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"Von den Hügeln, nicht aus den Sümpfen"

Über den Umgang mit auseinanderklaffenden Realitäten in der Tarifpolitik

Von Tom Adler*

Tom Adler hatte das Schlusswort zur Debatte um mögliche Verabredungen zur nächsten Tarifrunde, die auf der Eröffnungsrunde der Konferenz der Gewerkschaftslinken geführt wurde. Er erläuterte die Motive und Überlegungen, die den nebenstehend dokumentierten Thesen der AG Tarifpolitik zugrun-de liegen und bezog sich in seinem Beitrag zugleich auf Martin Dieckmanns Einwände gegen den Verlauf der Diskussion und auf dessen Positionierung zur Frage einer gesellschaftlichen Hegemonie durch Tarifpolitik angesichts einer zunehmenden Anzahl gewerkschafts- und tariffreier Bereiche. Auch er hat seinen Beitrag freundlicherweise für den express verschriftlicht.

 

Es ist nicht von der Hand zu weisen: Auch hier im Süden gibt es Bereiche, wo solche schwierigen Realitäten existieren, die die Handlungsbedingungen im Betrieb bestimmen. Die Frage ist allerdings, ist diese Realität ‘hegemonial’? Martin hat den Begriff in die Runde geworfen, und ich würde behaupten, diese Realitäten, dieses Bewusstsein der Beschäftigten sind heute in dieser Republik noch nicht hegemonial. Niemand wird bestreiten, dass es eine dringende Notwendigkeit ist, auch für die Gewerkschaftslinke, tarifpolitische Konzepte zu entwickeln, die zugeschnitten sind auf diese Realität und die Bewusstseinslage solcher Belegschaften.

Die Frage, die sich die AG Tarifpolitik im September gestellt hat, war aber folgende: Können wir diese Bereiche zum Ausgangspunkt unserer Diskussion über die kommende Tarifrunde und mögliche Kämpfe machen, sollen wir freiwillig zuerst in die "Sümpfe" gehen, oder sollen wir die Auseinandersetzung von den "Hügeln" aus suchen, mit festem Boden unter den Füßen? Auseinanderklaffende Realitäten gab es auch schon vor zehn oder zwanzig Jahren, auch damals wurden doch Pflöcke in der Tarifpolitik dort eingeschlagen, wo es starke durchsetzungsfähige Bereiche gab. Ausgehend von denen, die in der Lage sind zu kämpfen, wurde versucht, Marken zu setzen, die es den anderen erleichtern nachzuziehen. Dieser Ansatz ist nach wie vor aktuell. Das ist das, was wir wollen. Und das ist überhaupt keine Geringschätzung für die Problematik, die in diesen anderen Bereichen da ist. Das ist aber eine zusätzliche, davon zu trennende Diskussion.

Kolleginnen und Kollegen, der Text "Gute Gründe für eine hohe Forderung in der Tarifrunde 2002", den viele Diskussionsredner verändert haben wollen, steht hier nicht zur Abstimmung. Er war eine Vorlage für die AG Tarifpolitik am 22. September, anhand der wir diskutiert haben, um ein möglichst gemeinsames betriebliches Vorgehen zu erreichen. Aus gutem Grund steht da zum Beispiel auch die 30-Stunden-Woche als realtarifpolitisch aufgreifbare Forderung in der Tarifrunde 2002 nicht drin: Es war eine breit getragene Position am 22. September, dass für weitere Schritte der Wochen-Arbeitszeitverkürzung, die ja richtig und notwendig sind, erst Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Um dafür Gehör zu finden in den Belegschaften, müssen z.B. erst einmal wieder Erfolgserlebnisse her, muss erst einmal Durchsetzungsfähigkeit von den Kolleginnen und Kollegen erlebt werden – das sind ja überhaupt keine Erfahrungen mehr, die gemacht wurden in den letzten Jahren mit der Tarifpolitik der Gewerkschaften! Auch die in der Diskussion geforderte konkrete gemeinsame Lohnforderung für alle Gewerkschaften und Branchen steht aus gutem Grund nicht in diesem Text. Die Situation im Einzelhandel ist eben eine andere als in der Metallindustrie, und eine Festgeldforderung von 500 DM ist in der Autoindustrie sicher diskutierbar, Beschäftigten im Handel ist sie aktuell nicht als ernst gemeinte Forderung vermittelbar. Es geht nicht einfach darum festzustellen, was wünschens-wert und berechtigt wäre, sondern dass wir handlungs- und durchsetzungsfähig werden. Es geht nicht darum, dass wir gute Propaganda machen, sondern dass wir auf eine tarifpolitische Diskussion Einfluss nehmen können, damit tatsächlich Auseinandersetzungen und Streiks stattfinden! Und da kommt’s wirklich nicht darauf an, ob es 9,5 Prozent sind oder zehn, über die ein Beschluss gefasst wird.

Martin hat gesagt: Politische Bewusstseinsentwicklung ist, wenn bei den KollegInnen die Konfrontation mit den eigenen Widersprüchen stattfindet. Ich bin überzeugt davon, dass die Konfrontation mit den eigenen Widersprüchen hin zu einem weiterentwickelten politischen Bewusstsein weder durch intensive persönliche Diskussion noch durch Propaganda stattfinden kann, sondern nur unter den Bedingungen von Auseinandersetzungen, von Streiks und Kämpfen. Nur unter diesen Bedingungen kommt Bewegung ins politische Denken, kann produktiv über zu verarbeitende Widersprüche diskutiert werden. Leitfrage unserer Diskussion war, wie kommen wir genau dort hin. Und natürlich kann eine ganz normale friedliche Tarifrunde gesellschaftliche Kräfteverhältnisse oder Hegemonieverhältnisse nicht im Mindesten verändern. Aber schauen wir mal zurück auf 1996. Damals haben die Lohnfortzahlungs-Streiks den Anfang vom Ende der Regierung Kohl eingeläutet. Die Streiks haben allerdings eine Wende im öffentlichen Bewusstsein befördert, das war ein Stückchen Hegemonieveränderung. Und in der aktuellen Konstellation, in der wir jetzt Politik und Tarifpolitik machen, kann auch eine Tarifrunde, in der es zu Auseinandersetzungen, zu Kämpfen kommt, ein Stückchen Hegemonieveränderung, ein Stückchen Bewusstseinsveränderung bringen.

Es kommt also darauf an, so zu handeln, dass es tatsächlich zu Auseinandersetzungen, zu Streiks kommt. Und noch so schön geschnürte Propaganda-Pakete bringen uns dem keinen Schritt näher. Wir sehen aber genauso: Nach den Erfahrungen der letzten Jahre ist für die Belegschaften – nicht nur in den Großbetrieben oder der Metallindustrie – schon die Forderungshöhe ein Signal für die Glaubwürdigkeit der gewerkschaftlichen Lohnpolitik.

Unser Ziel ist deshalb, aus dieser Konferenz herauszugehen mit praktischen Verabredungen. Dass wir versuchen überall, in den Betrieben, wo wir arbeiten, in den gewerkschaftlichen Gremien, Beschlüsse hinzukriegen, die Rückumverteilung zum Inhalt haben.

 

* Tom Adler ist Betriebsrat bei DaimlerChrysler in Stuttgart und aktiv im Stuttgarter Gewerkschaftsforum.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/01


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