Home > Diskussion > Wirtschaftspolitik > WTO,Seattle, ff. > G8-07 > Grundrechte > komitee3 | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Der demokratische Stellenwert von Demonstrationen Auszug aus Jähe Grenzen aller "Macht von unten" (Kap. V. 2.1., S. 169ff) aus dem Buch vom Komitee für Grundrechte und Demokratie Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte und Demokratie * Wie der G-8-Gipfel nach seinem politischen "Wert" zu befragen ist, so sind die Demonstrationen ihrerseits politisch zu gewichten. Demonstrationen sind gerade im Rahmen repräsentativer Demokratie von essentieller Bedeutung. Darauf haben wir schon im einleitenden Kapitel aufmerksam gemacht. Diese Bedeutung ist der Grund, warum das Komitee für Grundrechte und Demokratie Beobachtungen von Demonstrationen zu einer seiner hauptsächlichen Aufgaben erkoren hat. Wenige Verfassungsrechtler haben den Stellenwert von Art. 8 GG ("Versammlungsfreiheit") so knapp und so trefflich kommentiert wie der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht und Universitätslehrer in Freiburg i. Br., Konrad Hesse.[Anm1] Seine Argumente bilden nicht von ungefähr den Kern der so genannten Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1985. Sie gibt der Versammlungsfreiheit ihr gerade im Rahmen einer liberalen Demokratie notwendiges Recht. Sie vermindert und durchlöchert es nicht, wie dies positiv rechtliche Gesetze tun, die seit 1953 das Grundrecht rechtsverbindlich vertäuen. Sie blockiert und begrenzt das Versammlungsrecht nicht, wie dies vor allem von Seiten der meisten Polizeigesetze der Länder geschieht. Konrad Hesses unvermindert stimmige Ausführungen mögen darum zuerst zitiert werden, bevor wir sie zusätzlich zuspitzen. An erster Stelle steht bei Hesse die "Komplementärfunktion", die Art. 8 GG zum Grundrecht auf Meinungsfreiheit, Art. 5 GG, einnimmt. "Meinungsbildung oder ,Vorformung des politischen Willens'", so Hesse, "setzen eine Kommunikation voraus, die sich zu einem wesentlichen Teil in Versammlungen vollzieht". "Darüber hinaus machen es Versammlungen möglich", fährt Hesse fort, "die Wirkung einfacher Meinungs äußerung durch Zusammenwirken zu potenzieren. Sie wird deshalb ein wirksames politisches Kampfmittel, das für die Austragung von Konflikten eine wesentliche Rolle spielt. Sie sind geeignet, politische Forderungen nachdrücklich zur Geltung zu bringen, und zwar jenseits eingespielter ,Vorformung', vollends der Bildung des politischen Willens in Parlament und Regierung. Sie bieten damit die Möglichkeit der öffentlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest." "Insofern sind sie", folgert Hesse und wir betonen seine qualifizierende Feststellung kursiv, "wesentliches Element demokratischer Offenheit: sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren. In dieser Funktion", Hesse argumentiert überzeugend ohne Absatz weiter, "sind Versammlungen, ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes, durch das Grundrecht des Art. 8 GG geschützt, wobei dessen Eigenschaft als Mitwirkungsrecht, das die öffentliche Teilnahme am politischen Prozess zu sichern sucht, besonders deutlich hervortritt." Die beiden fast unmittelbaren Folgerungen, die Hesse im folgenden Absatz zieht, seien noch verkürzt angeführt:
Wie sehr Konrad Hesses verfassungsrechtlich scharfer Blick, den demokratisch funktionalen Kern des Grundrechts auf freie Versammlung (und die Freiheit der Versammlungsformen) erfasst hat, ist an der Geschichte der Bundesrepublik, insbesondere seit den Zeiten der Studentenbewegung zu belegen. Fast alle politisch sozialen Neuerungen wurden im Kampf um die Öffentlichkeit und das, was sich öffentlich legitimieren lässt, mit dem Mittel der Demonstrationen angeregt, stimuliert, im Sinne erzeugten Drucks ein Stückweit durchgesetzt. Die Neuen sozialen Bewegungen, wie sie sich Ende der sechziger Jahre zuerst verkehrspolitisch, umweltpolitisch, wider die Kernenergie, bildungs- und friedenspolitisch regten und an Fahrt gewannen, haben die politische Form der Demonstration befreit. Sie haben über die Inhalte hinaus, für die demonstriert wurde, gerade die Form der Demonstration als eine demokratische in die Bundesrepublik eingeführt. Das ist es, worin die Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gipfelt. Es bedarf nicht des versammlungsrechtlich verlangten "Führers und Leiters". Demonstrationen sind nicht primär als (quasimilitärische) "Aufzüge und Aufmärsche" zu begreifen [Anm2] . So praktizieren es neuerdings allenfalls Anhänger der NPD. Großdemonstrationen wie in Brokdorf können demokratisch von keinem "Führer" geleitet werden. Glücklicherweise. Darum sind sie auch nicht vorweg perfekt auszurechnen und zu disziplinieren. Allerdings haben weder die Verfassungsgeber, noch Konrad Hesse und diejenigen, die ihm im Wesentlichen folgen, bedacht, dass das Demonstrationsrecht und seine Praxis durch zwei Enttäuschungen gekennzeichnet ist, die seine demokratische Relevanz gefährden. Die erste Frustration ist eher herkömmlicher Art. Selbst im besten liberaldemokratischen Fall prallen Demonstrationen auf eine Mauer. BürgerInnen strömen einmal, sie strömen in zeitlichem Abstand mehrere Male zusammen. Sie geben ihrer Meinung kollektiv geballt Ausdruck. Sie werben dafür. Sie versuchen, "die Öffentlichkeit" zu beeinflussen und über die Öffentlichkeit auf die zuständigen politischen Instanzen, Parlamente, Parteien, exekutiven Einrichtungen, Gerichte einzuwirken. Es gibt jedoch weder "die" Öffentlichkeit als wenigstens vage installierte und adressierbare politische Instanz. Noch ist gesichert, dass in einer eher diffusen, von medialen Instanzen "gemachten" Öffentlichkeit einigermaßen verlässliche Reaktionen erwartet werden können. Dazu ist die Bundesrepublik viel zu flächengroß und heterogen. Dazu sind die BürgerInnen viel zu zahlreich. Darum gilt: Je mehr Demonstrationen als Formen bürgerlicher Äußerung erfreulicherweise üblich geworden sind und je mehr die demonstrierten Äußerungen von den publizierten Interessen der Mehrheitsmedien abweichen, desto weniger sind nachhaltige Reaktionen zu erwarten. Oft werden Demonstrationen nur medien öffentlich zur Kenntnis genommen, wenn in ihnen, durch sie, um sie herum Spektakuläres geschieht. Das Spektakel Demonstration allein genügt nicht. Das ist meist nur dann der Fall, wenn schon um das "Ob" von Demonstrationen vorab gestritten wird, sodass allein schon demonstriert werden muss, um das Recht auf "Versammlungen unter freiem Himmel" zu erhalten. Medien werden vor allem dann aufmerksam, wenn es im Verlauf von Demonstrationen zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und mehr oder weniger Abstand haltender, "gewaltbereit" oder weniger "gewaltbereit" begleitender Polizei kommt. Solche demonstrativen Akte sind plötzlich, medial vermittelt, in vieler Munde. Dann aber besteht die Gefahr, dass das politische Ziel einer Demonstration hinter einem Gewaltschleier verborgen wird. Dies geschieht selbst dann, wenn weder Gewaltübergriffe von Demonstrierenden ausgingen, noch eine große Demonstration und ihre Teilnehmenden sich mehrheitlich an irgendwelchen verletzungsgefährlichen, immer im Wechselblick auf Demonstrierende und Polizei zu beachtende, Auseinandersetzungen beteiligten. Das Bundesverfassungsgericht hat 1985 mit gutem Grund argumentiert, einzelne Gewaltübergriffe, von wem immer solche Gewaltakte "zuerst" ausgegangen sein mögen, dürften nicht einer ganzen Demonstration zugerechnet werden. Die Mahnung war indes vergebens. Für den Einsatz der Polizei weitgehend folgenlos blieb auch Konrad Hesses grundrechtlich-demokratisch nicht widerlegbarer Kommentar. Alle Polizei in der Demokratie, die eine Polizei der Demokratie, möglichst eine demokratische Polizei zu sein hätte, müsste auf dem Boden des Grundgesetzes zu allererst darauf achten, dass das Grundrecht freier Versammlung praktisch gewahrt werde. Wie wenig das aktuell gilt, zeigte die Großdemonstration am Samstag, den 2. Juni, am Hafen zu Rostock, zeigten die weiträumigen Verbote von Demonstrationen und zeigte die schier totale polizeilich-militärische Sicherung des Heiligendammer Gipfels gegen demonstrierende BürgerInnen. Kurz gesagt: Die emphatisch politisch demokratische Öffentlichkeit von Demonstrationen bleibt weithin ohne Echo. Sie wird fast zu einem Privatakt der Beteiligten. Oder die demonstrativen Absichten der BürgerInnen werden hinter einer publizistischen Gewaltwolke bis zur Unkenntlichkeit verborgen. Dass dem häufig so ist, hängt mit dem zusammen, was als "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (J. Habermas) beschrieben worden ist. Damit ist ein Strukturwandel liberaler Demokratie verbunden. Konsequenzen daraus sind weder verfassungsrechtlich, noch verfassungspolitisch gezogen worden. Wollte man den demokratisch essentiellen Wert des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit erhalten, dann müsste man nach Verfahren suchen, die Demonstrationen mit einem Echo versehen. Es wäre dafür zu sorgen, dass die politisch gewählten repräsentativen Instanzen und ihre VertreterInnen die BürgerInnen, die sich politisch äußern, wahr- und ernstnehmen. Politik muss Kommunikation und Auseinandersetzung mit anderen bedeuten, an erster Stelle mit den "eigenen" BürgerInnen. Die zweite Frustration ist noch systematischerer Natur. Sie ist eng verbunden mit Mängeln liberaler oder repräsentativer Demokratie, die heute nicht zu übersehen sind. Konrad Hesse hat sie im Rahmen des Grundgesetzes und seiner von ihm nicht erörterten sozialen Voraussetzungen nicht beachtet. Die zusätzliche Dimension dessen, was man "Globalisierung" nennt, und ihre Konsequenzen für die Verfassung liberaler Demokratie wurden seinerzeit auch von denen nicht er örtert, deren berufliche Aufgabe es wäre: den Sozial- und Politikwissenschaftlern. Anmerkungen 1) Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 8. Auflage, Karlsruhe 1975 2) Nationalsozialistische SA-Aufmärsche und kommunistische Aufzüge beherrschten wechselweise schlagkräftig, Furcht erregend und politisch lähmend, besonders in Berlin, Ende der Weimarer Republik das Feld. Die von Anfang an gelähmte liberale Demokratie der Weimarer Reichsverfassung verlor schon vor dem durchschlagenden Erfolg der Nazis ihre geringe Substanz an demokratischen Prozeduren. Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte und Demokratie "In Heiligendamm an der Ostsee trafen sich im Juni 2007 acht Politiker und Politikerinnen in einer weiträumig abgesperrten und eingezäunten Hotelburg. Gegen die Politik dieser Repräsentanten der reichen und mächtigen Staaten protestierten zehntausende Bürger und Bürgerinnen vom 2. bis 8. Juni 2007. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie schildert seine Erfahrungen aus den Demonstrationsbeobachtungen auf der Grundlage der Vorgeschichte. Sicherheit galt ausschließlich dem Gipfel, "terroristische" Gefahren wurden imaginiert und konstruiert. Die Bürger und Bürgerinnen wurden zu verdächtigen Personen. Sie wurden nur noch als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, eines der zentralen Grundrechte im repräsentativen Absolutismus, wurde bis zur Unkenntlichkeit eingeschränkt. In einer Chronologie des demonstrativen Geschehens wird die Geschichte der Protesttage erzählt: Von den Auseinandersetzungen am Rande der Großdemonstration am Samstag in Rostock bis zu den Blockaden am Zaun rund um Heiligendamm während des G8-Gipfels." Das Buch "Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel" ist kürzlich erschienen. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie berichtet über die Demonstrationsbeobachtungen vom 2. - 8. Juni 2007 rund um Heiligendamm (ISBN 978-3-88906-125-6; 192 Seiten, 10 Euro). Siehe dazu:
|