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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Wild at heart Serbiens wilder Weg in den Westen Der Beitritt Serbiens in der nächsten Erweiterungsrunde der EU ist umstritten, gilt aber als unvermeidbar. Serbiens Regierung hat einen Aufnahmeantrag gestellt und tut alles, um dabei zu sein. Dazu gehört ein Privatisierungsprogramm, das einen radikalen Bruch mit bisherigen Formen von staatlichem und Belegschafts-Eigentum darstellt und entsprechend soziale Verwerfungen nach sich zieht. Über das »Koordinierungskomitee für den Widerstand der ArbeiterInnen«, das die zahlreichen Proteste gegen diese Entwicklung zu verbinden sucht, hatten wir im letzten express berichtet. Im Folgenden eine kurze Geschichte des sozialen Kahlschlags, zu dessen Folgen auch Verzweiflungstaten wie die Selbstverbrennungsaktion der TextilarbeiterInnen aus Novi Pazar gehören (siehe dazu im LabourNet Germany unter Internationales > Jugoslawien/Serbien > Arbeitskämpfe: "Selbstverbrennungsversuch streikender Arbeiterinnen in Novi Pazar, Serbien" Vor mehr als neun Jahren kamen die neoliberalen Kräfte in Serbien an die Regierungsmacht und versprachen eine radikale Umwandlung von Wirtschaft und Gesellschaft. Tief in diesen Prozess der Umwandlung verstrickt wird das Land von der gegenwärtigen globalen kapitalistischen Krise an den Rand des Untergangs gedrängt. Alleine im Jahre 2009 fiel die industrielle Produktion um weitere 15 Prozent, und die Arbeitslosigkeit stieg auf mehr als 30 Prozent. Zum Vergleich: Während der »Großen Depression« in den 30er Jahren erreichte die Arbeitslosenrate in den USA 25 Prozent. Die serbische ArbeiterInnenklasse erlebt insofern zurzeit ihre ureigenste »Große Depression«, verschärft durch die rücksichtslose Umsetzung eines neoliberalen Wirtschaftskonzepts. Die Verarmung der serbischen Bevölkerung hat erschreckende Ausmaße angenommen. So versprach Wirtschaftsminister Mladjan Dinkic jeder Bürgerin und jedem Bürger einen Bonus, finanziert durch Erträge aus den umfassenden Privatisierungen. Am 6. Januar 2010, zum orthodoxen Weihnachtsfest, wurde mit der Auszahlung dieser »sozialen Zuwendung« begonnen. Von den ursprünglich versprochenen 2000 Euro wurden schließlich 1700 Dinar, also ca. 17 Euro, ausbezahlt. Außerdem sollte jeder Aktienanteile an den privatisierten Betrieben im Wert von je 25 Euro erhalten. Am ersten Ausgabetag standen 300000 Menschen für diesen lächerlich geringen Betrag schlange – auch darin drückt sich das soziale Elend der Bevölkerung Serbiens aus. Einer kleinen Zahl von Superreichen steht eine dahinschmelzende Mittelschicht und eine immer größer werdende Zahl von Armen gegenüber. Während zum Beispiel die von Nikola Pavic (Sintelon), Miodrag Babic (Hemofarm), Predrag Rankovic (Invej) und Petar Matijevic (Fleischindustrie) gegründeten Unternehmen einen Jahresgewinn von jeweils 30 bis 50 Millionen Euro erzielten, lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze; der landesweite Durchschnittsverdienst beträgt rund 350 Euro. Kurze Geschichte der Privatisierung Die Politik der radikalen Umwandlung von Wirtschaft und Gesellschaft, die diese Verelendung der Bevölkerung in Serbien herbeiführte, hat einen Namen: Enteignung durch Privatisierung. Die Wirtschaft Serbiens gründete sich früher auf zwei Formen öffentlichen Eigentums: 1) »Betriebe des gesellschaftlichen Eigentums«, in denen die Arbeiterselbstverwaltung – eine jugoslawische Variante von betrieblicher Mitbestimmung – gesetzlich verankert war und 2) die großen Staatsbetriebe. Vor mehr als 20 Jahren erließ Ante Markovic, der letzte Premierminister des sich selbst noch als sozialistisch bezeichnenden Jugoslawiens, ein Gesetz zur Privatisierung des »gesellschaftlichen Eigentums«. Das Gesetz sah vor, dass die Entscheidung, ob ein Betrieb privatisiert werden sollte oder nicht, von der Belegschaftsversammlung, der höchsten Entscheidungsinstanz eines Betriebes, getroffen werden musste. Wenn die Belegschaft für die Privatisierung votierte, wurde das Betriebskapital in private Aktien umgewandelt, und jedem Belegschaftsmitglied wurde die Möglichkeit gegeben, diese kostengünstig zu erwerben. Das Privatisierungskonzept von Ante Markovic hatte das Potenzial, das zu erhalten, was von der jugoslawischen ArbeiterInnenselbstverwaltung noch übrig war. Slobodan Milosevic hingegen benutzte die Wirtschaftskrise und die Hyperinflation von 1993 als Vorwand, das Privatisierungsgesetz von Markovic zunächst zu annullieren. Mit den Stimmen der damaligen Opposition – der jetzt regierenden Demokratischen Partei – wurde 1995 dann ein Gesetz verabschiedet, das die Anzahl der den ArbeiterInnen zustehenden Aktien reduzierte. Das war die einzige Abstimmung in den 90ern, in der die Sozialistische Partei unter Milosevic und die Demokratische Partei unter Zoran Dindic gemeinsam votierten. Ein zweites Privatisierungsgesetz wurde 1997 verabschiedet. Auch hier war eine Privatisierung nicht zwingend vorgesehen, und die endgültige Entscheidung lag in den Händen der Belegschaftsversammlung. Allerdings standen den Belegschaftsmitgliedern nun nur noch 35 Prozent der Aktien zu, während der Staat 30 Prozent der Aktien selbst kaufen konnte und weitere 35 Prozent sich im Besitz von »externen« Aktionären befinden mussten. Mit dem Ende der Milosevic-Ära und der Durchsetzung der neoliberalen Kräfte um Dindic im Jahr 2000 wurde 2001 ein neues, aggressiveres Privatisierungsgesetz verabschiedet. Es sah die Konfiszierung gesellschaftlichen Eigentums, obligatorische Privatisierungen und ein verbindliches Zeitlimit vor. Festgelegt wurde, dass private Investoren bis zu 70 Prozent eines Betriebes übernehmen können, den Rest sollte die Belegschaft halten. Mit diesem Gesetz gewannen private Investoren die Kontrolle über die Unternehmen. Obwohl der neue Eigentümer nach diesem Gesetz verpflichtet ist, seinen Profit mit den anderen Eigentümern zu teilen, sieht die Wirklichkeit so aus, dass die ArbeiterInnen-Aktionäre von den korrupten Behörden als hindernde »Überbleibsel des Kommunismus«, »Feinde der Reform« oder als »Stalinisten« verunglimpft wurden. Das einzige Recht, das den entmutigten KleinaktionärInnen zugestanden wurde, war der Verkauf ihrer Aktien auf dem Aktienmarkt im Zuge der sog. »zweiten Privatisierung«. Einige wenige Gruppen von KleinaktionärInnen wagten es unter diesen neuen Bedingungen, ihre Fabriken selbst zu übernehmen und weiterzuführen. Die Belegschaften, die sich für diesen Weg entschieden, organisierten sich um den pharmazeutischen Betrieb »Jugoremedija« in Zrenjanin zu einem Widerstandszentrum. Sie sind eine der Hoffnungen für die Entwicklung eines Ausweges aus der kapitalistischen Sackgasse. Die »soziale Akzeptanz« für den Prozess der gesellschaftlichen Enteignung sollte auch durch die vor rund zwei Jahren erfolgte Privatisierung von Firmen des öffentlichen Sektors (serbische Telekom, Bereiche des Energiesektors wie Öl, Elektrizität) erhöht werden. Auf diese Weise wurde eine Mehrheit der verarmten Bevölkerung Serbiens zum Komplizen ihres eigenen längerfristigen Ruins, weil sie auf ein paar hundert Euro aus dem Verkaufserlös öffentlichen Eigentums hoffte! Die Folgen der Privatisierung Die einzige serbische Stahlfabrik Smederevo wurde für nur 20 Millionen US-Dollar an US-Steel verkauft. Bierbrauereien, Tabakfabriken, Tankstellen und vieles mehr gingen an ausländische, vor allem US-ameri-kanische Investoren über. So gehört die Sportwaffenproduktion von Zastava jetzt Remington, der Automobilbereich von Zastava wurde für lediglich 100 Millionen Euro an Fiat und der Ölkonzern Nis für 400 Millionen Euro an die russische Gasprom verkauft. Tausende Betriebe wurden verscherbelt, in den Bankrott geführt oder versteigert. Doch allein 420 solcher Privatisierungsverträge wurden aufgekündigt, weil die neuen Besitzer – selbst nach Ansicht der neoliberalen Privatisierungsagentur – die Vertragsbedingungen nicht einhielten. Viele Privatisierungen wurden von wütenden Protesten der Belegschaften begleitet: Ende April 2009 schnitt sich Zoran Bulatovic, ein Arbeiter des »Textilkombinates Raska« in Novi Pazar, im Laufe eines 110 Tage langen Arbeitskampfes den kleinen Finger ab. Etwa zur selben Zeit traten die ArbeiterInnen bei »Partizan« in Kargujevac in den Hungerstreik, Beschäftigte des Schienenfahrzeugherstellers »1. Mai« von Lapovo legten sich auf die Schienen, um die Bahn zu blockieren. Die ArbeiterInnen von »Zastava Elektro« in Raca leisteten gegen die Privatisierung ihres Betriebes sechs Monate Widerstand, bevor sie nach Belgrad vor die Privatisierungsagentur zogen. Im Verlaufe des letzten Jahres entwickelte sich der soziale Widerstand, und die ersten Belegschaften schlossen sich um den Kampf der Belegschaft von »Zastava Elektro« in Raca zu einem »Koordinierungskomitee für den ArbeiterInnenwiderstand in Serbien« zusammen. (S. express, Nr. 11-12/2009) Bei allen Streikaktionen stehen ähnliche Forderungen im Vordergrund: Die Auszahlung der seit Monaten, zum Teil seit Jahren zurückgehaltenen Löhne und die Wiederaufnahme der eingestellten Produktion der Betriebe. Es sind dies erste Schritte der Vereinheitlichung innerhalb einer neuen ArbeiterInnenbewegung im Prozess ihrer Selbstermächtigung. Dieser Prozess verläuft nicht linear, sondern widersprüchlich. Während im Norden Serbiens (in der Vojvodina) der Gedanke der ArbeiterInnenselbstverwaltung, der Übernahme der Produktion unter der Kontrolle der ProduzentInnen eine Orientierung für das Handeln der aktivsten und radikalsten ArbeiterInnenkollektive wird, entwickelt sich der soziale Widerstand im Süden Serbiens (Sandschak) in eine etwas andere Richtung. Hier, wo hauptsächlich die Textilindustrie angesiedelt ist, ist das Ausmaß der Deindustrialisierung höher und damit die Verzweiflung der Bevölkerung größer als im Norden. Ohne jede Aussicht auf Arbeitsplätze und angesichts des flächendeckenden industriellen Kahlschlags wird die eigene Gesundheit, der eigene Körper, das eigene Leben immer wieder zum letzten Druckmittel in einer scheinbar aussichtslosen sozialen Auseinandersetzung. So fand zum Beispiel erst im Dezember 2009 ein Selbstverbrennungsversuch von zehn streikenden Textilarbeiterinnen des Betriebes »Trikoteza« in Novi Pazar statt. Peter Haumer & Anna Leder Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/10 |