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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Demonstration(en) - Der anhaltende Kampf um Deutungen Auszug aus Einleitung: Notstände, Teil 2 (S. 16 ff) aus dem Buch vom Komitee für Grundrechte und Demokratie Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte und Demokratie * Schon die Gründung des Komitees für Grundrechte und Demokratie (1980) wurde durch die Einsicht motiviert, Grund- und Menschenrechte seien nur dadurch zu schützen, dass man sie praktiziere. Diese Einsicht galt früh dem Recht und der Praxis aller BürgerInnen, für ihre Ansichten, Meinungen, Interessen kollektiv zu demonstrieren. Im "Jahrzehnt der Neuen Sozialen Bewegungen", den 70er Jahren, hatten wir alle erfahren, wie wichtig es um lebendiger Demokratie willen ist, mit einer Vielzahl von Leuten seine Meinungen demonstrativ zu artikulieren. Wir hatten gleichfalls erfahren, dass demonstrative Äußerungen unvermeidlich umstritten sind. Und das in mehrfacher Weise: Umstritten zwischen denjenigen, die sich daran beteiligen, und denjenigen, an deren Adresse sich Demonstrationen in kritischer Hinsicht wenden. Umstritten sind sie auch in ihren Verlaufsformen: ob Interessen und/oder Kritik angemessen oder unangemessen geäußert worden seien; ob ihre Äußerungen anderen BürgerInnen lästig gefallen oder ärgerlich aufgestoßen seien; ob vor allem Sachbeschädigungen geschehen und/oder Gewalt gegen Personen geübt worden seien. Die "Gewaltfrage" begleitet kollektive Äußerungen der Bevölkerung wie ein Schatten, seitdem von solchen gesprochen werden kann. Immer erneut ist hierbei umstritten, was "Gewalt" sei und vor allem, wer sie ausgeübt, wer mit ihr beispielsweise im Sinne des ersten Steinwurfs begonnen habe; ob Demonstrationen unvermeidlich "gewaltförmig" seien und wie gegebenenfalls mit Gewaltäußerungen umzugehen sei. Den Kern der "Gewaltfrage", die Frage in der Frage, bildet die Art und Weise, wie die staatliche Gewaltvertretung, in der Regel die Polizei, eine Demonstration begleitet, eingerahmt, in sie interveniert habe. Es geht darum, wie mögliche Gewalt, die von Teilnehmenden an einer Demonstration ausgeht, mit Gewalt zusammenhängt, die möglicherweise von der Polizei ausgeht. Das Knäuel aus Gewalt und Gegengewalt lässt sich meist ohne Vorurteile nicht sauber kausal aufdröseln. Auch wenn mehrere Personen aus einer gewissen Distanz scharfäugig beobachten, sind Kausalbeschreibungen, à la "X hat Y bewirkt (provoziert, bedroht, verletzt ...) - also war X "gewalttätig", meist nicht möglich. Noch verwirrend-verschlungener jedoch als die Gewaltdynamik vor, während und nach einer Demonstration ist die Berichterstattung über angebliche oder tatsächliche Gewaltvorfälle. Nahezu alle Beobachtenden sind einseitig interessiert. Hier Teilnehmende an Demonstrationen; dort die eingesetzte Polizei und ihre Führungsstäbe. VertreterInnen aller präsenten Medien, sobald eine Demonstration über eine kleine Gruppe von Menschen hinausgeht, sind unvermeidlich überfordert. Vor allem aber erzeugen Gewaltvorfälle bei Unerfahrenen meist ihrerseits unmittelbare Reaktionen. Auch und gerade physische Gewalt wirkt aufgrund ihrer wenigstens scheinbaren Unmittelbarkeit. Mangelnde Übersichtlichkeit und Zurechenbarkeit haben uns als Grundrechtekomitee veranlasst, Demonstrationsbeobachtung als eine unserer wichtigsten grund- und menschenrechtlich aktiven Aufgaben zu betrachten. Seit unserer ersten genauen Beobachtung der Großdemonstration zu Brokdorf im nasskalten Februar 1981, haben wir viele Demonstrationen mit zehn und mehr BeobachterInnen begleitet. Hierbei waren und sind wir durchgehend Partei und Nichtpartei. So sehr wir mit dem Ziel einer Demonstration als Komitee oder individuell sympathisieren mögen: unsere Sympathie, unsere Leidenschaft gilt dem Grundrecht auf Demonstration an erster und im Konfliktfall an exklusiver Stelle. (Von Sympathie mit der Sache oder den Veranstaltenden konnte bei beobachteten NPD-Demonstrationen gewiss nicht die Rede sein.) Wir versuchen, den Verlauf einer Demonstration en gros und en detail so ding-, sprich verlaufs- und personenfest zu machen wie möglich. Das heißt allerdings auch, dass wir der Einstimmung polizeilichen Handelns (und publizistischer Äußerungen) im Vorfeld, wie polizeilichem Tun im Kontext einer Demonstration ebenso kritisch folgen wie dem Verhalten von Teilnehmenden an einer Demonstration. Der staatliche Anspruch auf das "Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" legitimiert selbstredend nicht jeden aktuellen Einsatz von Organen und Vertretern dieses Monopols - oder seine politische Rechtfertigung durch den verantwortlichen Repräsentanten, etwa den Innenminister. Gerade wenn man im Rahmen eines demokratischen grundrechtlichen Verfassungsstaats die Legitimität prinzipiell unterstellt, muss der aktuelle Einsatz der Monopolorgane und seiner VertreterInnen umso genauer und penibler an den Grundrechten gemessen und verfolgt werden. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG, unterscheidet sich von den meisten anderen zentralen Grund- und Menschenrechten, wie sie im Grundgesetz normiert sind, durch zwei zusätzliche Elemente: Erstens ist es ein individuelles Bürgerrecht, das aber die politische Brücke zu anderen BürgerInnen schlägt und in diesem Sinne zugleich ein kollektives Bürgerrecht ist. An diese Eigenschaft ist das zweite zusätzliche Element geknüpft: Mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, prinzipiell jederzeit und überall, ist ein radikaldemokratischer Stachel ins Fleisch repräsentativer Demokratie transplantiert worden. Das Grundgesetz der BRD ist ansonsten in Form eines "repräsentativen Absolutismus" angelegt (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG). Ein solcher "Absolutismus", nämlich durchgehender Vertretung für "das Volk" und keiner Handlung und Mitbestimmung durch "das Volk" (zutreffender und grundrechtsgemäßer "die Bevölkerung") ist selbst repräsentativdemokratisch fragwürdig. Er beließe außerdem die repräsentative Demokratie ohne von Verfassung vorgesehene "populistische" Unruhe. Darum kommt demokratietheoretisch und demokratiepraktisch gerade im Rahmen liberaldemokratischer Verfassung dem uneingeschränkten Demonstrationsrecht ein solch enormer Stellenwert zu. Darum ist und bleibt es besonders umstritten. Repräsentativ absolutistisch lässt sich bequemer leben als von demonstrativen Nadelstichen aus der Bevölkerung beunruhigt. Nur grundgesetzgemäß, im Sinne eines Verständnisses von Art. 8 GG als prinzipiell alle gegebenen Gesetze durchdringende Norm, ist solche Bequemlichkeit nicht zu rechtfertigen. Dieses aktive radikaldemokratische Verständnis, prinzipiell uneingeschränkt, bildet den Maßstab und die Perspektive der Beobachtung und der Beurteilung des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Das Ereignis G8-Gipfel Heiligendamm Anfang Juni 2007 hat aufgrund seiner internationalen Anlage, seiner mehrtägigen Dauer und seiner umstrittenen Thematik unvermeidlich die üblichen Dimensionen von Großdemonstrationen gesprengt. Noch am ehesten ähneln den Ereignissen das tagelange demonstrative Geschehen rund um die Atommüll-Transporte nach Gorleben. Ihnen fehlt jedoch (unbeschadet der deutsch-französischen Grenzüberschreitung) der internationale Zuschnitt. Wie die Großdemonstrationen seit Seattle im November 1999 versuchten die Großdemonstrationen um Heiligendamm, das Unmögliche zu ermöglichen: Globalisierung bürgerbewegt und bürgerbeteiligt zu lokalisieren. Sie konnten dies tun, weil die am G8-Gipfel beteiligten StaatsvertreterInnen gleicherweise versuchten, ein Stück der Globalisierung und der "Niemandsherrschaft" des Weltmarkts wenigstens personal-symbolisch zu orten. Die eingangs skizzierte strukturelle Voraussetzung aller Geschehnisse, Einschätzungen und Urteile rund um Heiligendamm bestand aber darin, dass die Bundesregierung und ihre Konnexinstitutionen nicht einmal versuchten, repräsentativdemokratische Formen in Richtung Heiligendamm zu kreieren. Sie hätten die Korrektur des Versammlungsrechts ernst nehmen müssen. Stattdessen haben sie globale Niemandsherrschaft mit acht Namen und ihren Stäben versehen, die Bevölkerung jedoch, global konsequent, soweit irgend möglich ausgeschlossen. Der Kampf fing bereits an, als die Bundesregierung Ende 2004/Anfang 2005 entschied, den Staffelstab der G8-Gipfel, den sie turnusgemäß erneut übernommen hatte, nach Heiligendamm zu tragen. Der "Kampf um die Deutungshoheit" begann.[Anm] Zu diesem "Kampf" will das Komitee mit diesem Beobachtungsbericht seinen Beitrag leisten. Er beginnt schon mit dem Ausdruck "Deeskalation", dem geflügelten Wort, das nicht nur der "Kavala"-Leiter ständig im Munde führte, sondern das rund um Heiligendamm noch und noch wiederholt wurde. Hier handelt es sich mitnichten, wie das Gespräch mit dem Münchner Polizeipsychologen Georg Sieber den Anschein erweckt, bloß um ein "paradox gebildetes Neuwort". Es geht vielmehr um eine paradoxe Realität: Die paradoxe Verhaltensbezeichnung bildet das ab, was die Bundesregierung und ihre Kohorten getan haben. Erste Voraussetzung - bis in die Allgemeinverfügung von "Kavala", noch Anfang Juni wiederholt (und von den Gerichten meist "geglaubt") - war die Mär: Ungeheure Gefahren drohten dem Gipfel und seinen acht RepräsentantInnen. Darum müsse alles im Vor- und Umfeld getan werden, sie in den staatlichen Gewaltgriff zu bekommen. Wenigstens 16.000 PolizeibeamtInnen bräuchte man. Die Bundeswehr müsse Amtshilfe leisten. Tornados könnten endlich, statt ins Ausland, über Mecklenburg-Vorpommern geschickt werden. Demonstrationen seien allgemein zu verbieten. Ein hoher Zaun sei zu errichten. Dieser sei zusätzlich bürgerfrei zu umgürten u.ä.m. Nachdem solcherart eskaliert worden war, war es eingängig und in jedem Fall publizistisch geschickt, von Deeskalation zu reden. Die eskalierende Praxis war längst geschehen. Der Gipfel mitsamt seiner Aura der terroristischen Gefährdung war erstiegen. Nun konnte gemächlich je nach Umständen ein Stückweit talwärts geschritten werden. Sonst wäre die Ruhe nach dem gemachten Sturm zu laut gewesen. Kurzum: Wir treten aufgrund unserer Beobachtungen in den Kampf um die "Deutungshoheit" ein. Das, was wir dabei bieten können, ist Wahrhaftigkeit: In Sachen der jeweils angegebenen Qualität unserer Informationen; in Sachen der Stimmigkeit unseres Urteilsmaßstabs, wie er oben in Richtung des Tandems Menschenrechte/Grundrechte und Demokratie avisiert worden ist. Anmerkung: s. "Deeskalation ist ein paradox gebildetes Neuwort". Ein Gespräch mit Georg Sieber, in: "die tageszeitung" (taz) vom 6.6.2007 Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte und Demokratie "In Heiligendamm an der Ostsee trafen sich im Juni 2007 acht Politiker und Politikerinnen in einer weiträumig abgesperrten und eingezäunten Hotelburg. Gegen die Politik dieser Repräsentanten der reichen und mächtigen Staaten protestierten zehntausende Bürger und Bürgerinnen vom 2. bis 8. Juni 2007. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie schildert seine Erfahrungen aus den Demonstrationsbeobachtungen auf der Grundlage der Vorgeschichte. Sicherheit galt ausschließlich dem Gipfel, "terroristische" Gefahren wurden imaginiert und konstruiert. Die Bürger und Bürgerinnen wurden zu verdächtigen Personen. Sie wurden nur noch als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, eines der zentralen Grundrechte im repräsentativen Absolutismus, wurde bis zur Unkenntlichkeit eingeschränkt. In einer Chronologie des demonstrativen Geschehens wird die Geschichte der Protesttage erzählt: Von den Auseinandersetzungen am Rande der Großdemonstration am Samstag in Rostock bis zu den Blockaden am Zaun rund um Heiligendamm während des G8-Gipfels." Das Buch "Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel" ist kürzlich erschienen. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie berichtet über die Demonstrationsbeobachtungen vom 2. - 8. Juni 2007 rund um Heiligendamm (ISBN 978-3-88906-125-6; 192 Seiten, 10 Euro). Siehe dazu:
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