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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Zwischen Entgrenzung und Individualisierung Über die Interessenvertretung in IT-Unternehmen / Teil I SAP wurde 1972 von fünf ehemaligen IBM-Mitarbeitern gegründet. Weltweit gehören dem Unternehmen heute über 50000 MitarbeiterInnen an. Anfang 2006 beantragten Eberhard Schick, Johannes Reich und Ralf Kronig beim Arbeitsgericht Mannheim die Einsetzung eines Wahlvorstandes. SAP war das letzte DAX-Unternehmen ohne Betriebsrat. Der folgende Beitrag von Ralf Kronig und Johannes Reich* beleuchtet Erfahrungen und Probleme mit der Bildung einer gewerkschaftlich orientierten Interessenvertretung. Er geht auf einen Vortrag auf den Düsseldorfer Arbeitsrechtstagen 2008 zurück und wurde für den express überarbeitet. Die zunehmende kommunikative Vernetzung treibt sowohl die Internationalisierung der Produktionsprozesse als auch die Subjektivierung der Arbeit voran. Als Folge dieser Veränderungen werden die Grenzen zwischen der eigenen Individualität und ihrer Verankerung im Kollektiv neu abgestimmt. Dieser Prozess scheint nicht klaren, geraden Linien zu folgen. Vielmehr steckt er voller Widersprüche und wird v.a. durch die Interessenlagen der Beteiligten und ihre Fähigkeit, diese zu artikulieren, geprägt. Wir verstehen den folgenden Bericht über unsere Erfahrungen aus zwei Jahren Betriebsratstätigkeit bei SAP als Beitrag zu dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Dabei beleuchten wir zunächst einige allgemeine Erfahrungen, die unserer persönlichen Erfahrung nach kollektive Interessenvertretung in einer ›modernen‹ Branche wie der IT erschweren. Eine dieser Erfahrungen ist die Tabuisierung des Umgangs mit Arbeitszeit, weswegen wir anschließend konkret beschreiben, wie bei SAP mit diesem Thema umgegangen wird. Zum Schluss skizzieren wir in einem kurzen Ausblick diejenigen Tätigkeitsfelder betrieblicher Interessenvertretung bei SAP, die nach unserem Dafürhalten auch bei anderen Beschäftigten in der IT-Industrie von großem Interesse sind. 1. Was erschwert eine kollektive Interessenvertretung in der IT-Industrie? Der Betriebsrat der SAP besteht nun seit Mitte 2006. Zeit genug, noch einmal konkret über die Gründe zu reflektieren, die bei SAP dazu beitragen, dass kollektive Interessenvertretungen nach unserem Verständnis problematisch ist. Dabei lässt sich an den einzelnen Punkten auch sehr eindrucksvoll die Dynamik wiedergeben, die die Gründung des Betriebsrates bei SAP vor zwei Jahren entfaltet hat. Ausgeprägte Konsensorientierung Zumindest bei den einfachen Beschäftigten herrscht eine sehr ausgeprägte Konsenskultur, gepaart mit einer hohen Diskussionsbereitschaft und fachlichem Interesse. Als Fachleute – 80 Prozent sind AkademikerInnen – erkennen sie die Kompetenzen anderer an. Probleme werden, ihrer technischen Natur geschuldet, in der Regel unter dem pragmatischen Gesichtspunkt der ›besten Lösbarkeit‹ angegangen. Scheitern ›fachliche‹ Lösungen an Konflikten in der Beziehungsebene oder auch an strukturellen oder eher politischen Faktoren, wird dies häufig fehlgedeutet als persönliche ›Unfähigkeit‹. Diese Mechanismen tragen ihren Teil zu einer hohen Identifikation mit dem Unternehmen wie auch dem Vorstand – den Fachleuten für die Führung des Unternehmens – bei und erschweren aus unserer Sicht einen differenzierten Blick auf das Unternehmen. Die ausgeprägte Konsensorientierung auch der Betriebsräte zeigt sich u.a. darin, dass die beiden Vorsitzenden sich auf ihre eigene Initiative hin in den ersten zwei Jahren mit Journalisten nur im Beisein und in Absprache mit der Öffentlichkeits-Abteilung von SAP getroffen haben, die diese Gespräche wiederum organisierte und dokumentierte. Dies ist einmalig in Deutschland. Das Wort »Einigungsstelle« wurde hinter vorgehaltener Hand als das ›E-Unwort‹ bezeichnet. Es wurde vermieden, Betriebsvereinbarungen abzuschließen, es sei denn, der Arbeitgeber drängte darauf. Stattdessen werden (z.T. bis heute) so genannte ›Regelungsabreden‹ getroffen, auch wenn es sich dabei um voll betriebsvereinbarungsfähige bzw. mitbestimmungspflichtige Sachverhalte handelte, wie z.B. Regeln zum Gehaltssystem oder elektronische Instrumente zur Unterstützung von Leistungsbeurteilungen. Die Folge: Auf diese Weise verlieren die Beschäftigten Rechtsansprüche. Regelungen zur Arbeitszeit sind, das ist entscheidend, ein großes Tabu-Thema; hier werden noch nicht einmal Regelungsabsprachen getroffen. Gleichwohl ist festzuhalten, dass nicht zuletzt aufgrund des Verhaltens von SAP gegenüber Betriebsräten viele Mitglieder der BR-Gremien mittlerweile ein differenzierteres und aus unserer Sicht realistischeres Bild gewonnen haben. Der im Juli 2008 neu gewählte Betriebsratsvorsitzende spricht durchaus auch ohne PR-Abteilung mit der Presse. Bezüglich einer Vereinbarung zur Nutzung und Kontrolle von Softwareinstallationen wurde ein Einigungsstellenverfahren eingeleitet, und es wird vermehrt mit dem Arbeitgeber verhandelt, um diesen zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen im Interesse der Beschäftigten zu bewegen. Gewerkschaftsaversive Haltung In der Betriebsratswahl vor zwei Jahren machten die zwei erfolgreichsten Listen Werbung mit dem Umstand, ›gewerkschaftsfrei‹ zu sein. Beschäftigten, die sich bei diesen Listen engagieren wollten, wurde die Frage gestellt, ob sie Mitglied in einer Gewerkschaft seien. Erst auf unsere Intervention hin änderte eine Liste damals ihr Beschreibung von ›gewerkschaftsfrei‹ in ›gewerkschaftsunabhängig‹ ab. Im Wahlkampf wurde den SAP-Beschäftigten, die Mitglied in einer der DGB-Gewerkschaften wie IG Metall und ver.di waren, vorgeworfen, ›fremdgesteuert‹ zu sein. Das Echo bei den Beschäftigten auf solche Ausgrenzungsversuche war eher positiv, wollten diese doch wenigstens in größeren Teilen ihre Entscheidung u.a. von dem Kriterium der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig machen und sahen dies als ›hilfreiche‹ Information an. Dazu passt auch, dass sich in der Aufsichtsratswahl diejenigen ›gewerkschaftlichen‹ Kandidaten durchsetzen konnten, die auf einem Ticket der CGM (Christliche Gewerkschaft Metall) oder DBV (Deutscher Bankangestellten Verband – Gewerkschaft der Finanzdienstleister) saßen und mehr oder weniger offen damit warben, diese nur zu instrumentalisieren, um ein ›Eindringen fremder Elemente‹ in die SAP zu verhindern. Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang, dass ein Aufsichtsratsposten bei SAP mit ca. 500000 Euro pro Wahlperiode dotiert ist, der nun anstatt zur Hans-Böckler-Stiftung in die Privatschatulle der Kandidaten fließt. Die »DGB-Betriebsgruppe bei SAP« bekommt von SAP nach wie vor keinen Raum für ihre Treffen zur Verfügung gestellt. Die von außen kommenden Gewerkschaftsvertreter werden jedes Mal vom Werkschutz zu den Treffen in einer Kaffeeecke geführt und auch wieder abgeholt. Hingegen dürfen sich selbst Mitarbeiter der ärgsten Konkurrenten wie Oracle, wenn sie Gäste von SAP-Mitarbeitern sind, in den SAP-Räumlich-keiten frei bewegen. Auch die persönliche Zusage des Personalvorstandes Claus Heinrich, als Vereinsvorsitzender des Vorstands der »Metropolregion Rhein-Neckar« regionalpolitisch stark engagiert, die Eskortierung von Gewerkschaftsvertretern abzustellen, brachte keine Änderung. Der Organisationsgrad von Gewerkschaftsmitgliedern bei SAP ist gering. Die meisten Beschäftigten sind erstaunt, dass es in anderen Branchen üblich ist, einen ›derart großen Betrag‹ von einem Prozent ihres Bruttomonatsgehalts der eigenen Interessenvertretung zu überlassen. Es ist bezeichnend, dass bei den recht starken Wanderungsbewegungen innerhalb der Listen im Betriebsrat in den zwei Jahren bisher keiner den Schritt in eine DGB-Gewerkschaft gewagt hat. Allerdings ist auch zu beobachten, dass die Kompetenz der Gewerkschaften inzwischen erheblich stärker anerkannt wird und auch die Bereitschaft, sich diese zu Nutze zu machen, deutlich gestiegen ist. Nach innen gerichtete Firmenkultur Auch nach Einschätzung des neuen Co-Vorstandsvorsitzenden Leo Apotheker ist die Firmenkultur der SAP stark nach innen gerichtet. So erhielten die Kandidaten der DGB-Gewerkschaften IG Metall und ver.di, die auf einer gemeinsamen Liste zur Aufsichtsratswahl kandidierten, nicht zuletzt deshalb nicht allzu viele Stimmen, weil die Gewerkschaften richtigerweise daran festhielten, externe Kandidaten aufzustellen. Es war ein gutes Stück Arbeit, den Betriebsrat davon zu überzeugen, externen Sachverstand für die Beratung heranzuziehen. Dabei wurde insbesondere jedem gewerkschaftlichen Bezug anfänglich ausgesprochen argwöhnisch misstraut. Dass sich diese Haltung des Gremiums inzwischen gewandelt hat bzw. noch wandelt, ist unserer Einschätzung nach wesentlich auf die Erfahrung der hohen Kompetenz der Gewerkschaften im Bereich der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen zurückzuführen, aber auch auf deren eindrucksvolle Bereitschaft, ihre Rolle als Sozialpartner in der Gesellschaft konstruktiv auszufüllen. Inzwischen ist das Argument für einen externen Referenten uns gegenüber durchaus: »Der arbeitet doch auch mit der IG Metall zusammen.« Solche Aussagen beziehen sich auf Mitglieder im Betriebsrat, die erkennen, dass die Gewerkschaften über Kompetenzen verfügen, die bisher für sie noch nicht wichtig waren. Inzwischen ist beschlossen, den Projektleiter des Export-IT-Projektes, Andreas Boes, auf einer Betriebsversammlung sprechen zu lassen – noch vor wenigen Monaten ein Ding der Unmöglichkeit. Geringe Kenntnis der Mitbestimmungsmöglichkeiten Ein weiterer Grund, der Interessenvertretung erheblich erschwert, ist der mangelnde Kenntnisstand über die Möglichkeiten dieser Vertretung in akademischen Kreisen im Allgemeinen und damit in den Kreisen der SAP-Beschäftigten im Besonderen. Dies können wir deshalb so klar sagen, weil wir uns da – selbst als Mitinitiatoren der ersten Betriebsratswahl bei der SAP AG – ohne Wenn und Aber einbeziehen. Hätten wir diese Möglichkeiten, der Willkür des Arbeitgebers mit einem Betriebsrat effektiv Schranken zu setzen, schon früher gekannt, hätten wir schon viel eher einen Betriebsrat gegründet. Um dies zu illustrieren, wollen wir kurz auf drei wesentliche Bereiche der Mitbestimmung und ihre Beziehungen zu SAP eingehen, die für uns besondere Relevanz hatten und haben. Arbeitsentgelt: Wegen fehlender Tarifbindung sind die Regeln des Gehaltssystems praktisch vollständig mitbestimmungspflichtig. Dennoch war das gesamte Gehaltssystem von Arbeitgeberseite mehr oder weniger als ›geheim‹ definiert, so dass wir uns das Recht auf die betriebsinterne Veröffentlichung der Regeln erst gerichtlich erstreiten mussten. In den letzten Jahren wurde ein ›Zielgehaltssystem‹ mit ›leistungsabhängigen‹ Boni ohne irgendeine Mitbestimmung eingeführt. Eine effektive Diskussion unter den Beschäftigten fand nicht statt. Bereits vor fünf Jahren wurden neue ›Senior‹-Gehaltsgruppen eingeführt, ohne dass eine systematische Umgruppierung der Beschäftigten stattgefunden hätte. Dies führte zu einer effektiven Herabstufung der Beschäftigten unterhalb der ›Senior‹-Gehaltsgruppen – immerhin mehrere Tausend MitarbeiterInnen. Bei einer jetzt gestarteten gemeinsamen Umgruppierungsaktion nahm die SAP als erstes die offiziellen Kriterien für die Einstufung zum ›Senior‹ aus dem Intranet. Weiterbildung: Eine der Neuausrichtungen der BetrVG-Reform 2001 war die Stärkung der Mitbestimmung in der Weiterbildung. Für die Beschäftigtengruppe der SAP, die sich aus sehr vielen Quereinsteigern zusammensetzt und inzwischen wegen des stark zurückgegangenen Personalwachstums als Kohorte altert, ist dies ein sehr wichtiges Thema. Firmenintern wird nach Aussage des Personalchefs kein extra Ausbildungsbudget ausgewiesen. Stattdessen konkurriert eine externe Weiterbildung mit den sonstigen Reisekosten. Die Entscheidung zur Weiterbildung eines Mitarbeiters steht im Ermessen der zuständigen Führungskraft, mit entsprechend unterschiedlicher Handhabung. Unser Eindruck ist, dass das Ausmaß der Weiterbildung in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat. Weiterbildung soll inzwischen ganz offiziell wesentlich ›on-the-job‹ geschehen. Außerdem werden momentan E-Learning-Verfahren verstärkt unter Kosten- und weniger unter Lerngesichtspunkten lanciert, mit der Folge, dass zumindest unseres Wissens eine Evaluierung ihrer tatsächlichen Eignung unterbleibt. Von den weitgehenden Möglichkeiten der Mitbestimmung im Bereich der Weiterbildung wurde bisher kein Gebrauch gemacht. Weder wurde der Arbeitgeber aufgefordert, den Berufsbildungsbedarf zu ermitteln, noch wurden substanzielle Vorschläge zur Weiterbildung gemacht. Auch wurde noch nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, im Falle der Tätigkeitsänderung von Beschäftigten Weiterbildungsmaßnahmen anzusetzen. Gesundheit: Die Gesundheit ist für die gut ausgebildeten IT-Fachleute ein hohes Gut. Trotzdem gibt es vermehrt Hinweise darauf, dass die Freiheiten des IT-Projektgeschäfts in Verbindung mit den immer intensiver eingesetzten Mechanismen der indirekten Steuerung wie etwa misstrauensbasierte, ergebnisorientierte Entlohnungsformen, zu pathogenen psychischen Belastungen werden. So hat sich in der SAP die Anzahl der Langzeiterkrankungen (d.h. mehr als 42 Tage Arbeitsunfähigkeit pro Jahr) pro Mitarbeiter seit 2003 etwa verdoppelt. Inzwischen konnte der Betriebsrat sowohl die Geschäftsleitung als auch die Betriebsärzte davon überzeugen, bei dem BMFT-geförderten Projekt DIWA-IT mitzumachen, bei dem externe Wissenschaftler gemeinsam mit verschiedenen IT-Unternehmen der Frage nachgehen, wie nachhaltig gesundheitsfördernde Arbeitsstrukturen in der IT-Industrie aussehen müssten. 2. Umgang mit Arbeitszeit bei SAP Ein intelligenter Umgang mit der Arbeitszeit stellt u.E. den Schlüssel zur befriedigenden Lösung von wesentlichen Kernproblemen unserer Arbeitsgesellschaft dar. Dazu zählen wir u.a. die Benachteiligung all der Beschäftigtengruppen, die einen signifikanten Teil ihrer Lebenszeit auf weitere gesellschaftliche Verpflichtungen wie etwa Familie, Parteien, Vereine etc. verwenden wollen oder müssen. So lag 2007 in der SAP AG der Anteil der Frauen im Management bei nur 11,6 Prozent bei einem Frauenanteil an den Beschäftigten von ca. 28 Prozent. Der Anteil der Teilzeitkräfte im Management lag sogar nur bei 3,2 Prozent bei einem Anteil der Teilzeitkräfte von 13 Prozent. Bei SAP wird Arbeitszeit in weiten Bereichen als ›Vertrauensarbeitszeit‹ gehandhabt. Eine offizielle, mit dem Betriebsrat abgestimmte Regelung gibt es dazu nicht. In den »Do’s and Don’ts« für die Bazubis (IHK-Auszubildende und Berufsakademie-StudentInnen) heißt es zur Erläuterung: »Vertrauensarbeitszeit bedeutet soviel, dass, wenn ihr keine Termine oder Schulungen habt (wo ein fester Termin und Uhrzeit ausgemacht ist), frei entscheiden könnt, wann ihr zur Arbeit kommt und wann ihr wieder geht. Allerdings beachtet bitte, dass ihr einen Vertrag unterschrieben habt, in dem ihr euch verpflichtet, 40 Stunden pro Woche zu arbeiten (ohne Mittagspause!). Vorarbeiten und dann freitags früher gehen oder frei machen, wird allerdings nicht gerne gesehen. Falls ihr das wirklich einmal vorhabt, wendet euch bitte vorher an euren Ausbildungsleiter und/oder Dezi (Dezentrale AusbilderInnen, Anm. d. Red.) und besprecht das mit ihm. Wenn ihr in einer Abteilung seid, solltet ihr euch auch an die Arbeitszeiten dieser anpassen.« Weitergehend lässt sich sagen, dass die Praxis der ›Vertrauensarbeitszeit‹ bei SAP zwei Kernelemente enthält. Zum einen entfällt eine Erfassung der Arbeitszeit, zum anderen ersetzt die Ergebnis- die Anwesenheitskontrolle. Mit diesem Modell sind die meisten SAP-Beschäftigten zur Zeit sehr zufrieden. Bei einer Befragung durch den Betriebsrat der SAP AG im Herbst 2007 beantworteten die meisten Beschäftigten die Frage »Wie zufrieden bist Du mit dem Modell der Vertrauensarbeitszeit?« mit »vollständig zufrieden«. Die Konsequenzen der ›Vertrauensarbeitszeit‹ für die Beschäftigten sind vom Kontext ihrer Umsetzung und Wahrnehmung abhängig und können sich in einem weiten Spektrum bewegen, das durch zwei Pole bestimmt wird: Auf der einen Seite steht eine hohe Autonomie der Zeiteinteilung mit der Folge einer akzeptablen Vereinbarkeit des Berufs mit weiteren Aktivitäten wie etwa Familie, Vereine etc. Auf der anderen Seite steht eine extreme Entgrenzung, ein Arbeiten ohne Ende, in dem der einzelne Beschäftigte aufgerieben wird. Um zu beurteilen, wo das Modellunternehmen SAP hinsichtlich der Auswirkungen von ›Vertrauensarbeitszeit‹ steht, haben wir einen Katalog von Kriterien entwickelt, mit dem der Kontext der Vertrauensarbeitszeit sichtbar gemacht werden kann. a) Vertrauen und Arbeitszeit: eine Frage der Werte Die explizite Verbindung von »Vertrauen« und »Arbeitszeit« zeigt, dass hier eigentlich ein innerer Zusammenhang besteht, ein Zusammenhang, der sich auf den Bereich der Werte erstreckt. Um mit den Worten des Co-Vorstandsvorsitzenden der SAP, Leo Apotheker, zu sprechen: »Man kann nicht das eine sagen und das andere tun!«. Die Bedeutung bzw. Notwendigkeit einer Abgrenzung gegenüber dem Unternehmen wird vom Topmanagement nicht gesehen. Ganz im Gegenteil sind eher die folgenden Aussagen typisch:
Darüber hinaus machen die Vorstandssprecher von SAP öffentlich Werbung für längere Arbeitszeiten (SAP-Vorstandssprecher Henning Kagermann bei der Eröffnung der CeBIT 2005) oder betonen die Notwendigkeit eines einheitlichen, ›flexiblen‹ europäischen Arbeitsrechtes (Leo Apotheker auf dem Deutsch-Französischen IT-Gipfel am 4. März 2008). b) Stellung des Beschäftigten gegenüber dem Vorgesetzten Welche Möglichkeiten haben die Beschäftigten, ihre Meinung nachhaltig zu vertreten, ihren vorhandenen Handlungsspielraum auch hinsichtlich ihrer Arbeitszeitgestaltung auszuschöpfen, ohne Nachteile befürchten zu müssen? Hierzu ist festzustellen, dass jeder Beschäftigte mit akademischer Ausbildung inzwischen im Rahmen des so genannten ›Zielgehaltssystems‹ jedes Jahr durch seinen Vorgesetzten eine Benotung zwischen 1 und 5 erhält, ohne dass dieses Verfahren durch eine Betriebsvereinbarung oder gar einen Tarifvertrag abgesichert wäre. Daran gebunden werden die Gehaltserhöhung sowie alle weiteren zu verteilenden Gehaltsbestandteile wie etwa Aktienoptionen einseitig durch den Vorgesetzten aufgrund einer ›Leistungseinschätzung‹ festgesetzt, für die keine dokumentierten Kriterien existieren. Zur Illustration: Ein Prozent Gehaltserhöhung entspricht bei 70000 Euro Jahresgehalt 700 Euro pro Jahr und damit in 30 Jahren über 20000 Euro! Damit entscheidet ein Manager bei einem individuellen Spielraum beispielsweise zwischen null und sechs Prozent für einen einzelnen Beschäftigten über ca. 120000 Euro Haben oder Nichthaben. In diesem Zusammenhang stimmt es nachdenklich, dass bei der schon angesprochenen Befragung durch den Betriebsrat die Mehrheit der Beschäftigten die Frage »Wie transparent sind Dir die Kriterien für die Gehaltserhöhung?« mit einem »gar nicht« oder der zweitschlechtesten Kategorie beantworteten. c) Freiheit gilt nicht überall Nicht in jeder SAP-Abteilung herrschen die gleichen Freiheiten wie in der Software-Entwicklung. Für diejenigen, die das operative Geschäft am Laufen halten müssen, gelten teilweise andere Spielregeln. So müssen die Beschäftigten der Abteilung Server-Management der SAP Hosting den Betrieb der Systeme zusammen mit ihren Kollegen in Indien sowie mit deutschen Drittanbietern »24x7x365« (also rund um die Uhr während des gesamten Kalenderjahres) anbieten. Zu diesem Zweck ist in diesem Bereich eine Bereitschaft notwendig, die montags bis freitags von 18 bis 8 Uhr sowie samstags und sonntags von 8 bis 8 Uhr läuft und 2007 je Woche und Systemgruppe von einem Beschäftigten abgedeckt wurde. Das macht 118 Bereitschaftsstunden pro Woche bei zusätzlich 40 Stunden regulärer Arbeitszeit. 2008 wurde in dieser Abteilung erstmals durch den Betriebsrat die Verteilung der Einsatzzeiten für 2007 anhand der von den Beschäftigten abgerechneten Stunden ausgewertet. Die Auswertung ergab, dass in über 100 Fällen zusätzliche 20 Arbeitsstunden während der Bereitschaft abgerechnet wurden, was in diesen Fällen ein Überschreiten der gesetzlichen Höchstarbeitszeit von 60 Stunden pro Woche nahe legt. Allein die Aufteilung der wöchentlichen Bereitschaftsdienste auf Montag bis Freitag sowie Wochenenden hat nach Aussage der Beschäftigten eine deutliche Entlastung bewirkt. d) Arbeitszeiterfassung à la SAP Es wäre falsch zu behaupten, dass die Mehrzahl der SAP-Beschäftigten ihre Arbeitszeit nicht elektronisch erfassen würde. Tatsächlich findet bei SAP Arbeitszeiterfassung an ganz vielen Stellen statt, nämlich immer genau dort und genau so, dass SAP einen Nutzen hat. Tatsächlich hat die überwiegende Mehrzahl der SAP-Beschäftigten ihre Arbeitszeit händisch in einem entsprechenden System zum Zwecke des Projektcontrollings zu erfassen – allerdings nicht in Stunden, sondern nur in relativen Tagesanteilen. Und selbstverständlich wird dort, wo die Arbeitszeit dem Kunden in Rechnung gestellt werden kann, wie z.B. in der Beratung oder bei manchen Servicedienstleistungen, die Arbeitszeit nicht anteilig, sondern absolut in Stunden erfasst. e) Überstunden heißt nicht gleich »Vertrauensgehalt« Trotz des hohen ›Vertrauens‹, das SAP ihren Beschäftigten in der Gestaltung ihrer Arbeitszeit entgegen bringt, können diese sich nicht selbst bezahlte Überstunden anordnen. Entsprechende individuelle Mehrarbeit wird vielmehr als ›Investition in die Karriere‹ angesehen. Vergütete Überstunden treten daher fast nur am Wochenende auf, wenn der Arbeitgeber eine entsprechende Maßnahme in ganzen Abteilungen durchführt. Diese werden dann am Wochenende mit dem 1,5-fachen Satz vergütet. Das Feedback, das dem Betriebsrat zu dieser Politik gegeben wurde, war, dass in den Abteilungen, für die wegen drängender Termine an einer Reihe von Wochenenden Überstunden angeordnet wurden, die Beschäftigten in der Woche deutlich weniger freiwillige – unbezahlte – Überstunden machen. Wenn man die KollegInnen darauf hinweist, dass sie wegen der inzwischen geltenden AGB-Kontrolle und der damit verbundenen Unwirksamkeit ihrer Arbeitsvertragsklausel »Alle Überstunden sind mit dem Gehalt abgegolten« eigentlich ein Anrecht auf die Vergütung jeder einzelnen Überstunde hätten, macht sich doch Nachdenklichkeit breit. f) Kontrolle des Arbeitszeitgesetzes nicht möglich Die 2004 auf Druck des Gewerbeaufsichtsamtes eingeführten elektronischen Werkzeuge zur Überwachung des Arbeitszeitgesetzes sind völlig unzureichend. Um die Einhaltung dieses wichtigen Schutzgesetzes effektiv überprüfen zu können, müssen Beginn und Ende der Arbeitszeit registriert werden. Ansonsten ist schon die Einhaltung der Ausgleichszeiträume nicht überprüfbar. De facto stellt SAP ihren MitarbeiterInnen ein Werkzeug zur ›Höchstzeiterfassung‹ zur Verfügung, das nicht ganz ungefährlich im Gebrauch ist. Zunächst ist nur die – nicht gesetzeskonforme – Erfassung einer täglichen Überschreitung von zehn Stunden vorgesehen. Diese Erfassung erfordert die Angabe eines Grundes – entweder als Notfall oder als außergewöhnlicher Umstand, der im Zweifelsfall mit der Führungskraft abgestimmt wurde. Es gibt keine Möglichkeit, eine entsprechende Meldung ohne Angabe eines der in diesen beiden Kategorien angeführten sechs Gründe zu erfassen. Wer also mit diesem Instrument zeigen möchte, dass er oder sie überlastet ist, macht sich schnell der Falschaussage schuldig. Da diese Form der freiwilligen ›Höchstzeiterfassung‹ unter Mitwirkung des Gewerbeaufsichtsamtes zustande kam, ist davon auszugehen, dass das Amt sich über seine Unzulänglichkeiten im Klaren war. Teil II folgt im nächsten express. * Ralf Kronig und Johannes Reich sind mittlerweile beide Betriebsräte bei SAP. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/08 |