Home > Internationales > USA > Gewerkschaft > Debatten > Spaltung der AFL-CIO > masterrosen | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Change to Win - ein neuer CIO? Von Bob Master und Hetty Rosenstein Viele Beobachter fühlten sich angesichts der Abspaltung der Change to Win-Koalition von der AFL-CIO an die Abspaltung des Committee for Industrial Organization (CIO) von der American Federation of Labor (AFL) im Jahre 1935 erinnert. Kurz nachdem die SEIU und die Teamsters die AFL-CIO verlassen hatten, schrieb die Washington Post, die Köpfe von Change to Win würden sich »auf den alten CIO besinnen, der sich damals der alten AFL entledigte entschlossen, Amerikas Industriearbeiter gewerkschaftlich zu organisieren.« Andere stellten ähnliche Vergleiche an - z.T. auch die Change to Win-Leute selbst. Folgt man dieser Version der Geschichte, dann hat damals der CIO ein ganz ähnliches Programm verfolgt wie heute Change to Win - nämlich neue Strukturen und mehr Geld fürs Organizing, um mehr Dichte und industrielle Stärke zu erreichen - und damit die US-Arbeiterbewegung gerettet. In Wirklichkeit ist die Geschichte der Arbeitskämpfe in den dreißiger Jahren allerdings bei weitem komplexer, als diese Version glauben machen will. Vielmehr werden bei genauerem Hinsehen die Schwächen einer Argumentation deutlich, die behauptet, Wiederbelebung könne durch strukturelle Anpassungen oder forsches neues Führungspersonal erzielt werden. Militanz bewegt Struktur Die strukturelle Transformation der Arbeiterbewegung in den dreißiger Jahren war eher Ergebnis als Auslöser des Widerstands. Dafür hatte es einer jahrelang anhaltenden massenhaften Militanz der ArbeiterInnen bedurft - einer Militanz, die ihre stärksten Impulse vor sowie auch nach der Abspaltung des CIO einem tiefgreifenden Wandel des politischen Klimas verdankte. Dieser politische Wandel ermöglichte eine neue arbeiterfreundliche Gesetzgebung, darunter den National Industrial Recovery Act (NIRA), der vielen US-ArbeiterInnen das Recht auf Kollektivverhandlungen zubilligte. Ermutigt von diesen neuen Rechten, streikten 1933 900000 Arbeiter, und 750000 traten in Gewerkschaften ein, zwei Drittel davon waren Mitgliedsgewerkschaften der AFL, die restlichen unabhängig oder kommunistisch. Im darauf folgenden Jahr intensivierte sich die Streikwelle. Generalstreiks in drei Städten - angestoßen von den Teamsters in Minneapolis, von Arbeitern der Autoteileindustrie in Toledo und von den Dockarbeitern in San Francisco - ließen die Nation erzittern. Insgesamt streikten 1934 fast 1,5 Mio. Menschen. Die AFL-Führung war schockiert von den Ereignissen, da sich die Arbeiter nach industriellen Sektoren selbst organisierten, anstatt sich an die etablierte Einteilung nach Berufsständen zu halten. Zähneknirschend nahm der Verband diese Arbeiter auf, gliederte jedoch die fabrikbasierten Locals direkt an, außerhalb der etablierten Verbandsstruktur. Die Zahl der Locals wuchs zwischen 1932 und 1934 von 307 auf 1788. Widerstand der Unternehmen Nicht einmal die vielen Streiks genügten, um den Widerstand der größten Unternehmen zu brechen: von General Motors, Ford, den Stahlriesen, General Electric, Westinghouse, den Gummi- sowie den Fleischproduzenten. Es waren noch weitere gesetzliche und politische Neuerungen nötig - begleitet schließlich von der Spaltung in der AFL -, bevor sich 1937 die moderne Arbeiterbewegung bildete. Obwohl der Supreme Court den NIRA im Mai 1935 für verfassungswidrig erklärte, zwangen die industriellen Unruhen von 1934 den Kongress zu einer unmittelbaren Reaktion: Er verabschiedete den National Labor Relations Act, der das Recht auf Kollektivverhandlungen für fast alle US-Arbeiter vorsah und im Juli 1935 von Präsident Roosevelt unterzeichnet wurde. Der AFL seinerseits bekämpfte die Schaffung des National Labor Relations Board (NLRB) bis aufs Messer, weil er befürchtete, so der Historiker Nelson Lichtenstein, »die neu gewonnene Handlungsfähigkeit der Regierung würde die Ansprüche der traditionellen Standesorganisationen zu Gunsten von Verhandlungseinheiten im CIO-Stil an den Rand drängen.« So erklärte AFL-Präsident William Green 1938: »Wir werden in einem kompromisslosen Kampf all unsere politische und wirtschaftliche Stärke mobilisieren, bis das NLRB entmachtet ist.« Widerstand der AFL-Führung Hier lag der Grund für die Spaltung der Arbeiterbewegung: eine so radikale Unvereinbarkeit der Perspektiven, dass jeglicher Kompromiss undenkbar war. Der AFL stellte sich dem massenhaften Aufbrechen von Arbeitermilitanz zwischen 1933 und 1939 entgegen und tat sich mit dem Arbeitgeberverband National Association of Manufacturers sowie rassistischen, arbeiterfeindlichen Gesetzgebern aus den Südstaaten zusammen, um das wichtigste Stück Arbeitsrecht auszuhebeln, das in der US-amerikanischen Geschichte jemals verabschiedet wurde. So kam es im Oktober 1935 in Atlantic City zur Spaltung - und dabei ging es eben nicht um die Verwendung von Mitgliedsbeiträgen oder um bessere industrielle Strategien für die Gewerkschaften, sondern um die Frage, ob man ganz grundsätzlich die Organisierung von Millionen neuer Beschäftigter in die Arbeiterbewegung wollte oder sich ihr widersetzte. Offen gesagt machen die heutigen Streitigkeiten innerhalb der Gewerkschaftsbewegung einen reichlich trivialen Eindruck im Vergleich mit den tiefen Gräben, die die Arbeiterschaft vor sechzig Jahren spalteten. Die organisatorische Neustrukturierung und die fortschrittlichen Gesetze reichten auch immer noch nicht für die Entfesselung der gewaltigen Organisierungswelle aus, die den Aufbau des CIO begründen sollte. Um die Tür zur Organisierung in Industriegewerkschaften aufzustoßen, war noch mehr nötig, nämlich Roosevelts Kampagne für seine Wiederwahl im Jahre 1936, die man nur als Wasserscheide oder als Erdrutsch bezeichnen kann, da sie ein nie gekanntes Gefühl (»spirit«) von Empowerment und bürgerlicher Teilhabe unter zig Millionen eingewanderter und schwarzer ArbeiterInnen in den Fabriken, auf den Feldern, in den Mühlen im ganzen Land erzeugte. »Die Wahl von 1936 mobilisierte die ethnische Arbeiterklasse wie keine andere und stabilisierte die Macht der entstehenden Roosevelt-Koalition entscheidend«, schreibt Lichtenstein. In den Auto-Zentren kam es vor, dass Arbeiter die Bänder anhielten und sich an den Fenstern drängten, um Roosevelt zuzujubeln. In Flint waren ganze 136 Arbeiter zahlende Mitglieder der UAW, aber über 100000 strömten auf die Straßen. In Pontiac, wo die UAW überhaupt keine Mitglieder hatte, berichtete die Detroit News von einem »ungeheuren Menschenauflauf«. Eine halbe Million ArbeiterInnen säumte die Straßen von Hamtrack nach Detroit, und über 250000 fanden sich am City Hall Square ein, um Roosevelts Schelte für die Automagnaten zu lauschen. Organisierungsdichte war deutlich keine Voraussetzung für die Aufstände im industriellen Mittleren Westen von 1936. Der Roosevelt-Erdrutsch wurde in seiner Wirkung noch vervielfacht durch eine Reihe »kleiner New Deals«, die die Politik der Industriezentren New Englands und des Mittleren Westens transformierte. Damit wurde den Beschäftigten Organisierung ermöglicht, ohne dass sie unmittelbare Repressionen durch Polizei oder Militär befürchten mussten. Und damit war die Bühne frei für den Sitzstreik von Flint, der am 30. Dezember 1936 mit einem wilden Streik bei der Karosseriefabrik Fisher begann. »Ihr habt an der Urne für den New Deal gestimmt und die Autobarone in die Knie gezwungen«, forderten gewerkschaftliche Organizer die Arbeiter von Michigan Ende 1936 auf, »nun holt Euch Euren New Deal im Betrieb.« Durchbruch bei GM Sechs Wochen später, am 11. Februar 1937, willigte General Motors in einen vierseitigen Vertrag ein, der die Anerkennung der UAW sowie fabrikübergreifende Verhandlungen beinhaltete. In den darauffolgenden Monaten beteiligten sich fünf Mio. ArbeiterInnen an Widerstandsaktionen, fast drei Mio. wurden Gewerkschaftsmitglieder. Die Strategie des CIO hatte sich als erfolgreich erwiesen, und mächtige neue Gewerkschaften entstanden in allen industriellen Sektoren der USA. Das Herzstück der Aufstände der dreißiger Jahre war die Selbstorganisation der Basis am Arbeitsplatz. Vielerorts wurde diese von Radikalen und Gewerkschaftsaktivisten angeführt, die den Arbeitern zu Gerechtigkeit bei der Arbeit und in der Gesellschaft verhelfen wollten, aber häufig organisierten sich die Arbeiter auch einfach selbst und kümmerten sich erst später um institutionelle Anbindung. Organisatorischer Wandel folgte diesen Entwicklungen und war für die endgültigen Erfolge von 1937 von großer Bedeutung. Lehren der Geschichte Spielt diese Geschichte für die Gewerkschaftsbewegung von heute überhaupt eine Rolle? Schließlich ist WalMart nicht GM; die Arbeiter hocken vor dem Fernseher oder dem Internet, anstatt sich in Nachbarschaftszentren der Arbeiterklasse zusammenzufinden; und die rechtlichen Errungenschaften der dreißiger Jahre haben die Wahrscheinlichkeit eines ökonomischen Zusammenbruchs von der Dimension der Großen Depression stark reduziert. Darüber hinaus scheint sich die Partei der Demokraten heute weiter und weiter von den Ideen, der Rhetorik und dem Geist Roosevelts und des New Deal zu entfernen. Wie können also die Erfahrungen der dreißiger Jahre Aufschluss darüber geben, was die von Change to Win vorgeschlagenen Veränderungen bewirken werden? Wie können sie uns dabei helfen, alternative Veränderungsvorschläge zu entwickeln? Zunächst wirft diese Geschichte ein kaltes Licht auf die Motivation der Abspaltung der Change to Win-Koalition vom AFL-CIO - Frustration über die Strukturen und Regeln des Verbandes. Die Differenzen, die den heutigen Gewerkschaftsspitzen schlaflose Nächte bereiten, verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit, wenn man die Tiefe, Schärfe und Reichweite der Differenzen zum Maßstab nimmt, die 1935 zur Spaltung der Ge-werkschaftsbewegung geführt haben. Ähnlich wichtig: Eine sorgfältige Aufarbeitung der Geschichte legt nahe, dass Ideen, Politik und die Mobilisierung der Arbeiterbasis für die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung weit wichtiger sind als deren orga-nisatorische Struktur. Es ist nicht verkehrt, das industrielle Organizing und die Organisierungsdichte in den Blick zu nehmen. Aber die Geschichte zeigt deutlich, dass es keine Abkürzungen zum Wiederaufbau unserer Bewegung gibt und dass weit mehr erforderlich ist als ein paar Fusionen und eine Neuverteilung von Pro-Kopf-Beiträgen, wenn man die Wendung in den Geschicken der Gewerkschaftsbewegung herbeiführen will, die alle so verzweifelt herbeisehnen. Die Geschichte lässt außerdem vermuten: Wenn wir wollen, dass eine echte Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung Fuß fassen kann, benötigen wir ein Reformprogramm, das ein weit größeres Gewicht legt auf politischen und ideologischen Wandel, auf Lernen und Empowerment für die Basis sowie auf das Engagement für eine Stärkung von Kollektivverhandlungen und den Aufbau von Organisierungsdichte. Bob Master ist legislativer und politischer Direktor für den CWA District One in New York und New England. Hetty Rosenstein ist Vorsitzende des CWA Local 1037, das 8 400 SozialarbeiterInnen in New Jersey repräsentiert. Übersetzung: Anne Scheidhauer Quelle: Labor Notes, September 2005 Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/05 |