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Updated: 18.12.2012 15:51
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»World citizenship for everybody«

Claudia Liebelt über Arbeitsmigration in Israel*

In einer zweiteiligen Reihe beschrieb Kirsten Huckenbeck im express 5/04 und 6-7/04 Eindrücke einer Reise von GewerkschaftsvertreterInnen und AktivistInnen nach Israel, bei der insbesondere Arbeitsmigration und Prekarisierung des israelischen Arbeitsmarktes Thema waren. Hieran anschließend geht es im Folgenden um das israelische Migrationssystem, wie es sich aus der Perspektive der ArbeitsmigrantInnen darstellt.

Deren Alltagsrealität hat sich in den letzten beiden Jahren durch die Errichtung einer eigens für Abschie-bungen zuständigen Polizeieinheit und alltäglich gewordener rassistischer Ausweiskontrollen dramatisch verschlechtert. Dennoch haben sich ArbeitsmigrantInnen in den letzten Jahren insbesondere im Süden der israelischen Küstenstadt Tel Aviv einen eigenen Raum geschaffen, in dem offen über die für Israel bis vor kurzem undenkbare Frage diskutiert wird, ob das jüdische Einwanderungsland Israel nicht längst auch ein Einwanderungsland für Nichtjuden geworden ist.

In Souares Wohnung an einer der ältesten Straßen von Tel Avivs Süden, dessen alltägliche Geräuschkulisse von vorbeirasenden Bussen, schrillenden Polizeisirenen und unbeachtet vor sich hin läutenden Alarmanlagen bestimmt wird, ist es seit vergangenem Jahr noch enger geworden: In dem Raum, in dem sich Souare seit Jahren in unregelmäßigen Abständen mit seinen Kollegen von der African Workers Union trifft, lagern seit einigen Wochen stapelweise Kinderspielzeug, Lebensmittelsäcke und Kleidungsstücke. Der einst kämpferischste Interessenverband von ArbeitsmigrantInnen in Israel verlagerte seine Aktivitäten auf Hilfstransporte in die Herkunftsländer seiner Mitglieder – laut Souare »eine Reaktion auf die Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit unserer politischen Forderungen nach einem Leben in Würde und Papieren für illegalisierte Migranten«. Der Richtungswechsel dieser vor über sechs Jahren aus einer bunten Fußballliga entstandenen mi-grantischen Selbsthilfeorganisation ist paradigmatisch für den radikal veränderten Lebensalltag der schätzungsweise 365000 nichtjüdischen MigrantInnen Israels. [1] Er wird, spätestens seit die Migrationsbehörde im August 2003 mit der »Operation Housecleaning« eine großangelegte Abschiebungswelle anstieß, von Angst, Misstrauen und der Abdrängung in ein Leben jenseits der Öffentlichkeit bestimmt.

Migrationsregime und Arbeitsmarkt

Dabei ist Israel seit der Herausdrängung palästinensischer ArbeiterInnen zu Beginn der 90er Jahre – ebenso wie andere westliche Industriestaaten – in hohem Maße auf ArbeitsmigrantInnen angewiesen. Nach den eher konservativen Schätzungen der Bank of Israel (israelische Zentralbank) stellen MigrantInnen über zehn Prozent der israelischen Arbeitskräfte und arbeiten knapp 20 Prozent aller in Israel geleisteten Arbeitsstunden. [2] Grob vereinfachend gesagt sind dies: thailändische Männer in der Landwirtschaft, rumänische und chinesische Männer im Bausektor, RumänInnen, PhilippinInnen, WestafrikanerInnen und SüdafrikanerInnen im Pflegebereich und als Putzkräfte. Wie andernorts gelangen diese ArbeitsmigrantInnen fast ausschließlich auf legalem Wege ins Land. Nur wenige überqueren mit Hilfe beduinischer Führer die grüne (ägyptische) Grenze; dies sind meist osteuropäische Frauen, die in Tel Aviv zur Prostitution gezwungen werden. [3]

Insbesondere WestafrikanerInnen und BolivianerInnen kamen in der Vergangenheit durch das ›touristische Schlupfloch‹ mithilfe einer Pilgerreise ins »Gelobte Land«, blieben nach Ablauf ihres Touristenvisums dort und wurden so in die Illegalität gedrängt. Die überwältigende Mehrheit der ArbeitsmigrantInnen jedoch gelangt nach Israel mit staatlichen Arbeitsgenehmigungen, für die sie illegale – jedoch gängige – Vermittlungsgebühren in Höhe von mehreren tausend Dollar an so genannte »manpower«-Agenturen zahlen. [4] Diese Arbeitsgenehmigungen werden, ähnlich wie die in Deutschland, an so genannte Saisonarbeiter vergebenen, vom Innenministerium ausschließlich temporär ausgestellt und sind an einen bestimmten Arbeitgeber gebunden. Um ihr Visum, für das sich die MigrantInnen in ihrem Herkunftsland oder bei der Arbeitsagentur oft hoch verschulden, nicht zu verlieren, arbeiten viele unter unannehmbaren Arbeitsbedingungen: Fälle von einbehaltenem Lohn, konfisziertem Reisepass, körperlicher Erschöpfung, sexueller Belästigung und miserabler Unterkunft sind bei der Tel Aviver Nichtregierungsorganisation zur rechtlichen Unterstützung von ArbeitsmigrantInnen Kav LaOved trauriger Alltag. So meint Hana Zohar, Vorsitzende von Kav LaOved: »In Israel werden gerade die legalen Arbeiter wie Sklaven behandelt. Illegale Arbeiter verfügen über ein kommunales Leben und mehr Freiheiten bei der Arbeit: Wenn ein Chef nicht zahlt, wechseln sie einfach den Job.«

Tatsächlich wechselten in der Vergangenheit viele auf diesem Wege ›importierte‹ ArbeitsmigrantInnen, insofern sie nicht unfreiwillig ihr Visum verloren, bewusst in die Illegalität. Noch im vergangenen Jahr schätzte Zohar die Zahl der so genannten Illegalen auf etwa 60 Prozent aller ArbeitsmigrantInnen. Eine restriktive, auf Abstammung beruhende Gesetzgebung, die es Nichtjuden so gut wie unmöglich macht, die israelische Staatsbürgerschaft zu erlangen, und die Tatsache, dass es in Israel weder Zivilheirat noch eine Anerkennung im Lande geborener Kinder von MigrantInnen gibt, machen die Rückkehr in die Legalität schier unmöglich.

Aufstieg und Fall von Neve Shaanan

Neve Shaanan, ein altes Tel Aviver Arbeiterviertel im Süden der Stadt wurde in den 90er Jahren zum geographischen, sozialen und politischen Zentrum der Illegalisierten in Israel. Hier war billiger Wohnraum einfach zu haben, und Jobs fanden sich in den städtischen Wohnvierteln der Reichen als Kindermädchen, Putzkraft, Gärtner oder Tellerwäscher. Große Teile des südlichen Tel Aviv, die spätestens seit der Errichtung eines neuen zentralen Busbahnhofes Anfang der 90er von Prostitution, dem Konsum harter Drogen und leerstehenden Häusern geprägt waren, erwachten zu neuem Leben. Der Busbahnhof mit seiner riesi-gen integrierten Shoppingmall auf sieben Etagen wurde das Herz eines Viertels, dessen öffentliches Antlitz geprägt ist von seinen internationalen Bewohnern, Telefon- und Internetläden mit vielversprechenden Namen wie »World Citizenship for Everybody«, Karaokebars und Straßenhändlern, welche südostasiatische Kräuter und Gewürze oder die neue Ausgabe der Wochenzeitschriften Manila Tel Aviv und Beijing Tel Aviv im Angebot haben. Es entstanden Hilfsinstitutionen wie das städtische Wohlfahrtszentrum Mesila, eine von den Physicians for Human Rights betriebene Klinik für ArbeitsmigrantInnen, Kindergärten, in denen neben Hebräisch auch Englisch und Spanisch gesprochen wird.

Die alten Lagerhallen der Matalon-Straße verwandelten sich in Dutzende Pfingstkirchen, was dieser den Namen Rechov Knessiot, Kirchenstraße, eintrug. Und das Kingdom of Porc gleich um die Ecke dürfte die einzige israelische Metzgerei mit einem umfangreichen Angebot an Schweinefleisch sein. ArbeitsmigrantInnen organisierten sich in teils kulturellen, teils politischen Regionalverbänden wie der eingangs erwähnten African Workers Union.

Eine Mischung aus politischen und ökonomischen Interessen veranlasste verschiedene Regierungsinstitutionen dann im Jahr 2002 zu einer radikalen Wende im Umgang mit illegalisierten ArbeitsmigrantInnen. Insbesondere drei Argumente wurden gegen diese MigrantInnen angeführt: Erstens eine angebliche kulturelle Bedrohung des Landes durch »Überfremdung«, zweitens eine zusätzliche Gefährdung der Sicherheit, die von ›Illegalen‹ und somit schwer zu kontrollierenden Personen ausgeht und drittens eine mögliche »Bedrohung des sozialen Friedens«, die die wachsende Beschäftigung von ArbeitsmigrantInnen bei steigender israelischer Arbeitslosigkeit mit sich bringen könnte. Insgesamt stellte das Finanzministerium 2002 umgerechnet etwa 40 Millionen Euro für die »Bekämpfung des Problems der illegalen Fremdarbeiter« zur Verfügung. [5] Dieses Geld floss in neue Abschiebeknäste – darunter das »Renaissance Hotel« in Nazareth, das aufgrund ausbleibender Touristenströme zur Jahrtausendwende nie seiner eigentlichen Bestimmung zuge-führt wurde – und in die Errichtung einer eigens für Festnahme und Abschiebung ›Illegaler‹ zuständigen Polizeieinheit.

Über Monate hinweg strahlten die staatlichen Sender täglich vor den Abendnachrichten eine Werbekampagne des Arbeitsministeriums gegen die Beschäftigung ›Illegaler‹ aus, was nach Angaben von Kav LaOved zur Kündigung und Denunziation Tausender führte. Ebenfalls in enger Zusammenarbeit mit den Medien wurde im August 2003 die bereits erwähnte Kampagne mit dem vielsagenden Titel »Operation Housecleaning« eingeläutet: Begleitet von Fernsehteams drangen Mitglieder der Migrationsbehörde in mehrere Häuser eines wohlhabenden Vorortes der Küstenstadt Herzliya ein und verhafteten die illegalisierten Angestellten. Obwohl bei dieser Aktion lediglich acht ›Illegale‹ verhaftet (und später abgeschoben) wurden, führte eine übertriebene Medienberichterstattung zu einer neuen Entlassungswelle durch verängstigte Arbeitgeber. [6]
Nach dieser einleitenden PR-Aktion verlagerten die Polizisten der Migrationsbehörde ihre Razzien nach Angaben der Anti-Abschiebungsorganisation Hotline for Migrant Workers insbesondere auf drei Ziele: die Wohnungen der ›Illegalen‹, den Umkreis sozialer und kirchlicher Einrichtungen in Neve Shaanan und die Bushaltestellen, welche viele ArbeitsmigrantInnen benutzen, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu gelangen. Im Juni dieses Jahres, nur knapp ein Jahr, nachdem die Operation Housecleaning auf den Plan trat, meldete die Behörde, dass sie insgesamt 100000 Personen dazu gebracht hätte, das Land zu verlassen, darunter 41032 mit Zwang. [7] Bereits Ende 2003 hatte das Innenministerium Arbeitgebern und Arbeitsagenturen den Import von 41000 neuen (legalen) ArbeitsmigrantInnen für das Jahr 2004 in Aussicht gestellt, eine Zahl, die seither nach oben korrigiert wird. [8] Dies verdeutlicht, dass sich die Abschiebungspolitik keineswegs gegen ArbeitsmigrantInnen per se richtet, sondern vielmehr eine Strategie ist, um das auf einer Verquickung von ökonomischen und politischen Interessen beruhende Migrationsregime zu stärken.

Für die ArbeitsmigrantInnen haben sich die ›Kosten‹, in die bis dato freiere ›Illegalität‹ zu wechseln, aufgrund der hohen Gefahr, verhaftet und abgeschoben zu werden, extrem erhöht. Neve Shaanan ist seit einigen Monaten kaum wiederzuerkennen. Wie ausgestorben wirken die Straßen an Wochentagen, eilig von Haus zu Haus hastende Menschen tragen Sonnenbrillen und tief ins Gesicht gezogene Hüte – nicht nur der brennenden Sonne wegen, sondern um afrikanische oder asiatische Gesichtszüge zu verbergen. Tel Aviver Taxifahrer sprechen von einer massiven Umsatzsteigerung seit Beginn der Polizeikontrollen, da viele MigrantInnen aus Angst den öffentlichen Raum meiden. Kirchengemeinden schließen aufgrund des Mitgliederschwunds oder weil der Pastor abgeschoben wurde. Im ständig schrumpfenden Kindergarten von Neve Shaanan haben Polizisten, Verhaftungen und Visumsangelegenheiten längst Eingang ins Spiel der Kinder gefunden.

Einwanderungsland Israel?

Die African Workers Union gab sich zunächst kämpferisch: Gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen und israelischen Aktivisten organisierten ihre Mitglieder Demonstrationen und Diskussionsrunden, eine Abordnung traf sich im israelischen Parlament mit dem Innenminister, Einzelne avancierten zu regelrechten Medienstars. Als Naana Holdbrook, Präsident der African Workers Union, im März dieses Jahres abgeschoben wurde, widmete ihm die angesehene israelische Tageszeitung HaAretz einen ganzseitigen Artikel. Seither steht Souare der unabhängigen Gewerkschaft vor. Der einstige Angestellte des Sierra Leonischen Finanzministeriums ist einer der wenigen Arbeitsmigranten in Israel, der durch die Anerkennung als Flüchtling einen Weg zurück in die Legalität fanden.

Auch wenn der Verband seine politischen Ziele vorerst auf Eis gelegt hat, stieß das selbstbewusste Auftreten von MigrantInnen wie Naana und Souare in der israelischen Öffentlichkeit eine bisher undenkbare Debatte an: Ist Israel, gegründet als Heimstätte für eine oftmals verfolgte und zumindest potentiell gefährdete Minderheit, reif, sich für andere Immigranten zu öffnen? Gefährdet die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechtes den jüdischen Charakter des einzigen Staates, den Juden auf dieser Welt haben? Oder ist die Aufnahme nichtjüdischer MigrantInnen ein Zeichen für eine langersehnte Normalisierung des Landes, mit der sich Israel in die Runde westlicher Industriestaaten einreiht?

* Claudia Liebelt promoviert am Institut für Ethnologie in Halle/Saale über Arbeitsmigration in Israel.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/04

Anmerkungen:

1) Vgl. hierzu Kav LaOved: »Annual Report 2003« (auch im Internet erhältlich unter www.kavlaoved.org.il externer Link).

2) Zitiert nach Kav LaOved: »Annual Report 2003«

3) Vgl. hierzu einen Report der Hotline for Migrant Workers: »For you were Strangers. Modern Slavery and Trafficking in Human Beings in Israel«, in: www.hotline.org.il externer Link

4) Dies sind zum einen Agenturen im Herkunftsland der MigrantInnen, zum anderen mit diesen kooperierende Agenturen in Israel, welchen den Großteil der Vermittlungsgebühren kassieren.

5) HaAretz, 7. Oktober 2003, »How much will ousting foreign workers change the economy?«

6) HaAretz, 19. September 2003, »Cleaned Out«

7) HaAretz, 30. Juni 2004, »Ministry to boost number of foreign worker inspectors«

8) HaAretz, 7. Oktober 2003, »How much will ousting foreign workers change the economy?«


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