letzte Änderung am 17. Februar 2004

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Schöne Zitate – bescheidene Realität

Noch eine Polemik gegen Floskeln, Sonntagsreden und potemkinsche Dörfer von Hubert Herfurth*

Lag der Tie/express-Konferenz ein Bedauern über das Schwinden der Großbetriebe als Basis ge-werkschaftlicher Organisierung zu Grunde? War »unser aller Verhalten« in den letzten 30 Jahren von Erfolglosigkeit gekennzeichnet? Hat »die Bewegung nach Marx« das historische Subjekt ignoriert? Hat »die Linke« sich aufgrund der Schwäche der Arbeiterbewegung dazu verleiten lassen, emanzipa-torische Ansprüche zu Macht- bzw. »militärischen« Fragen umzudeuten? Und für was steht denn nun John Holloways allerorten zitierter »Schrei« als Anfang aller Bewegung? Fragen über Fragen. Trotz innerredaktioneller Diskussionen über die Triftigkeit der Kritik von Hubert Herfurth an dem Beitrag von Jens Huhn in der letzten express-Ausgabe haben wir uns entschlossen, diese Einwände abzudrucken. Antwort folgt.

Die Einleitung zur TIE/express-Konferenz von Jens Huhn im letzten express (11-12/2003) fordert zum Wi-derspruch heraus. Nicht so sehr wegen der vorgetragenen Inhalte selbst, eher wegen der weitestgehend ausgeblendeten Realität, aber irgendwie hängt das natürlich zusammen. Dabei geht es mir weniger um die im express öfter vorgetragenen, aber noch nie wirklich eingelösten Ansprüche, wie z.B. der Satz von Kirsten Huckenbeck »uns interessiert vor allem, wie andere dieses (express) Projekt sahen und heute sehen« (11-12/2002) oder Wolfgang Schaumbergs ›Beschwerde‹, dass in dieser Bewegung »fast alles umstritten ist, aber um nichts gestritten wird« (2/2001). Dieser Art plakativer, aber folgenloser Selbstkritik setzt das Marx-Zitat in der Einleitungsrede von Jens Huhn ja nur die Krone auf: »Proletarische Revolutionen (...) kritisieren beständig sich selbst...« (S. 12). Und da die Revolutionen es machen, müssen die RevolutionärInnen keine unnütze Arbeit darauf verschwenden, so ließe sich hier etwas polemisch schlussfolgern. Gott sei Dank kann der Übervater ja keinen mehr zur Rechenschaft ziehen, der in seinem Namen die unsinnigsten Sachen er-zählt und sich mit den fremdesten Federn schmückt. Ein jüngstes Gericht ist hier ja definitionsgemäß ausgeschlossen.

Aber bleiben wir bei der Kritik, die ja noch eine ganz andere Seite hat:
Kritik muß nämlich gar nicht (sprachlich) formuliert werden, weder von einem selbst noch von anderen. Unser Tun ist ja praktisch, letztlich sogar beim Aufstellen von (theoretischen) Thesen über die Welt. Und aus dieser Praxis kommen auch die wichtigsten Rückmeldungen, ob unser Tun Hand und Fuß hat, ob die Thesen falsch oder richtig sind, ob etwas funktioniert oder nicht. Das heißt dann zwar nicht Kritik, es ist aber eine, und wir haben nur die Möglichkeit, uns dazu vernünftig oder unvernünftig zu verhalten. Unvernünftig hieße, diese Kritik zu ignorieren und mehr oder weniger so weiter zu machen wie zuvor. Im richtigen Leben hat so ein Verhalten nicht lange Bestand, aber in unserer Bewegung scheinen andere Gesetze zu gelten. Die Problemklärung etwa durch ein Marx-Zitat anzusprechen, erscheint hier z.B. wie die Bearbeitung des Problems selbst.
Wenn ich nun behaupte, dass unser aller politisches Verhalten in den letzten 30 Jahren sich vor allem durch seine Erfolglosigkeit auszeichnet (wenn das Desaster denn einen positiven Namen haben soll), wird mir kaum jemand widersprechen können. Aber statt sich zu fragen, wo die Gründe für diese Erfolglosigkeit liegen, ob diese also etwas mit der beschriebenen Problembearbeitung zu tun haben, werden auf dem Markt der politischen Möglichkeiten eifrig die »neuen Bewegungen« registriert: »Es ist wieder leichter geworden, über radikale emanzipatorische Kritik an den bestehenden Verhältnissen und über Internationalismus zu sprechen. Noch vor 10 Jahren schien das aus den meisten oder zumindest den vorherrschenden politischen Auseinandersetzungen verschwunden zu sein (vom endgültigen ›Proletariat adieu‹ bis zum ›Ende der Geschichte‹ etc.). Dies verdankt sich sicher«, und nun zählt Jens Huhn die »globalisierungskritische Bewegung«, wie sie sich etwa bei den zentralen Tagungen von WSF oder ESF darstellte, und die »jüngsten Be-wegungen etwa in Argentinien, Bolivien« sowie die »zahllosen Arbeitskämpfe« in allen möglichen Sektoren, wo die »klassische Anschauung sie nicht vermutet hätte«, zusammen, um zu einer passablen, aktuellen Situationseinschätzung zu kommen (alle Zitate, S. 11). Aber wo bleibt der Blick auf das eigentliche Subjekt: »die ungeheure Mehrzahl«, von der etwa das Kommunistische Manifest spricht (MEW 4, S. 472) und ohne die eine wirkliche Veränderung kaum vorstellbar ist?
Die Bewegung nach Marx hat dieses Subjekt so gut wie unberücksichtigt gelassen, das Problem ist damit letztlich auf eine militärische Frage reduziert worden. Noch im TIE-Papier zur Vorbereitung der Konferenz 1997 »Elemente einer neuen Arbeiterbewegung« heißt es: »Die westeuropäischen Arbeiterbewegungen waren eine ›nationale‹ Macht, sie besaßen einen gewerkschaftlichen und politischen Arm, ihre Machtbasis war der industrielle Großbetrieb mit Massenproduktion« (S. 1). Für die hier noch durchscheinende, die Ge-schichte des Kommunismus maßgeblich bestimmende, militärische Problemausrichtung – die sich in ihren Grundlagen selbst bis zum Kommunistischen Manifest zurück verfolgen lässt – ist die »ungeheure Mehrzahl« natürlich kein Problem, wenn die relative Stärke denn punktuell einmal reicht – zur Machtergreifung eben. Militärisch lässt sich »die ungeheure Mehrzahl« durch eine schlagkräftige Organisation und eine entsprechende Taktik ganz einfach ersetzen. Die tendenzielle Auflösung der Großbetriebe mit ihren hohen Beschäftigungszahlen konnte innerhalb dieses bornierten Problembewusstseins nur als Schwächung der Klassenkraft verstanden werden und wird es weitestgehend heute noch. Auch wenn diese Kräfte immer sofort ins Schwimmen kommen, wenn sie angeben sollen, was mit dieser Macht praktisch anzufangen sei. Schlagend hier das Gespräch des express mit Wolfgang Schaumberg in der bereits erwähnten Geburts-tagsnummer 11-12/2002. Eine relativ scharfe Polemik gegen das Co-Management bricht in sich zusammen, wenn es um die grundlegenden Alternativen geht, ohne dass die Beteiligten den Widerspruch überhaupt bemerken, »weil wir selbst ja gar nicht wissen, wo wir hin wollen« (S. 2).

Unbehindert durch diese Schwierigkeiten und ohne jeden inneren Bezug zu seinem eigenen, gar nicht so verkehrten »Blick auf die Umstände« (S. 11) spinnt Jens Huhn seinen Faden weiter, und die Überraschung ist groß ob der Herkömmlichkeit seiner Argumentation, sie erscheint mir wie von vorgestern: »Die weltweit vom Kapital neu formierte und subsumierte Arbeiterklasse ist allerdings von einer selbstbewussten, kapita-lismuskritischen Klasse weit entfernt. Es scheint ihr vor allem an einer entsprechenden internationalen Organisation zu fehlen« (S. 11). Wie kann das Hauptproblem in der Organisation liegen, wenn es um die Inhal-te in den Köpfen geht?

Als Marx im Kommunistischen Manifest die Stärke der Arbeiterklasse in einer bestimmten, betrieblichen Organisation vermutete (»Zusammendrängung in größeren Massen«, MEW 4, S. 470 und S. 493), war er m.E. geblendet von den Zeitereignissen und einem gewissen jugendlichen Überschwang. Sowohl die Zeitereignisse als auch der Überschwang hielten in ihrer Wirkung nicht lange vor. Das war, wie die sozialöko-nomische Analyse des Kapitals zeigte, auch nicht weiter schlimm, ergibt sich die wahre Stärke der proletarischen Bewegung doch aus mehreren Faktoren, die eine militärische Komponente allerhöchstens am Rande bedingen:

  1. Sie stellt die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung im Sinne der sich immer noch ausdehnenden Lohnarbeit.
  2. Diese Mehrzahl hat eine Stellung im Produktionsprozess inne, die es ihr ermöglicht, die Produktion ohne das Kapital zu organisieren, eben in freier Assoziation der betroffenen Individuen.
  3. Die Arbeitsproduktivität ist zumindest in den Metropolen inzwischen so weit entwickelt, dass der Mangel kein Argument mehr für die Spaltung der Gesellschaft darstellt, eine geänderte Produktionsweise vorausgesetzt.
  4. Betreffen die Widersprüche dieser Produktionsweise letztlich die gesamte Gesellschaft, da es wesentlich um Strukturen und die mit ihnen verbundenen, ökonomischen Gesetzmäßigkeiten geht und nicht um Personen.

Der »Schrei« etwa, wie Holloway den Ausgang des Problems formuliert, ist unbegrenzt, er betrifft alle, wird von allen geschrieen (Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002). Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist kein äußerer, er ergibt sich aus der Arbeit selbst und kann auch nur aus ihr heraus beseitigt werden. Im Mittelpunkt einer Lösung jenseits der Verwertung des Werts steht also die selb-ständige Organisation der Produktion durch »die ungeheure Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehr-zahl« und sonst nichts! Diese Gesellschaft muss sich also neu organisieren, sie muss zu einer völlig neuen Gesellschaftlichkeit finden, in der die Individuen lernen, Verantwortung in einem viel höheren Grad als heute für einander zu übernehmen. Methoden müssen gefunden werden, wie Auseinandersetzungen in produkti-ver Weise geführt werden können. Und dieser Prozess beginnt hier und heute und nicht irgendwie nach einer ominösen Machtergreifung.

Schauen wir auf die Kämpfe bei McDonalds in Paris oder auf die Ereignisse bei Lidl und Aldi hier: ›Wir‹ arbeiten dort, und ›Wir‹ kaufen dort ein. Aber es ist ein zerrissenes ›Wir‹, ein ›Wir‹, das nichts von sich weiß. Das ganze Gejammer über prekäre Arbeitsbedingungen fände ein schnelles Ende, wenn das ›Wir‹ von sich wüsste und sich entsprechend verhielte. Wenn ›wir‹ – wie Jens Huhn hier vorgibt, wirklich eine »andere Gesellschaft wollen«, dann sollten wir daran gehen, eine solche zu errichten (S. 12). Aber fängt das nicht damit an, dass wir uns ernst nehmen und uns nicht gegenseitig mit Zitaten langweilen, an die sowieso niemand glaubt? »Es kommt uns weniger darauf an, den Herrschenden einen gehörigen Schrecken einzujagen und damit in die Medienöffentlichkeit zu gelangen, auch wenn man nicht verkennen sollte, dass damit die ideologische Hegemonie dieser Herrschenden angegriffen wird« (S. 12).

Das Spielen mit den unbegriffenen Schwachstellen des Kommunistischen Manifestes (»ein Gespenst geht um in Europa« ist immer als Kriegserklärung im Kampf zwischen Gut und Böse verstanden worden und entzog damit die ökonomischen Strukturen der Kritik) aus der Position der absoluten Schwäche ist entweder hochnotpeinlich (denn rückblickend haben schließlich schon ganz andere Kräfteverhältnisse hier nichts Gu-tes bewirkt) oder Kalkül einer Interessenlage, die die eigenen, speziellen Managerfunktionen im Dunstkreis der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit absichern will. Schein statt Sein. Oder sollte 155 Jahre nach dem Kommunistischen Manifest immer noch nicht klar sein, dass die Schwächung der Kapitalverwertung nur durch die Kompetenz der »ungeheuren Mehrzahl« hergestellt werden kann, indem sie die Vergesellschaftung direkt organisieren will? Es ist Zeit, sich klar zu machen, dass es nicht gegen die berühmten Massen spricht, dass sie uns nicht gefolgt sind und immer noch nicht folgen. Es spricht nur gegen uns. Denn wir sind nicht das, was wir vorgeben zu sein: Wenn wir keinen Streit produktiv führen können, geben wir zu erken-nen, dass wir zu einer sozialeren Organisation dieser Gesellschaft nichts beitragen können. Und wenn wir als von einander unabhängige Warenbesitzer auftreten, dann sollten wir uns nicht wundern, wenn unsere Kritik an der Verwertung nicht allzu ernst genommen werden kann. Eine neue, eine bessere Gesellschaft ist so wirklich nicht zu gewinnen – da hat die »ungeheure Mehrzahl« absolut recht, wenn sie von der nur scheinradikalen Phrasendrescherei auch weiterhin nichts wissen will!

* Der Autor arbeitet nicht als Architekt, wie wir irrtümlich im letzten express angegeben hatten, sondern als Bauplaner im östlichen Ruhrgebiet

erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/04

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