der betriebliche Normalfall der Unterbesetzung, erzwingt die maximale Leistungsfähigkeit aller Beschäftigten, macht also den "Faktor Mensch" zum Puffer der pufferlosen Fabrik. Nebenvorteile: gegenseitige Kontrolle der Beschäftigten durch das interne Kundenprinzip "von Kettenglied zu Kettenglied" und Zugriff auf das Leistungs- und Rationalisierungsvermögen der Beschäftigten, weil sie Verantwortung dafür tragen, dass der permanente Notfall nicht zum Zusammenbruch der Produktion führt. Nicht zu vergessen ist dabei, dass sich in einer angespannten Kette das schwächste Glied von selbst verrät und so leicht ausselektiert werden kann - oft mit Hilfe derjenigen KollegInnen, die sonst meinen, die Schwachen "durchschleppen" zu müssen. Der Leistungsdruck in den Gruppen lässt sich in einem System ohne Zeit- und Personalpuffer oft nur abwehren, wenn er an andere weitergegeben wird. So hilft Gruppenarbeit den Unternehmen bei der Unterscheidung in Faule und Fleißige, in Interessierte und Ignoranten, in Motivationsbereite und gänzlich Unwillige. Den Betriebsräten wird die Rolle zugeschoben, dies alles sozialverträglich mitzugestalten.

Erwin und seine Kollegen haben es auch bald gemerkt. Schon zu Beginn hatte sich seine Frau gewundert, daß man es "Gruppenarbeit" nennt, wenn das Montageband einfach nur in vier Arbeitsgruppen aufgeteilt wird. Doch Erwin verteidigte die Maßnahme: daß die KollegInnen für mehrere Tätigkeiten ausgebildet werden und sich abwechseln können (Job rotation), dass sie nun Zeit für Gruppengespräche haben und selbst einen Gruppensprecher wählen können, der zusammen mit der Gruppe viele Aufgaben des Meisters übernimmt (job enrichment und job enlargement), das sei doch eine feine Sache. Geradezu die Diktatur des Proletariats!

Doch noch bevor sie das erste Gruppengespräch hatten, sollten sie bereits erste KVP-Sitzungen machen und Einsparungen vorweisen. Noch bevor sie ihren Gruppensprecher wählen konnten, war eines Tages ein Kollege weg und sie selbst hatten dafür gesorgt. Beim nächsten Mal, das hatten sie sich sofort geschworen, überlegen sie sich bei der kleinsten Kürzung der Wegezeiten vorher, ob sie nicht auch eine Pause bedeuten können und in Summe mit anderen "Kleinigkeiten" einen Arbeitsplatz bedeuten. Noch bevor sie ihren Gruppensprecher wählen konnten, kamen auch die ersten Einschränkungen vom Management: die Kandidaten mussten einen besonderen Kurs bestanden haben und nach der Wahl vom direkten Vorgesetzten bestätigt werden. Noch viel später - aber das ahnte Erwin noch gar nicht - wurde die Aufwandsentschädigung für den Gruppensprecher immer höher, er wurde immer mehr zur rechten Hand des Meisters und die Gruppengespräche wurden auf Maschinenstillstandzeiten verlegt. Mittlerweile verhandelt die Geschäftsleitung mit dem Betriebsrat über die Abschaffung der Abwählbarkeit des Gruppensprechers durch die Gruppe, weil er dadurch, so die Geschäftsleitung, "unter einem unzumutbarem Druck" stünde. Und darüber, die Gruppengespräche in die Freizeit zu verlegen.

Aber dies kann Erwin nicht wissen, weil er längst nicht mehr dabei ist. Er ist krankheitsbedingt gekündigt worden, weil durch den Druck in den Gruppen, Krankenrückkehrgespräche und eine entsprechende "Zielvereinbarung" der Krankenstand im Betrieb so gesenkt wurde, dass Erwin mit seinen zwei mal zwei Wochen Krankheit über dem Durchschnitt lag und seine chronische Rückenerkrankung "für den Arbeitgeber eine unzumutbare ökonomische Belastung" darstellte - so der Arbeitsrichter. Erwin hat sich nämlich den Rücken kaputt gearbeitet. Der Betriebsrat hat zwar eine Hebehilfe durchgesetzt, doch Erwin konnte das umständlich zu handhabende Gerät nicht einsetzen, ohne die Stückzahl zu gefährden.

Stückzahl ist immer noch heilig. Stückzahl geht immer noch vor Qualität, auch wenn mit Einführung der Gruppenarbeit der Beginn einer "Qualitätsproduktion" eingeläutet wurde. Und weil Stückzahl vorgeht und immer zu wenige KollegInnen da sind, wird auch nicht mehr in den Gruppen rotiert. Das Soll schaffen sie nämlich nur, wenn alle das machen, was sie am besten und schnellsten beherrschen, sonst schafft das Soll sie und nicht umgekehrt. Die Rotation ist auch eingeschränkt, weil bereits schwerbehinderte Kollegen in der Gruppe arbeiten und diese bereits mit den ständig wechselnden befristeten Arbeitskollegen in ständiger Konkurrenz um die leichteren Arbeitsaufgaben stehen. Auch deshalb wurde das Rückenleiden von Erwin immer schlimmer, doch er bekam keine Anerkennung als Schwerbehinderter. Wie das Pferd Boxer in Orwells "Animal Farm" wurde Erwin, nachdem er sich kaputtmalocht hatte, mit schönen Worten ausgemustert, nur daß Erwin nicht tot, sondern mit gerade 49 Jahren "nur" arbeitslos ist.

Erwin wird manchmal von seinem besten Kumpel Paul besucht. Allerdings immer seltener, denn die Kollegen in der Fabrik werden immer weniger und die Überstunden immer mehr. Erwin sagte beim ersten Mal: "Das Geld kannst Du doch sicher gut gebrauchen, mit Deinen drei Kindern, oder?" Paul guckte ihn finster an: "Welches Geld? Es gibt keine Mehrarbeitszuschläge mehr, denn wir haben ja die Arbeitszeitflexibilisierung. Ich kann die Zeit nur noch abfeiern und könnte jetzt bereits die nächsten zwei Monate zuhause bleiben. Ich krieg bloß nicht frei, weil ja keine Vertretung da ist. Erwin, das ist so schlimm geworden, wenn wir an der Kette sind und einer pinkeln muß, der kann nicht weg, weil es keine Springer mehr gibt! Das Schlimmste ist, ob mit oder ohne Überstunden: Du bist so ausgelaugt nach der Arbeit, da kannst Du gar nichts mehr machen. Und sag jetzt nicht, ich werde immer älter! Das geht auch den Jungen so."

Erwin schüttelte den Kopf. Er konnte immer noch nicht glauben, dass es möglich war, die Schraube noch stärker anzuziehen. Nein, das Tempo hätte er mit seinem Rücken sowieso nicht aushalten können. "Was sagt den der Betriebsrat dazu?" Paul lachte traurig. "Das allerschlimmste, Erwin, das allerschlimmste ist, was das alles mit uns macht. Die erzählen uns doch den ganzen Tag, dass der Wettbewerb immer schärfer wird, dass nur der beste, der schnellste, der billigste überlebt. Es ist wie ein Krieg, tagtäglich. Und das ganze Geschmuse mit "große Familie" und "Wir-Gefühl" haben sie auch nicht mehr nötig, es gibt immer Jemanden, der billiger ist und auch Arbeit will. Ich sag Dir, die schlechten Seiten im Menschen werden aktiviert. Der Betriebsrat kämpft mit dem Betriebsrat vom anderen Standort um das neue Modell, um die Arbeitsplätze hier zu halten. Wir machen Zugeständnisse ohne Ende, kämpfen Gruppe gegen Gruppe, Mann gegen Mann. Samstag, Sonntag ärgere ich mich und nehme mir vor, mich solidarischer zu verhalten. Aber am Montag gehe ich durchs Werkstor, und die Ellenbogengesellschaft regiert. Ich kann mir doch mit meinen drei Kindern nicht leisten, die Arbeit zu verlieren."

"Ihr habt doch immer erzählt, sie wollten, daß ihr im Mittelpunkt steht" - meldet sich plötzlich Erwins Frau zu Wort, die am Türrahmen lehnte - "nehmt sie doch endlich beim Wort, auf Eure Weise!

Essay von Mag Wompel, erschienen in express 8/2000 und der SoZ - Sozialistische Zeitung vom 31.8.00


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang