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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

"Gute Arbeit" - transnational gesehen

Eine kleine Vorbemerkung:

Der verengte Blick: Vor rund 150 Jahren erklärte uns Alexis de Toqueville, ein Pionier der Sozialwissenschaften, mit dem Blick auf Europa, dass man ein Land nur verstehen könne, wenn man auch die anderen verstehe. ("Der alte Staat und die Revolution"). Heute jedoch versuchen uns Sozialwissenschaftler unter dem ökonomischen Regime des gemeinsamen Euro gewerkschaftliches Handeln und das der Belegschaften mit seiner enormen Bedeutung auf die jeweilige Lohnfindung in Europa ohne diesen einfachen Blick über den eigenen "Tellerrand" hinaus verständlich zu machen.

Warum die Franzosen streiken - und was die Deutschen derweil machen (Hintergrund für den Streik 2010: Warum die Franzosen protestieren / aus "Monde Diplomatique" von Daniele Linhart)

Beginnen wir bei den Franzosen, wo mit einem wohl brutalen Vorgehen das betriebliche Management die Beschäftigten besonders intensiv "auszubeuten" bemüht ist: Niemand soll sich wohlfühlen!

Viele haben das Gefühl, dem beruflichen Alltag nicht gewachsen zu sein, in dem sie von den Vorgesetzten permanent unter Druck gesetzt werden. Sie leiden darunter, dass man ihnen zu verstehen gibt, dass keine Leistung je gut genug ist und dass man sich immer wieder aufs Neue selbst übertreffen muss. Zielvorgaben erscheinen häufig unerfüllbar, zumal sie von Vorgesetzten kommen, die durch die eigene Überforderung oft selbst nicht mehr wissen, was ihre Untergebenen eigentlich tun. Um sich gegenüber den Angestellten durchzusetzen und deren letzte Reserven zu mobilisieren, betreibt das moderne Management ein System der permanenten Verunsicherung. Dazu gehört ein Klima der Feindseligkeit im Betrieb... Man will tunlichst verhindern, dass sie zu Kollegen, Vorgesetzten oder gar zu Kunden ein komplizenhaftes Verhältnis aufbauen oder auf die Idee kommen könnten, die Organisation ihrer Arbeitsabläufe selbst in die Hand zu nehmen.

Daher auch die ständigen Umstrukturierungen und häufigen Versetzungen, die den Aufbau und die Pflege beruflicher Netzwerke sabotieren.

France Telecom - Spitze eines Eisbergs

Die Verhältnisse bei France Telecom, wo seit 2008 Dutzende Angestellte wegen der unerträglichen Arbeitsbelastung sich selbst töteten und Mobbing ein Teil des Systems war, sind in dieser Hinsicht durchaus symptomatisch.... Dazu kommt die Willkür von Evaluierungen - und gemäß der herrschenden Logik (Ideologie?) der Individualisierung ist jeder Kollege in erster Linie ein Konkurrent... Und "eigenverantwortlich" werden sie mit den steigenden Anforderungen an ihre Produktivität konfrontiert... In repräsentativen Umfragen bekundeten mehr als die Hälfte der Franzosen, sie seien nicht sicher, ob sie nicht selbst irgendwann als Obdachlose enden könnten.

Aktuelle Streiks als Weg aus der Isolation

Die aktuellen Proteste gegen die Rentenreform könnten all jene, die ihre Schwierigkeiten im Umgang mit den neuen Arbeitsverhältnissen gewöhnlich ihrem eigenen Unvermögen zuschreiben, aus der Isolation führen. Vor unseren Augen entsteht vielleicht gerade das Bewusstsein für ein gemeinsames Schicksal. (nur was bringt dieser "Selbstfindungsprozess" den französischen Beschäftigten, wenn er wieder nur auf Frankreich begrenzt bleibt? http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/11/12.mondeText.artikel,a0060.idx,21 externer Link; Zusätzlich noch die vergleichende Untersuchung von 27 europäischen Ländern der Soziologinnen Lucie Davoine und Dominique Meda www.cee-recherche.fr/fr/doctrav/travail_europe_96_vf.pdf externer Link pdf-Datei)

Ich befürchte, die entscheidenden Fragen mit der jeweils ökonomischen Messlatte werden auch hier nicht gestellt. Was "hilft" dann dieser Vergleich? Daniele Linhart ist Forscherin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und Autorin von "Travailler sans les autres" (2009) P.S.: Vielleicht gelingt es ja diese Befunde aus den "französischen Verhältnissen" mit den Streiks und ihrem eindeutigen Erfolg für das allgemeine Lohnniveau in Frankreich einfach einmal systematisch mit den deutsche Zuständen eines stagnierenden bis sinkenden Lohnniveaus zu vergleichen und damit das Thema "gute Arbeit" im europäischen Rahmen in den jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen untereinander "kompatibel" zu machen.

Jetzt aber zu den deutschen "Aufklärungsarbeiten" zum Thema "Gute Arbeit": "Burnout in der IT-Branche - Wie Prävention in der Praxis gelingt" (http://idw-online.de:80/pages/de/news401584 externer Link). Von der einst "schönen neuen Arbeitswelt" ist man in der Informationstechnik-Branche (IT) inzwischen weit entfernt: Der Preis- und Kostendruck im Projektgeschäft mit immer engeren Zeit- und Budgetvorgaben bringt viele Beschäftigte an die Leistungsgrenze. Psychische Erschöpfungszustände sind unter IT-Spezialisten weit verbreitet. Die Ursachen für Stress und Burn-Out und wie man ihnen in der Praxis vorbeugen kann, untersucht eine aktuelle Publikation von deutschen Soziologen (IAQ Duisburg-Essen / ISF - München / Büro Moderne Arbeitszeiten Dortmund)

Ein P.P.S noch: Und die national verschiedenen Lösungsansätze? Ausgehend von den unterschiedlichen Arbeitsrechtssystemen in Frankreich und Deutschland, deren "Schwerpunkt" in Frankreich im kollektiven Streikrecht liegt, während es in Deutschland - mit allen Konsequenzen bei der Makroökonomie - in der Position der Betriebsräte (Betriebsverfassung) liegt, wären hier systematisch vergleichenden Analysen zu unterziehen. Oder um es etwas polemisch zuzuspitzen, statt "national-autistisch" das jeweilige Rechtssystem mit den jeweils möglichen Handlungsformen der ArbeitnehmerInnen als jeweils "einzige Möglichkeit" unhinterfragt zu "ontologisieren", wäre es für ein gemeinsames Europa und ihre jeweiligen Gewerkschaften - bei sehr ähnlichen "kapitalistischen Produktions-Regimen" mit zumindest sehr ähnlichen Problemlagen - sicher von Nutzen, sich wenigstens so weit einmal "verunsichern" zu lassen, um die unterschiedlichen Handlungs"optionen" wägend "gegeneinander" in eine klärende Beziehung zu stellen - unter dem Motto "best practice" (Was ist die beste Praxis für die Beschäftigten?)!

Dabei müssten auch die Fragen geklärt werden, ob gerade das makroökonomische Versagen der deutschen Gewerkschaften bei der Lohnentwicklung (siehe z.B. http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07529.pdf externer Link pdf-Datei) ihnen dort, wo sie "institutionell" stark sind - in den Betrieben die Spielräume verschafft hat, dort für die Beschäftigten wieder akzeptable "Kompromisse" herauszuverhandeln.

Steffen Lehndorf und Christine Franz drücken das bezüglich der Arbeitszeit jetzt aktuell in der Krise so au : "Die Zweischneidigkeit des Aufbaus eines "Arbeitszeitpolsters" vor der Krise korrespondiert übrigens mit der Zweischneidigkeit der Lohnentwicklung: Der Sachverständigenrat erklärt zwar in seinem Jahresgutachten 2009/2010 die Bereitschaft zum "Horten" von Arbeitskräften u.a. mit der gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit und den gestärkten Eigenkapital- und Liquiditätsreserven eines großen Teils der deutschen Unternehmen, was "dadurch unterstützt (wurde), dass die Lohnentwicklung über einen beträchtlichen Zeitraum (rund ein Jahrzehnt!) hinter den Produktivitätssteigerungen zurückblieb" (SVR 2009: 263).

Doch genau diese "Lohnzurückhaltung" war es ja, die maßgeblich zur gesamtwirtschaftlichen Wachstumsschwäche in Deutschland im zurückliegenden Jahrzehnt und zu den krisenverschärfenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten beigetragen hat. Die Parallelität der Entwicklung bei den Löhnen und bei den Arbeitszeiten in den Jahren vor der Krise besteht also darin, dass Puffer (bei den Unternehmensgewinnen wie bei den Arbeitszeiten), die während der Krise als hilfreich empfunden wurden, zugleich Ausdruck von Fehlentwicklungen waren (siehe zu der deutschen Lohnmoderation und der "Euro-Krise" auch Peter Bofinger in seiner "Anderen Meinung" im Sachverständigenrats-Gutachten 2010, S. 213 ff. (www.nachdenkseiten.de/?p=7323 externer Link), die in den Jahren davor das Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung massiv behindert haben (siehe "Arbeitszeitentwicklung und Krise" - IAQ-Arbeitszeit-Monitor 2010 (http://idw-online.de/pages/de/news398943 externer Link - dort S. 9 f.)

Während die immer wieder in der ökonomisch-ideologischen Auseinandersetzung - wegen des Rechtshabens der Mehrheitsökonomen samt ihrer "Büchsenspanner" in Medien und Politik - vorgebrachten Argumente, dass die Arbeitsmarktreformen die positive Beschäftigungsentwicklung für die Deutschen in der Krise hervorgebracht habe, sich eindeutig empirisch als Makulatur erwiesen hat (auch noch www.boeckler.de/119_109764.html externer Link) Volkswirtschaftlich erfolgreich - betrieblich dann "brutaler" ausgepresst?

Im Gegenzug dazu müsste untersucht werden, ob das französische Management wegen der volkswirtschaftlich angemessenen Ausschöpfung des Lohnspielraumes im "Wettbewerb der "Nationen" zu einer "brutaleren" Vorgehensweise gegen die Beschäftigten in den Betrieben sich angeregt fühlte - wie es der obige Beitrag ja nahelegt. Sozusagen einfach als "betriebliche Notwehr" gegen den "Arbeitsplatzraub" aus Deutschland durch die Exportüberschüsse mittels Lohndumping.

Jedenfalls solange der jeweilige Blick nur beschränkt auf die "eigene Spielwiese" bleibt , ist das vollkommen ungenügend - ob in Frankreich oder auch Deutschland (vgl. "Betrachtungen zu den Gewerkschaften in Frankreich und Deutschland" www.labournet.de/internationales/fr/gew_bahl.html externer Link).

All dies müsste analytisch und auch gewerkschaftsstrategisch bedacht werden, wenn die deutschen Gewerkschaften ihre Betriebräte in die Schulungen zum Thema "Gute Arbeit" schicken (vgl. dazu auch das neue Buch "Gute Arbeit" hrsgg. von Lothar Schröder und Hans-Jürgen Urban externer Link) - und Berater die Betriebsräte in ihren betrieblichen Spielräumen beraten - während die französichen Beschäftigten "ihren" Bewußtwerdungsprozess in einer breiten gemeinsamen Streikaktion erfahren können (auch wieder nur auf die "französischen Verhältnisse" eingeengt?).

Gerade deshalb gehört es nicht umsonst zu einer der gewerkschaftspolitisch bedeutsamen Tatsachen in diesem sozial so bewegten Herbst 2010, dass von dem Chef einer großen Einzelgewerkschaft in Deutschland - nämlich von Frank Bsirske von Verdi, der politische Streik als Handlungsoption für die deutschen Gewerkschaften wieder ins Spiel gebracht wurde (www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/polstreik_bahl.html)

Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 2.1.2011


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