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Updated: 18.12.2012 15:51
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»Nur Regen fällt vom Himmel, sonst eigentlich wenig«

Alix Arnold und Christian Frings zum erfolgreichen Streik bei TRW-Automotive Krefeld

Am Sonntag, den 1. April, weigern sich die Arbeiter der Nachtschicht beim Autozulieferer TRW in Gellep-Stratum, einem Stadtteil von Krefeld, die Arbeit aufzunehmen. Sie bleiben einfach vor dem Tor stehen. Es gibt keinen Streikaufruf, und es brauchte keine Urabstimmung. Aus der Produktion geht niemand, auch kein Vorarbeiter oder Meister, an die Maschinen und Bänder. Am nächsten Morgen bleibt auch die Frühschicht und dann die Spätschicht vor dem Tor stehen – bis am Abend, nach Beginn der nächsten Nachtschicht, das Unternehmen die Kündigung von zehn KollegInnen zurücknimmt und auf eine angedrohte Einschränkung der Betriebsratsarbeit verzichtet. Die KollegInnen der Nachtschicht hatten schon Decken und Verpflegung mitgebracht, sie hätten weitergestreikt. Spätestens dann hätten in einigen Autofabriken die Montagebänder still gestanden.

Diese bemerkenswerte Aktion von Solidarität und selbstorganisiertem Widerstand kam nicht in die Schlagzeilen, nur ein paar regionale Tageszeitungen berichteten Tage später darüber. Dabei sind es gerade solche kleinen, auf den ersten Blick unspektakulären Keime des Widerstands, die Wege aus der Ohnmacht und Schwächung der Arbeiterbewegung weisen. Alix Arnold und Christian Frings haben sich daher mit vier Kollegen aus dem Betrieb, darunter einige Betriebsräte, ausführlicher darüber unterhalten, wie es dazu kam, dass hier eine ganze Belegschaft geschlossen die Angst vor der unternehmerischen Einschüchterungs- und Erpressungspolitik überwunden und Stärke demonstriert hat.

»Von Angst war keine Spur. Vor ein paar Jahren hatten wir so Verhandlungen, da mussten wir was abgeben. Vor eineinhalb Jahren war es das Gleiche gewesen. Irgendwann mal, also... Wir haben die Schnauze voll gehabt. Wir haben ständig immer wieder abgeben müssen, und die kriegen den Hals nicht voll!« So beschreibt ein türkischer Kollege, der seit über zwanzig Jahren im Betrieb ist, die Stimmung vor dem Streik. In der Luft lag so eine Aktion schon lange: »Solche Denkanstöße gab es immer wieder: Schmeißen wir die Brocken hin, wir haben die Schnauze voll, das geht nicht mehr weiter so. Aber es gab nicht so’n richtigen Anlass, so was zu machen.« Sein Kollege ergänzt: »Angst kann ich nicht sagen, weil wir waren ja auch gut organisiert und haben gesagt, so geht es nicht mehr weiter.« Der Versuch der Geschäftsleitung, mit den zehn Kündigungen alle einzuschüchtern, schlägt ins Gegenteil um, weil sich nun alle betroffen fühlen: »Wir wussten nicht, wer sind die Kollegen, die nach den zehn noch kommen, weil der Arbeitgeber wollte ja mehr kündigen. Er hat gesagt, da kommen noch mehr.« Auch wenn es in der Vorbereitung der Aktion noch kleine »Restzweifel« gab und man sich nachher gegenseitig bestätigte, die Nacht zuvor unruhig geschlafen zu haben, das sorgsam erforschte Stimmungsbild war einfach zu eindeutig: »Alle sagten, die haben dermaßen die Schnauze voll, auch im Angestelltenbereich! Da hat man erst noch gedacht, na ja, das ist ‘ne Einzelstimme... Aber dann kam von immer mehr Leuten: ›Nee, die sind genauso, die sagen auch mittlerweile: Irgendwann muss doch hier mal Schluss sein.‹ Und als wir dann draußen standen, war die häufigste Diskussion: ›Das hätten wir alles viel früher machen müssen!‹«

Früher war Standortsicherung

Die Fabrik in Gellep-Stratum bei Krefeld, in der 454 Beschäftigte Querlenker und Spurstangen für BMW, VW oder Iveco produzieren, gehört zu TRW Automotive, einem der größten globalen Automobilzulieferer. Am Produktionsstandort Krefeld stammen etwa die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern, der Frauenanteil ist sehr gering. Weltweit arbeiten bei TRW 63000 Menschen in 26 Ländern, in Deutschland etwa 12000 an 17 Standorten. 2003 wurde die Firma von dem Finanzinvestor Blackstone Group übernommen. Zunächst änderte sich nicht viel, aber im Zuge des konjunkturellen Rückgangs 2003/2004 begann TRW an allen Standorten, unter Androhung von Verlagerungen Zugeständnisse zu erpressen. In Tschechien arbeiten mittlerweile 3000 Beschäftigte an acht Standorten von TRW. Im Werk Gelsenkirchen-Schalke mit tausend Beschäftigten kündigte TRW im Januar 2004 die Verlagerung der Kugelgelenkproduktion in das tschechische Dacice an. Durch Kürzungen beim Urlaubsgeld und eine 35-Stunden-Woche bei 32 Stunden Bezahlung kam ein Standortsicherungsvertrag zustande, der 770 Arbeitsplätze für Schalke garantiert. Ähnlich verfährt TRW auch an den anderen Standorten. Im Mai 2005 schreibt die IG Metall Heidelberg: »TRW greift Tarifverträge an. Wachsender Druck auf Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitszeit. Wie viele andere Kfz-Zulieferer erhöht auch die TRW an allen Standorten den Druck auf die Beschäftigten. Überall ist es das gleiche Spiel: dem Unternehmen geht es nicht schlecht, manche Produktbereiche machen sogar zweistellige Gewinne – aber dem Mutterkonzern reicht das alles noch nicht. So werden Werke geschlossen, Fertigungslinien in Billiglohnländer verlagert, und von den verbleibenden Beschäftigten verlangt man Zugeständnisse in Form von Lohnverzicht und längeren Arbeitszeiten. In einigen Werken – Schalke, Alfdorf, Radolfzell und Düsseldorf – hat TRW bereits solche Standortvereinbarungen durchgesetzt. In St. Leon-Rot, Aschaffenburg, OSS Radolfzell, Blumberg, Barsinghausen, Krefeld, Koblenz und Neuwied sind Forderungen der TRW gestellt oder konkrete Maßnahmen angekündigt.«

Für das Werk bei Krefeld, das 1994 von Düsseldorf auf die ›grüne Wiese‹ verlagert wurde, wurde Ende 2005 eine »Standortsicherung« (Ergänzungstarifvertrag) ausgehandelt. Für vier Jahre verzichtet die Belegschaft auf Lohnansprüche in Höhe von 8,6 Millionen Euro. Dafür wird eine Beschäftigtenzahl von 454 festgeschrieben, die der Unternehmer nur mit Zustimmung der IG Metall unterschreiten kann. Für die Kollegen bedeutet das einen Lohnverlust von 5000 Euro jährlich. Das ist nur verkraftbar, weil hier bisher noch ganz gut verdient wird. »Wir sind in der Verwaltungsstelle der Betrieb mit dem höchsten Mitgliedsbeitrag durchschnittlich. Bei uns wird nicht schlecht verdient. Und das wollen wir ja auch behalten!«, erklärt ein Betriebsrat.

Gleichzeitig steigt die Arbeitshetze: »Der Leistungsdruck, der ist natürlich enorm gestiegen. Der Arbeitgeber macht jetzt Workshops hier bei uns im Betrieb. Da wurden Maschinen zusammengestellt, wo früher sechs Mitarbeiter gearbeitet haben, die wurden auf fünf verringert, und der Leistungsdruck ist dann auf die fünf verteilt worden.« Sein Kollege bekräftigt: »Wo früher drei waren, ist nur noch einer.«

Paradigmenwechsel: »Jagdzeiten«

Was aber die Wut und schließlich die Aktion auslöst, ist der Versuch der neu eingesetzten Geschäftsleitung, die Stammbelegschaft trotz »Standortsicherung« weiter abzubauen – und die Dreistigkeit, mit der sie es tut. Schon im letzten Herbst verhandelte sie mit IGM und Betriebsrat über den Abbau von 45 Arbeitsplätzen. »Wir haben nachgerechnet und kamen drauf, dass wir genau 45 Kollegen zu wenig an Bord haben – wenn man die Produktion abgleicht mit den Kennzahlen, die ja seine Kennzahlen sind. Trotzdem macht er immer weiter Druck, für freiwillige Aufhebungsverträge und er bietet Altersteilzeit an. Er macht immer weiter Druck, Stammbelegschaft abzubauen. Das ist eine Strategie, die nicht unbedingt hier an diesem Standort geboren ist, sondern wir gehen davon aus, dass die aus der Konzernzentrale kommt nach dem Motto: Schaut zu, dass ihr austauscht.« Die Firma möchte mehr Leiharbeiter einstellen. Nach einer Betriebsvereinbarung darf sie bis zu sechs Prozent, also 27 Leiharbeiter ohne besondere Zustimmung des Betriebsrats beschäftigen. Aber bei der jetzigen Auftragslage reicht ihr das nicht mehr.

Um die Zustimmung der Gewerkschaft zum Personalabbau durch betriebsbedingte Kündigungen zu umgehen, greift der Unternehmer zum bewährten Mittel, personenbedingt zu kündigen. Ende März präsentiert er dem Betriebsrat fünf krankheitsbedingte Kündigungsanträge. Ein Betriebsrat bezeichnet die neue Gangart der Geschäftsleitung als »Paradigmenwechsel«. Dazu gehört auch, dass die Betriebsvereinbarung über die Freistellung eines zweiten Betriebsrats gekündigt wird. Mit der Vereinbarung war der alte Zustand von zwei Freigestellten festgeschrieben worden, als die Belegschaftsgröße unter 500 sank und damit gesetzlich nur noch der Anspruch auf eine Freistellung bestand.

Der Betriebsrat widerspricht den Kündigungen und reagiert mit einer Serie von Aushängen unter dem treffenden Titel »Jagdzeiten«. Denn er sieht einen systematischen Zusammenhang zu den Krankenrückkehrgesprächen, die der letztes Jahr neu ins Amt gekommene Personalchef eingeführt hat. Im ersten Aushang vom 20. März schreibt er: »Die von unserem Arbeitgeber aus ›reiner Fürsorgepflicht‹ seit einiger Zeit durchgeführten Krankenrückkehrgespräche zeigen erste Ergebnisse. Dem Betriebsrat liegen in Umgehung unseres Ergänzungstarifvertrags fünf krankheitsbedingte Kündigungsanträge vor. Weitere wurden pauschal angekündigt. Begründung des Arbeitgebers: 1. zu hoher Personalstand, 2. zu hoher Krankenstand. Wie ihr euch denken könnt, wird der Betriebsrat, trotz eingeschränkter Mitbestimmungsrechte, hierauf ›angemessen‹ reagieren.«

Im Aushang »Jagdzeiten 2« zwei Tage später wird von insgesamt zehn krankheitsbedingten Kündigungen gesprochen und auf den Zusammenhang zur Arbeitsbelastung und die Folgen hingewiesen: »Hierunter sind auch einige Kolleginnen und Kollegen, die sich in jüngster Vergangenheit, auch durch Ableistung von Mehrarbeit, die Gesundheit ruiniert haben. Sie sollen nach dem Willen des Arbeitgebers dem ›Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt‹ werden. Dieses bedeutet nach kurzer Zeit: Hartz IV (z.Z. 345 Euro/Monat)!« Der Betriebsrat macht seine Zustimmung zur Mehrarbeit von der Rücknahme der Kündigungen abhängig. Ab nun lehnt er alle Überstunden ab – was später ein wichtiger Erfolgsfaktor für den Streik werden soll. Am 23. März ergänzt »Jagdzeiten 3«: Unter den zehn Kündigungsanträgen befinden sich fünf Kollegen, die schwerbehindert sind. »Unser Arbeitgeber scheint vor nichts mehr zurückzuschrecken. Niemand scheint mehr in Sicherheit zu sein!« Dies gilt sogar für die Angestellten, denn auch unter ihnen haben die neuen Chefs in den letzten Jahren aufgeräumt und Leute ausgetauscht.

Der Betriebsrat hofft, dass die Ablehnung der Überstunden genug Druck aufbaut. Denn die Auftragslage ist gut, und die Produktion befindet sich schon im Rückstand. Aber die Geschäftsleitung zeigt sich unbeeindruckt und will sich mit Gewalt durchsetzen. Am Freitag, den 30. März, beantragt sie noch ein mal mündlich die Genehmigung von Überstunden. Sie bietet an, die Kündigungen solange auf Eis zu legen, man könne nach Ostern noch mal drüber reden. Der Betriebsrat will sich erst beraten. Fünf Minuten später ruft eine ältere türkische Kollegin, sie hat gerade die Kündigung in ihrem Briefkasten gefunden. Auf Nachfrage bestätigt der Werksleiter die Kündigung und teilt mit, er werde heute noch zwei weitere aussprechen. Im Aushang »Jagdzeiten 4« macht der Betriebsrat diese Vorgänge bekannt. Zwei Betriebsratskollegen gehen kurz zum Werksleiter und teilen ihm mit, dass es keine Basis für eine »vertrauensvolle Zusammenarbeit« mehr gebe.

Organisierte Spontaneität

»Nur Regen fällt vom Himmel, sonst eigentlich wenig«, meint ein Kollege, als wir nachfragen, wie es zur Arbeitsniederlegung gekommen ist. Am Sonntag treffen sich Betriebsrat und Vertrauensleute, um zu diskutieren, was sie tun können. Dass es dazu kommen könnte, war schon vorher klar. »Diskutiert haben wir schon länger darüber. Was machen wir eigentlich, wenn die erste Kündigung tatsächlich kommt? Denn Kündigungsantrag ist ja noch nicht Kündigung. Der Arbeitgeber kann rein theoretisch auch Kündigungsverfahren bis einschließlich Betriebsratsanhörung durchziehen ... er muss sie ja nicht aussprechen. Ja, was machen wir denn dann eigentlich? Da sind ja unsere rechtlichen Mittel als Betriebsrat ausgeschöpft.« Ein anderer Kollege erinnert sich an die Sonntagsrunde: »Da kam die Idee auf: Lasst uns die Kollegen informieren, die Sonntags abends auf Nachtschicht kamen. Das war ein Selbstläufer. Das war gar keine Diskussion. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wenn man den Zusammenhang sieht: Wir geben viel Geld ab, von unseren Ansprüchen, und er versucht jetzt hintenrum uns auszutricksen. Wir haben Geld abgegeben für Arbeitsplatzsicherheit, und jetzt haben wir doch keine Arbeitsplatzsicherheit. Wofür denn dann?« Noch bevor die Nachtschicht zur Arbeit kommt, macht die Idee die Runde: »Gerade unsere ausländischen Kollegen, die haben immer ein Handy am Mann, und als wir festgestellt haben, die Stimmung ist so ... da hatte die Hälfte schon das Handy am Ohr. Da kamen welche direkt angefahren, IG Metall-Mütze auf, alles klar! Da bricht gerade unter unseren ausländischen Kollegen ‘ne gewisse Begeisterung aus. Die deutschen sind da ja ein bisschen ... so bedenkenträgermäßig.«

Schon am Nachmittag beginnen die Vorbereitungen. Da die Warnstreiks in der IG Metall-Tarifrunde bevorstehen, ist das ganze Equipment schon vor Ort, die roten Gewerkschaftsfahnen und -mützen. Auch auf die Symbolik wird geachtet: Als die Gewerkschaftsfahne am Mast hochgezogen wird, hängt sie zuerst unter der TRW-Fahne – die Kollegen bestehen darauf, dass das korrigiert wird. Als die Nachtschicht zur Arbeit kommt, ist es keine Frage mehr, dass alle draußen bleiben.

Angesichts der angespannten Auftragslage hatten die Kollegen damit gerechnet, dass es spätestens nach ein paar Stunden zu Verhandlungen und einer Regelung kommt. Aber die Werksleitung rührt sich nicht. Sie erscheint erst am nächsten Morgen zum regulären Arbeitsbeginn und gibt sich gelassen. »Auch durch die Körpersprache... wir hatten einmal hier unten die Mannschaft zusammengetrommelt, um die immer wieder auf den neusten Stand zu bringen. Da macht unser Chef hier oben das Fenster weit auf, stellt sich ins Fenster mit so ‘ner Tasse Cappucino, lehnt sich so an und rührt um, und die ganze Mannschaft stand davor und guckte in seine Richtung! Das hat die Mannschaft als Provokation aufgefasst.«

Natürlich hatten die Kollegen auch damit gerechnet, dass die Werksleitung massiver gegen die Aktion vorgehen würde – was aber nicht passiert. Keine Anforderung der Polizei, keine persönlichen Einschüchterungen. Am Nachmittag, als auch die Spätschicht draußen geblieben ist, kommt ein Anruf von der IG Metall. Der Arbeitgeberverband überlege, ob er eine Verbandsklage gegen die Gewerkschaft oder ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Betriebsrat einleiten soll. Aber schließlich wird mit der IG Metall und dem Arbeitgeberverband verhandelt.

Ausschlaggebend dürfte der effektive Produktionsengpass gewesen sein. Die LKWs stauen sich vor dem Tor, aber es hätte der Firma nichts genutzt, ihnen den Weg zum Werksgelände mit Polizeigewalt freizumachen. Die Kollegen bekommen mit, dass es aufgeregte Anrufe von Kunden gibt, die auf ihre Teile warten. »Nachts haben wir uns mal die Lagerbestände angeguckt. Da war nix, weil schon zwei Wochen vorher die Überstunden abgelehnt worden waren. Die haben wirklich von der Hand in den Mund gelebt.« Und die LKW-Fahrer draußen vorm Tor sehen es gelassen. Einer beruhigt einen Kollegen: Das sei ihm vor ein paar Wochen auch vor einem TRW-Werk in Frankreich passiert, da habe er auch ein paar Tage wegen Streik rumstehen müssen. Von den Streikenden werden auch sie mit Brötchen und Getränken versorgt, die zunächst noch aus der privaten Kantine im Werk kommen. In einer geradezu lächerlichen Aktion setzt die Werksleitung den Kantinenbetreiber unter Druck, die Streikenden nicht mehr mit Lebensmitteln zu versorgen – als ob er die Aktion damit aushungern könnte.

Im Laufe des Tages wird die Stimmung vor dem Tor immer besser. Schnell werden Bierzeltgarnituren organisiert, bei dem schönen Wetter kommt Feierlaune auf. »Der Klimawandel erleichtert das Streiken in Deutschland«, meint ein Kollege mit trockenem Humor. Die Diskussion kommt immer wieder auf die Frage, warum sie das nicht schon früher gemacht haben. Das Erlebnis, dass es geklappt hat, alle zusammen draußen zu bleiben – 97 Prozent beteiligen sich, bei einem Organisationsgrad von etwa 60 Prozent – fördert das Selbstbewusstsein. Jetzt sind die Kolleginnen und Kollegen zu keinen Kompromissen mehr bereit. Im ersten Moment hatte die Werksleitung mit einer Gegenforderung reagiert: Die Quote von Leiharbeitern solle ausgeweitet werden, doch das wird als Unverschämtheit zurückgewiesen.

»Bemerkenswert war: Wir hatten im Laufe des Nachmittags, am frühen Abend einen Zwischenstand, wo der Arbeitgeber gesagt hat: Ich nehme die Kündigungen zurück, die sind gegenstandslos. Wir nehmen auch die Kündigung der Betriebsvereinbarung über die zweite Freistellung zurück. Das hätte aber bedeutet, dass die Betriebsvereinbarung so weiterbestanden hätte, und er hätte die wieder kündigen können. Da hat die Belegschaft super reagiert. Da hat der Arbeitgeber nicht mit gerechnet: Solange das nicht geregelt ist, gehen wir nicht wieder rein! Obwohl schon klar war, dass er die Kündigungen zurücknimmt. Dann hat das noch mal zwei Stunden gedauert, bis wir dann eine neue Vereinbarung hatten... Der Arbeitgeber war teilweise auch ein bisschen skurril. Als wir den Zwischenstand rübergebracht haben, dass die Kündigungen zurückgenommen werden, da haben wir da draußen gestanden mit dem Megafon und die Mannschaft unterrichtet, und das war das erste und einzige Mal, dass der Arbeitgeber rauskam, mit seiner Führungsmannschaft. Da kamen die zu 6, 7, 8, das Management kam raus, und unser Eindruck war, die wollten da auch etwas zum Thema sagen, so was wie ›Die Kündigungen sind ja jetzt vom Tisch‹. Aber als sie die Reaktion der Belegschaft gesehen haben – nach dem Motto: das interessiert uns überhaupt nicht, wir haben zwei Punkte! Da sind die wie die begossenen Pudel abmarschiert.«

Nach Beginn der Nachtschicht verkündet der Betriebsrat das Ergebnis: 1. Alle zehn Kündigungen sind vom Tisch, 2. die zweite Freistellung wird bis zur nächsten BR-Wahl festgeschrieben, 3. die Forderung nach Bezahlung der ausgefallenen Zeit kann nicht durchgesetzt werden, aber die Kollegen können die Streikstunden über das Arbeitszeitkonto ausgleichen. »Wir meinen: Gut investiertes Geld für eine solidarische Aktion!«, schreibt der Betriebsrat in seinem Aushang. 4. Jede Maßregelung von Beschäftigten unterbleibt. Damit wird die Arbeit nach 25 Stunden Streik wieder aufgenommen.

Machtfragen

Zum Streikende liegen sich die Kolleginnen und Kollegen fast in den Armen, »die Stimmung anschließend war euphorisch«. Im Betrieb ist das neue Selbstbewusstsein zu spüren. Die Belegschaft hat sich zwar auch früher an Warnstreiks und Demos beteiligt, aber solch eine Aktion ist auch für sie etwas Neues. Höchstens in den 70er Jahren hat es das mal gegeben, erinnert sich ein Älterer. Bei jeder Gelegenheit heißt es nun im Betrieb, ›wann gehen wir wieder raus?‹ Ein Betriebsrat meint schmunzelnd, sie müssten schon zurückrudern: »Leute, ich hab das Gefühl, manche denken, wir hätten hier die Macht übernommen!« Bei den Warnstreiks Ende April, Anfang Mai gehen auch die TRW-KollegInnen mehrmals raus – und das, obwohl ihnen von den Tariflohnsteigerungen aufgrund der Standortsicherungsvereinbarung nur ein Teil zu Gute kommt. Wäre es zum Vollstreik gekommen, dann hätte die IG Metall sie ganz oben auf ihre Liste der zu bestreikenden Betriebe setzen dürfen.

In der Hektik des Tages hatten sie es nicht geschafft, sich um Presse und Öffentlichkeit zu kümmern und das der IG Metall überlassen. Aber die anderen TRW-Standorte werden noch in der Nacht informiert. »Da kamen natürlich dann Solidaritätsadressen: Prima, das hilft uns auch, wenn ihr da den Kampf führt stellvertretend. Auch jüngst haben Betriebsversammlungen stattgefunden, da haben die Betriebsräte das zum Thema gemacht, in ihren Berichten erwähnt, und durch die Bank war dann die Reaktion vom Management: ›Wagt es euch bloß nicht!‹«

Den zur Zeit größten Konfliktpunkt in den Metallbetrieben des ganzen Landes haben sie noch vor sich. Im Rahmen der Standortsicherung wurde die Umsetzung von ERA auf 2010 vertagt. Aber sie wissen, was da auf sie zukommt: »Das wird mit Sicherheit ein Großkampfthema werden, weil der Arbeitgeber sieht darin nur ein Kostensenkungsprogramm. Bei TRW in Gelsenkirchen-Schalke gibt es 700 Einsprüche gegen ERA-Einstufungen – bei 780 Mitarbeitern!«

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/07


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