Home > Diskussion > Wirtschaftspolitik > WTO,Seattle, ff. > G8-07 > Grundrechte > komitee2
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Deeskalation als arglistige Täuschung durch staatliche Institutionen - Eine erste Zusammenfassung

Auszug aus "Vorgeschichte: Wie ein Künstenstrich an der Ostsee zur Szene gewaltbereiter Politik werden konnte" (Kap I.5., S. 47ff) aus dem Buch vom Komitee für Grundrechte und Demokratie Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte und Demokratie *

Die polizeiliche "Strategie der Deeskalation" wurde im Zuge der Vorbereitung des Gipfels wie ein Legitimationsteppich ausgerollt. Ihr Gebrauchssinn eignet sich deshalb schon als erste zusammenfassende Notiz zur Vorgeschichte von Heiligendamm.

Schon begrifflich setzt De-eskalation Eskalation voraus. Das Gipfelereignis wurde politisch und polizeilich hochgemotzt.

  • Es wurde präsentiert als Ausdruck politischer Steuerung durch acht in ihrer Macht nur superlativisch kennzeichenbarer Frauen und Männer. Die Agenda der Themen des Gipfels erschien als Etappe auf dem Weg zur Lösung zentraler Weltprobleme: des Klimas; des Hungers; der Ungleichheit zwischen nördlichen und südlichen Ländern; des allen politischen Händen entglittenen globalen Finanzkapitals; der internationalen Sicherheit vor allem im Sinne der Ressourcenkonkurrenz und vor allem des Antiterrorismus u.ä.m.

  • Entsprechend plusterte sich die bundesdeutsche Vorbereitung auf. Die Bundesrepublik präsentierte sich als Mitakteurin der wichtigsten Länder der Globalität, als eine weltweite Politik-, Wirtschafts- und Militärmacht.

  • Rund um den ausgesuchten Gipfelort musste darum "deutsche Ordnung" bereitet werden. Dafür war das größte Polizeiaufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik gerade gut genug.

  • Dieses Polizeiaufgebot, von der Sonderinstitution "Kavala" fast zwei Jahre lang vorbereitet, sollte dafür sorgen, dass Ruhe zur ersten Bürgerpflicht aller BürgerInnen wird, die während der ersten Hälfte des Jahres 2007 nach Mecklenburg-Vorpommern kommen.

  • Der geradezu absoluten Ruhevorstellung rund um den Gipfel entsprechend - damit die Kamingespräche ohne äußerliche Dissonanzen bleiben - wurden die möglichen Gefahren für diese Ruhe von den zuständigen politischen Instanzen und polizeilichen Einrichtungen global riesig an die prognostizierte Wand der Gipfelwirklichkeit gemalt.

  • Dieser entgrenzten Sicherungsspekulation ohne demokratisch und rechtlich sichernde Standards und ohne Erfahrung demonstrierender Wirklichkeiten folgte der quantitative und qualitative Aufbau eines Sicherheitsblocks. Der wurde auf Mecklenburg-Vorpommern, Region Rostock/Doberan konzentriert. Weit über den Sicherheitsblock hinaus wurden im zeitlichen Vorfeld und in der Bundesrepublik insgesamt mit kriminalpolizeilichen, bundesanwaltlichen und verfassungsschützerischen Mitteln vorbeugende Arbeit geleistet, indem die Integrität von BürgerInnen fein- und grobgriffig verletzt wurde.

  • Den schier umfassend projizierten Gefahren entsprechend wurde allgemein nach dem alten deutschen Motto verfahren, wo gehobelt wird, fallen Späne. Weder finanzielle, rechtliche, noch bürgerliche Kosten wurden gescheut.

Kurzum: Globalisierung in Form ihrer angeblich politischen Steuerung ereignete sich in der Bundesrepublik schon im Vorfeld unter der praktischen Perspektive der Veranstalter ohne Bürger. Dass sich dennoch zahlreiche Gruppen und einzelne als potentiell Demonstrierende auf Heiligendamm hin orientierten, zeitigte offiziell nur den Effekt, die Sicherheitsvorkehrungen zu eskalieren. Auf Gruppen und ihre VertreterInnen, die offen darauf ausgingen, den Gipfel als Bezugszeit und -ort von Demonstrationen zu benutzen, wurde in einer Reihe polizeilicher Vorgespräche so einzuwirken versucht, dass die Gipfelruhe nicht gestört würde (der Versuch der Pazifizierung durch Annäherung ohne prinzipielles Entgegenkommen in Sachen Demonstrationsorte und -zeiten).

Diese und andere Facetten und Elemente der offiziellen politisch-polizeilichen Eskalation wurden als "Politik der Stärke" erkannt. Anlässlich der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern verlautbarte der seinerzeit noch bayerische Innenminister Günther Beckstein in Übereinstimmung mit seinen Kollegen laut Kölner Stadt-Anzeiger [Anm]: "Dabei setzt Beckstein auch auf eine ,Deeskalation durch Stärke vor Ort'. Gewaltbereite Demonstranten dürfen gar nicht erst zum Tagungsort gelassen werden, friedliche seien aber ,erwünscht und in Ordnung', meinte der Bayer."

Eine Politik polizeilicher Stärke - das ist die Vorgeschichte des Heiligendammer Gipfels. Die vorweg in "gewaltbereite Täter" und "friedlich Demonstrierende" geschiedenen und zugleich vermengten BürgerInnen hatten am Ort, genauer im weiten Umkreis des Geschehens nur minimal eigenbestimmte Handlungschancen. Dieses factum brutum entsteht nicht primär daraus, dass der G-8-Gipfel als herrschaftliches Datum vorgesetzt worden ist. Dasselbe konnte, so wie etablierte Politik geschieht, nicht diskutiert und bestritten werden. Es war von vornherein klar, dass es nicht möglich sein würde, das Gipfelgeschehen unmittelbar zu beeinflussen. Auch das gemäß Art. 8 GG und seinem normativ-funktionalen Stellenwert im Rahmen repräsentativer Demokratie nötige und mögliche demonstrative Minimum unmittelbar politisch handelnder Bürgerinnen und Bürger wurde jedoch systematisch vorweg eingeengt und beschnitten. Zum ersten durch Gefahrenprognosen, die ohne Vorsicht und die demokratisch grundrechtlich unabdingbare Fähigkeit der Unterscheidung offiziell und öffentlich ganze Gruppen von Menschen und einzelne Personen pauschal als "Gewalttäter" diskriminierten, leichtfertig mit dem schweren strafrechtlichen Geschütz des § 129 a StGB hantierten und alle Demonstrierenden potentiell zu terrorismusverdächtigen "Schläfern" machten. Die Art des politisch-polizeilichen Generalverdachts ist demokratiewidrig. Sie erzeugt schon Gewalt mit Worten, mit Begriffen, in Form von Diskriminierungen, bevor physische Gewalt sich unmittelbar ereignet. Zum zweiten durch geheimdienstlich polizeilich präventive und vorbeugende Maßnahmen, die sich allein vor dem Hintergrund pauschalen Verdachts verstehen. Man wollte nicht tatsächliche und potentielle "Täter" rechtzeitig stellen. Vielmehr wurden "Täter" vorrangig erfunden. Damit man sie finde. Zum dritten durch die enorme Hochrüstung der Polizei mit militärischem Anhang in und rundum Heiligendamm schon Wochen, bevor es losging. Als seien akute Gefahren nicht erkenntlich außer denen, die sich die selbstbezogenen politisch-polizeilichen Instanzen und ihre Vertreter weitsichtig machten. Zum vierten durch das schon lange vorher Schatten werfende systematische Verbot von Demonstrationen an allen Orten und zu allen Zeiten. Sie hätten den in der Heiligendammer Gipfelburg Eingeschlossenen von ferne kosmopolitische Luft zufächeln können.

Anmerkung:

Nr. 125 vom 1.6.2007


Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte und Demokratie

Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte und Demokratie"In Heiligendamm an der Ostsee trafen sich im Juni 2007 acht Politiker und Politikerinnen in einer weiträumig abgesperrten und eingezäunten Hotelburg. Gegen die Politik dieser Repräsentanten der reichen und mächtigen Staaten protestierten zehntausende Bürger und Bürgerinnen vom 2. bis 8. Juni 2007. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie schildert seine Erfahrungen aus den Demonstrationsbeobachtungen auf der Grundlage der Vorgeschichte. Sicherheit galt ausschließlich dem Gipfel, "terroristische" Gefahren wurden imaginiert und konstruiert. Die Bürger und Bürgerinnen wurden zu verdächtigen Personen. Sie wurden nur noch als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, eines der zentralen Grundrechte im repräsentativen Absolutismus, wurde bis zur Unkenntlichkeit eingeschränkt. In einer Chronologie des demonstrativen Geschehens wird die Geschichte der Protesttage erzählt: Von den Auseinandersetzungen am Rande der Großdemonstration am Samstag in Rostock bis zu den Blockaden am Zaun rund um Heiligendamm während des G8-Gipfels." Das Buch "Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel" ist kürzlich erschienen. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie berichtet über die Demonstrationsbeobachtungen vom 2. - 8. Juni 2007 rund um Heiligendamm (ISBN 978-3-88906-125-6; 192 Seiten, 10 Euro). Siehe dazu:


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang