letzte Änderung am 7. Januar 2004

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Programmatik der Maulwürfe

Einleitungsbeitrag zur TIE/express-Konferenz von Jens Huhn

Vom 27. bis 30. November 2003 fand die fünfte internationale TIE/express-Konferenz in Oberwesel statt. Für eine Zusammenfassung der Vorträge, Ergebnisse bzw. Ereignisse in dieser Ausgabe hat die Zeit nicht mehr gereicht – das holen wir nach. Im Folgenden jedoch die ausführliche Fassung der einleitenden Worte zur Konferenz von Jens Huhn.

 

Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.

Adorno

 

Ein kurzer (und notwendig unvollständiger) Blick auf die Umstände, unter denen diese Konferenz stattfindet:

Der gegenwärtig fortschreitende Prozess der Konzentration, Zentralisierung und Internationalisierung des Kapitals ist eine Antwort auf sinkende Durchschnittsprofitraten und verschlechterte Wachstumsbedingungen. Zu den veränderten Rahmenbedingungen gegenwärtiger Kapitalakkumulation gehört zudem eine rapide Verknappung wichtiger Ressourcen. Zugleich hat sich die politische Macht des Kapitals unerhört verstärkt.

Die »neue Weltordnung« ist gekennzeichnet durch zunehmende Repression, Sozialabbau (dort, wo es etwas abzubauen gibt), Entdemokratisierung (dort, wo es so etwas Ähnliches wie Demokratie gab), durch einen ideologischen Neokonservativismus und einen neuen kriegerischen Imperialismus.

Über die Internationalisierung des Kapitals, die Neustrukturierung der Produktion (Lean Production, neue Technologien) sowie die Expansion des Agrarkapitals und die damit verbundene millionenfache Vernichtung bäuerlicher Existenzen ein weltweiter Arbeitsmarkt entstanden. Er ist gekennzeichnet durch die Entwicklung eines wachsenden »Billiglohnsektors« mit einer äußerst – auch räumlich beweglichen – großen »Reservearmee«. Diese Sektoren sind nicht mehr regional auf die so genannte 3. Welt oder »unterentwickelte Regionen« innerhalb der alten Metropolen begrenzt. Auch finden sie sich keineswegs mehr allein in den »klassischen Leichtindustrien« (Textil, Nahrungsmittel etc.). Längst schon wurde auch die für die großen Konzerne strategisch wichtige Produktion in »gewerkschaftsfreie« Zonen und in Gebiete mit repressiven politischen und juristischen Regimes verlagert.

Es entsteht eine in ihrer Zusammensetzung neue Arbeiterklasse. Die Existenz eines internationalen Arbeitsmarktes bedeutet, dass die jeweiligen Umstände für die Arbeiterklasse weniger vereinheitlicht sind denn je. Die heutige Arbeiterklasse reicht von Emigranten, Tagelöhnern, Heimarbeitern bis hin zum Facharbeiter und proletarisierten »Kopfarbeiter« – und sie ist mehrheitlich weiblich. Es herrschen enorme Unterschiede in der allgemeinen Lebenslage, hinsichtlich der politischen und kulturellen Traditionen und im Selbstbewusstsein. Künstliche Hierarchisierung, Sexismus und Rassismus verstärken in den Köpfen diese Fragmentierungen und heizen die Konkurrenz an.

Gewerkschaften vertreten dabei heute weltweit nur noch eine Minderheit der Arbeiterklasse. Auch dort, wo sie zahlenmäßig noch relativ stark sind, haben sie ihre herkömmlichen Waffen stumpf werden lassen. In ihrer jetzigen Form sind sie überwiegend Kinder der vergehenden Epoche. Bei ihren im abgelaufenen Zeitalter der »Kompromissbereitschaft« ausgebildeten Organisationen, Strategien und ihren Öffentlichkeitsformen handelt es sich im Wesentlichen um zentralisierte »Stellvertreterveranstaltungen«, die den aktuellen sozialen und politischen Rückschritt kaum mehr aufzuhalten vermögen. Auch die altehrwürdige strategische Entscheidung, »Arbeiterparteien« die politische Offensive anzuvertrauen, hat durch deren Entwicklung zu »Parteien der Mitte« keine Grundlage mehr. Als solche sind diese Parteien manchmal sogar die treibende Kraft bei der neoliberalen »Entstaatlichung und Deregulierung der Ökonomie«. Überhaupt ist die nationale Staatsmacht als wesentlicher Bezugspunkt im langfristigen strategischen Kalkül der Arbeiterbewegung (die Eroberung der Staatsmacht war für viele die Bedingung der sozialen Revolution, Staatsmacht war empfänglich für »Reformdruck« etc.) durch die Internationalisierung des Kapitals und die zunehmende Dezentralisierung der Produktionsketten fragwürdig geworden.

Neue Bewegungen

Es ist wieder leichter geworden, über radikale emanzipatorische Kritik an den bestehenden Verhältnissen und über Internationalismus zu sprechen. Noch vor zehn Jahren schien das aus den meisten oder zumindest den vorherrschenden politischen Auseinandersetzungen verschwunden zu sein (vom endgültigen »Proletariat adieu« bis zum »Ende der Geschichte« etc.). Dies verdankt sich sicher

In den gegenwärtigen Formen von Protest und Widerstand sind zwei Stoßrichtungen zu unterscheiden. Protestiert wird gegen den radikalen Abbau eines zuvor erkämpften Fortschritts. Protestiert wird aber auch gegen die Zumutungen der Lohnarbeit dort, wohin man sie aus Kostengründen auszulagern versucht (in gewerkschaftsfreie Zonen, Billiglohnländer etc.). In diesen Bewegungen kommt zum Ausdruck, dass ein nicht mehr sozial »abgefederter« Kapitalismus deutlich an Legitimation verliert (in der öffentlichen Diskussion überwiegt allerdings bei weitem der Ruf nach einer neuen Zähmung des Kapitalismus).

Grundsätzliche theoretische Annahmen

Die weltweit vom Kapital neu formierte und subsumierte Arbeiterklasse ist allerdings von einer selbstbewussten, kapitalismuskritischen Klasse weit entfernt. Es scheint ihr vor allem an einer entsprechenden internationalen Organisation zu fehlen. Organisationen sind jedoch keine zeitlosen Modelle, von denen man sich nur das richtige aussuchen muss. Sie sind nicht austauschbar, sondern an spezifische historische Erfahrungen gebunden, halten diese fest, um sie immer wieder neu zu überprüfen. Es gibt die große alle umfassende neue Internationale nicht, es gibt aber doch organisatorische Kerne. Einer davon ist TIE mit seinen Pro-jekten, andere sind jene international arbeitenden betrieblichen und sektoralen Netzwerke, mit denen TIE kooperiert. Alles Organisieren beginnt mit der Anstrengung, Erfahrungen zu verallgemeinern, sie zu Erfahrungen von anderen zu machen, sie in die Form einer Theorie zu bringen, die die Praxis anleiten kann. Wir wollen auf dieser Konferenz in einem solchen Prozess zu einem Fortschritt mit denen kommen, mit denen wir bereits zusammenarbeiten. Wir wollen aber auch mit der Reflexion neuer und anderer Erfahrungen, die im Zusammenhang mit TIE noch nicht so deutlich vorkamen, beginnen. Die Arbeit in den Projekten ist zumeist bestimmt von Tagesfragen und der Diskussion über praktische Anforderungen. Eine grundsätzliche politische Diskussion ist bislang eher selten. Wir wollen auf dieser Konferenz daher die Gelegenheit dazu benutzen. Bei allem, was wir hier berichten, sollte es uns nicht so sehr um Erfolgsgeschichten gehen, auch wenn man die immer wieder zur Ermutigung braucht. Wir sollten uns eher leiten lassen von dem, was Karl Marx – zugegeben etwas drastisch-pathetisch – über den Fortschritt der Organisierung in der Arbeiterklasse gesagt hat: »Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke...« (Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 118) Wir sollten uns aber auch nicht einschüchtern lassen: Es geht darum, dass wir unsere Erfahrungen wert schätzen, auch wenn sie angesichts des ›Weltbrands‹ noch so klein und widersprüchlich erscheinen mögen; es geht darum, mit der Konferenz ein Forum zu ermöglichen, in dem ein Austausch über vielfältige internationale ›Widerstandspraxis‹ stattfindet und in dem wir voneinander erfahren und lernen.

Wir wollen den Prozess beginnen, indem wir einige sehr grundsätzliche theoretische Annahmen darlegen, die die Arbeit von TIE bestimmen. Sie entstammen aus Erfahrungen, die wir in TIE, aber auch außerhalb gemacht haben (ja, es gab ein Leben vor TIE, es gibt ein Leben außerhalb von TIE). Wir wollen dabei aber auch nicht verbergen, dass die Theorien von Marx, Rosa Luxemburg – um nur die beiden »Klassiker« zu nennen – uns am brauchbarsten erscheinen, diese Erfahrungen auf den Begriff zu bringen. Theoretische Annahmen sind immer auch Ansprüche, die es überhaupt erst einzulösen gilt. Überwiegend enthalten sie mehr Fragen als Antworten. Immer müssen sie weiterentwickelt werden.

1.

Der Kapitalismus ist ein menschenfeindliches System mit begrenzter Lebensdauer. Wir sollten bei der Suche nach einer ›freieren und gerechteren Welt‹ nicht zu früh aufhören, Fragen zu stellen und zu suchen. Trotz der Schwierigkeit, was dies über die Kritik der bestehenden Verhältnisse hinaus heißen mag, geht es darum, dass wir mehr als gute Gewerkschaftspolitik wollen. Mehr als bloße Reform bestehender Herrschaftsverhältnisse. Wir wollen eine andere Gesellschaft, in der Arbeit und gesellschaftliche Bedürfnisse anders organisiert und produziert werden und Herrschaftsverhältnisse tatsächlich abgeschafft sind. Es geht darum, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtlichtes Wesen ist« (Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie MEW 1, S. 385) und für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Ausgrenzung zu kämpfen, in der Menschen in Anerkennung ihrer Würde und Freiheit ihr Leben aktiv zu entwerfen und zu bestimmen in der Lage sind. Wir sind zuversichtlich, dass das Bedürfnis nach einer solchen Gesellschaft zwar vielfach verschüttet werden kann, aber nicht wirklich auszurotten ist.

2.

Wir denken nicht, dass es einen geheimen, objektiven Fahrplan zu dieser Gesellschaft gibt, der von Experten und Wissenden entdeckt und vollstreckt werden muss oder sich gar (wie es deutsche Sozialdemokraten einmal in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts dachten) von selbst vollzieht. Die andere Gesellschaft entwickelt sich aus den Interessen, Bedürfnissen und Erfahrungen der Menschen selbst. Das Ende der Geschichte von Unterdrückung und Ausbeutung kommt nicht wie die Morgenröte nach der Nacht, sondern aus bewusster verändernder menschlicher Praxis. Eine solche verändernde Praxis ist Bewegung, die von der Selbsttätigkeit und Selbstorganisation der Individuen ausgeht. Dabei werden Erfahrungen gefördert, durch die bisherige Deutungen von sich und der Welt und alte Handlungsmuster aufgebrochen, neue erkannt werden; Erfahrungen, die über die Grenzen des Lohnverhältnisses hinaus weisen und andere Möglichkeiten menschlicher Beziehungen aufscheinen lassen. Politik wird dabei als ein Prozess verstanden, bei dem wir über die Selbst-Organisation und Selbst-Tätigkeit mit Anderen politisches Bewusstsein, Selbstvertrauen und Solidarität entwickeln. Es geht darum, ein Stück neue Gesellschaft, anderes Leben in der alten Gesellschaft zu erfahren. Selbsttätige Praxis steht dabei gegen eine traditionelle politische Praxis der Repräsentation, sei es im Betrieb, in der Gewerkschaft oder der politischen Partei. Sie steht gegen eine Praxis, bei der Demokratie und Basisorientierung zwar aus taktischen Gründen auf die Fahnen geschrieben wird, in Wirklichkeit aber immer versucht wird, Erfahrungen und Praxisformen von oben aufzustülpen, Probleme von oben zu definieren und für andere zu regeln (und auch dies manchmal nur scheinbar). Selbsttätigkeit betont dagegen den Vorrang der Lernprozesse in Bezug auf die zu verändernde Praxis.

3.

Die Arbeit von TIE ist internationalistisch. Dabei versteht TIE sich aber nicht als eine Art »ideeller Gesamtaußenminister« der Projekte, mit denen wir zusammenarbeiten. Die Arbeit von TIE ist immer lokal verankert. Von dort aus werden internationalistische Perspektiven entwickelt. Worum geht es dabei? Um Solidarität und praktische internationale Zusammenarbeit. Im Gegensatz zur allgemeinen Rhetorik ist internationale Solidarität in der Arbeiterbewegung und in der Gewerkschaftsbewegung keine Erfolgsgeschichte. Solidarität bleibt vielfach auf Demoaufrufe, Bankettreden etc. beschränkt. Internationale Zusammenarbeit beschränkte und beschränkt sich vielfach auf paternalistische ›Armenhilfe‹. Internationalismus war oft genug Identifikation oder Mythologisierung. Was man im eigenen Land nicht erreichen kann, wird auf andere Wirklichkeiten projiziert (in den Solidaritätsbewegungen zu Italien in den 70ern, zu der lateinamerikanische Guerilla, bis hin zu den Zapatistas). In TIE geht es uns aber darum, lebendige internationale Beziehungen aufzubauen und zu unterstützen, die sich entwickeln und sich nicht auf ›gewerkschaftliche Ziele‹ im engeren Sinn beschränken, sondern auf Befreiung und die Einrichtung einer gleichen und solidarischen Gesellschaft gerichtet sind: In ihr geht es um die Bemühung, gemeinsame Interessen zu formulieren (oder auch gegenseitige Hilfe zu üben) und immer auch darum, die jeweils eigenen Verhältnisse zu verändern.

4.

Der Gegensatz von Kapital und Arbeit zeigt sich nicht nur an den Produktionsstätten, sondern im gesamten Leben der Lohnabhängigen. Die bestehende Herrschaft greift nicht nur auf Fabriken oder Büros zu, sondern auch auf die Gemeinde, Familie, Freizeit, Ausbildung, Sexualität etc. Hier setzen alle möglichen Spaltungen an. Nicht zuletzt hier (und eben nicht nur in der Produktion) kommt es zu Interessenkonflikten und Zusammenstößen, in denen alle möglichen chauvinistischen, sexistischen und rassistischen Einstellungen entstehen, gefördert werden und sich verfestigen können. Konflikterfahrungen aus dem gesamten Lebensbereich der Lohnabhängigen müssen deshalb unbedingt in unsere Reflexion und unsere politische Praxis einbezogen und nicht als »Nebenwidersprüche« irgendwie ausgeklammert werden.

Zum Abschluss der unvollständigen Liste noch eine Bemerkung zur allgemeinen Stoßrichtung unserer Praxis:

Es kommt uns weniger darauf an, den Herrschenden einen gehörigen Schreck einzujagen und damit in die Medienöffentlichkeit zu gelangen, auch wenn man nicht verkennen sollte, dass damit die ideologische Hegemonie dieser Herrschenden angegriffen wird. Wir wollen ihre Herrschaft durch langfristige Projekte geduldig und zäh – wie Maulwürfe – unterhöhlen. Wir wollen gute Maulwürfe sein.

Ich möchte mit ein paar Beobachtungen und Anmerkungen zu den gegenwärtigen Umständen schließen, von denen wir hoffen, dass sie hier ebenso intensiv diskutiert werden. Sie beziehen sich auf nächste praktische Schritte und Inhalte unserer Politik:

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/03

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