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Updated: 18.12.2012 15:51
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Zwischen Entgrenzung und Individualisierung

Johannes Reich & Ralf Kronig über die Schwierigkeiten, in einem IT-Unternehmen eine Interessenvertretung zu bilden, Teil II

Über die Schwierigkeiten, in einer hochgradig individualisierten und akademisch geprägten Belegschaft wie der von SAP kollektive Interessenvertretungsformen zu entwickeln, hatten die Autoren im ersten Teil ihres Beitrags berichtet. Ihre eigenen Erfahrungen mit der Gründung eines Betriebsrates in einem Unternehmen, das nicht der Tarifbindung unterliegt, Gewerkschaften als betriebsfremde Störgröße begreift und – ebenso wie die meisten Beschäftigten – lange auf konsensuale »Regelungsabsprachen« statt auf das Betriebsverfassungsgesetz und die Mitbestimmung gesetzt hat, bilden den Hintergrund dieses Beitrags. Ein besonders ›heißes‹ Thema ist dabei die Vertrauensarbeitszeit, zu der es bei SAP immer noch keine Betriebsvereinbarung gibt. Weil dieses Arbeitszeitmodell auch unter den Beschäftigten durchaus beliebt ist, und die Betriebsräte das Thema nicht über deren Köpfe hinweg angehen wollten, hatten sie eine Umfrage gestartet. Ergebnis: Während die Beschäftigten einerseits die relativen Freiheiten bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit begrüßen, führen die Mängel in der Erfassung der Arbeitszeit in Verbindung mit einem Gehaltssystem, das auf projektbezogener Ergebnis- statt Anwesenheitskontrolle und individueller Beurteilung durch Vorgesetzte basiert, andererseits auch zu einer nirgendwo dokumentierten individuellen Überlastung und zu nicht abgegoltener Mehrarbeit bis hin zur Überschreitung selbst gesetzlicher Höchstarbeitszeiten. Im folgenden zweiten Teil ziehen die Autoren Schlussfolgerungen aus diesen Befunden.

3. Konsequenzen und Handlungsmöglichkeiten

Aus Sicht des Unternehmens ergeben sich zunächst einmal keine weiteren Kosten für Mehrarbeit, da vom Vorgesetzten angeordnete Überstunden eine echte Ausnahme sind und sich auf das Wochenende beschränken. Da der Beschäftigte keinerlei unmittelbaren finanziellen Anreiz zur Mehrarbeit hat, wird Zeit tatsächlich zum Maß für Engagement. Das Ergebnis der Arbeit erhält seine beabsichtigte Aufwertung.

Aus Sicht der Beschäftigten wird die vertragliche Vereinbarung zur Arbeitszeit von 40 Stunden zum Papiertiger und ihre – auch arbeitsrechtlich im Vordergrund stehende – Anstrengung wird gegenüber dem zu liefernden Ergebnis abgewertet. Die Folge ist die schon angesprochene Benachteiligung all derer, die tatsächlich über die SAP hinaus noch in weitere Verpflichtungen gesellschaftlicher Art eingebunden sind, etwa Teilzeitkräfte oder Eltern mit Kindern.

Warum sehen wir im Bereich Arbeitszeit Handlungsbedarf, wenn die SAP-Beschäftigten doch sehr zufrieden sind? Wir führen die Zufriedenheit der meisten SAP-Beschäftigten auf die erlebten Freiheiten zurück, die ganz zweifellos für viele, wenn auch nicht für alle, existieren. Wir glauben jedoch auch, dass die momentane Situation nicht stabil ist, sondern sich zu Ungunsten der Beschäftigten verschlechtern wird bzw. schon jetzt verschlechtert.

Grundlagen dieser Annahme sind die dargelegte strukturell schwache Stellung der SAP-Beschäftigten gegenüber den Forderungen ihres Arbeitgebers sowie der empirische Nachweis [1], dass eine ungeregelte Vertrauensarbeitszeit in Verbindung mit Mechanismen der indirekten Steuerung wie bspw. einer so genannten »leistungsorientierten« Entlohnung zu einer Ausuferung der Arbeitszeiten führt. Hinzu kommt, dass SAP wie zuvor erwähnt bei den Langzeiterkrankungen seit 2003 deutliche Zunahmen aufweist, was mit der Einführung der Zielgehaltssysteme zumindest korreliert.

Die Handlungsmöglichkeiten der Interessenvertretung der Beschäftigten sind v.a. durch die betriebsinterne Tabuisierung des Themas Arbeitszeit stark eingeschränkt. Ein wirklicher Dialog, der die berechtigten Interessen der Beschäftigten nach einer möglichst autonomen Gestaltung ihrer Arbeitszeit und die Grenzen dieser Autonomie, gesetzt durch die Mechanismen der indirekten Steuerung durch den Arbeitgeber, ausgleicht, findet derzeit nicht statt. Die Mehrheit der Beschäftigten scheint jede Form der Zeiterfassung (die nicht vom Vorstand kommt) mit einer Einschränkung ihrer Zeitautonomie gleichzusetzen. Das Gespenst der Stechuhr-Kultur war und ist ein wesentliches polemisches Mittel im Abwehrkampf der SAP gegenüber der befürchteten Einflussnahme gewerkschaftlichen Engagements.

Da es im Kern um den Erhalt bzw. weiteren Ausbau des Handlungsspielraums der Beschäftigten geht, hat es aus unserer Sicht keinen Sinn, hier eine Lösung »gegen« die Beschäftigten anzustreben. Wenn, dann kann es nur darum gehen, die einzelne Person in ihrer Auseinandersetzung mit dem Unternehmen um ihre Arbeits- und Lebenszeit zu stärken, so dass sie dies auch als solches erlebt.

Z.B. wäre eine Betriebsvereinbarung denkbar, wie sie schon in anderen Betrieben getroffen wurde, die den Eigenaufschrieb für verbindlich erklärt, in Verbindung mit einer Regelung, bei der jede Überstunde vergütet wird. Dann hätte plötzlich auch der Arbeitgeber ein erhebliches Interesse an einer Begrenzung des Mehraufwandes zur Erledigung der Arbeit, und die Gleichung »Mehrarbeit = zusätzliches Engagement« würde ungültig. Letztere Regelung wäre zumindest bei SAP momentan jedoch nicht mehr als sowieso geltendes Recht.

4. Anforderungen an die Interessenvertretung

Welche Anforderungen leiten wir aus unseren bisherigen Erfahrungen im Spannungsfeld von Entgrenzung und Individualisierung ab? Uns scheint, dass auch die Rolle der kollektiven Interessenvertretung und ihr Verhältnis zum Einzelnen einer Weiterentwicklung bedarf. Stand früher der objektivierbare Schutz des Individuums im Vordergrund, bspw. durch Kontrolle von Arbeitsschutzvorschriften zur Vermeidung von Unfällen, rücken bedingt durch die Subjektivierung der Arbeit entsprechend subjektive Aspekte in den Vordergrund.

Welche Art der Weiterentwicklung meinen wir? Wie können wir erreichen, dass die kollektive Interessenvertretung von diesem Trend der Subjektivierung profitiert, statt dagegen letztlich aussichtslose Abwehrkämpfe zu führen?

Wir meinen, dass betriebliche Interessenvertretungen sich heute, deutlich stärker als das vielleicht früher der Fall war, auf Partizipation und Transparenz ausrichten müssen. Dabei ist es wichtig, die rückbezüglichen, stabilisierend wirkenden Beziehungen zwischen den kollektiven Gremien und den Beschäftigten zu berücksichtigen.

Demokratie im Betrieb ist ohne Beteiligung der Beschäftigten und eine inhaltliche Öffnung der Gremien nicht nachhaltig möglich. Wie soll ein Beschäftigter eine informierte Wahl treffen, wenn er die Alternativen nicht unterscheiden kann? Wie aber kann ein Gremium sich inhaltlich nach außen öffnen, wenn jeder Konflikt als Schwäche und Tendenz zur Spaltung interpretiert wird? Ein Betriebsrat ist kein Geheimrat. Allerdings setzt eine offene Gremienarbeit auch ein Publikum voraus, das diese Offenheit als solche anerkennt und einfordert.

Unserer Ansicht nach kann der Betriebsrat ganz wesentlich zu einer offenen Unternehmenskultur beitragen. Mit Hilfe des Betriebsrates war es uns bei SAP möglich, unternehmensweite Diskussionsprozesse über Gehalt, Leistungsbeurteilung, Weiterbildung, Gesundheit und vieles mehr anzustoßen. Wir erleben jeden Tag, dass man schon als einzelnes Mitglied des Betriebsrats mit der starken, gesetzlich verankerten Stellung eine erhebliche Definitionsgewalt über die Prozessgestaltung bezüglich der Einbindung der Beschäftigten verfügt. So können wir eine weitergehende Teilhabe der Beschäftigten an Reorganisationsprozessen oder Bonusausschüttungen allein dadurch erreichen, dass wir im Vorfeld diese schlicht um ihre Meinung fragen.

Der Trend zur Subjektivierung der Arbeit besteht auch für die Betriebsratsarbeit selbst. Entsprechend rückt auch hier die Kompetenz und das Engagement des Einzelnen sowie der geänderte Bezug des Einzelnen zum Kollektiv in den Fokus. Dies macht die Arbeit als Mitglied eines Betriebsrates aus unserer Sicht eher noch anspruchsvoller bezüglich seiner Kompetenz und des notwendigen differenzierten Urteilsvermögens. Insbesondere aber setzt es den starken Willen voraus, seinen legitimen Handlungsspielraum im Interesse der Beschäftigten voll auszuschöpfen. Dazu gehört auch das notwendige Verständnis, dass man unabhängig, stark und individuell nicht trotz, sondern wegen der Einbettung in einem – adäquaten – Kollektiv ist.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/09


(1) Andreas Boes / Katrin Trinks (2006): »Theoretisch bin ich frei«, Berlin 2006


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