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Der 11. September und seine Folgen

Anmerkungen zu den Terroranschlägen von New York, Washington u. Pittsburgh

Die Massaker von New York, Washington und Pittsburgh sind ein Verbrechen, dass in seiner spezifischen Monstrosität, menschenverachtenden Durchführung und öffentlichen Inszenierung vor dem 11. September nicht vorstellbar war.

Das Entsetzen, welches das Sterben tausender von Menschen, das buchstäblich vor den Augen von Millionen von FernsehzuschauerInnen stattfand, auslöst, verbindet sich mit der Furcht, was Tätern, die zu diesen Mitteln greifen, noch alles zugetraut werden muss. Das Wissen darum, dass die Betroffenheit, die die Attentate bei uns in den westlichen Metropolen auslösten, auch etwas mit dem Glauben zu tun hat, hier weitgehend abgeschirmt vom gewaltsamen, aber meist unbeachteten Sterben in der Peripherie "friedlich" leben zu können, mindert die Abscheu über das Verbrechen nicht.

Auch wenn kein Bekennerschreiben zu den Anschlägen vorliegt, so deuten doch Beifallsbekundungen sowie erste Ermittlungsergebnisse darauf hin, dass die Täter aus einem politischen Umfeld kommen, das sich in einem Kampf gegen eine angeblich von den Juden beherrschte USA sowie in der Abwehr eines wahlweise jüdisch-amerikanischen oder jüdisch-christlichen Kreuzzuges gegen den Islam wähnt, wie beispielsweise Bin Laden in mehreren Interviews argumentiert. Diese antisemitischen Konstrukte disqualifizieren ihre Propagandisten von selbst.

Wer in Deutschland die Anschläge als quasi selbstverschuldetes Resultat der Außenpolitik der USA und insbesondere von deren Unterstützung der israelischen Palästina-Politik erklärt, gerät gewollt oder ungewollt in gefährliche Nähe zu diesen Konstrukten. Ebenso verfehlt ist es, die Attentate – deren Durchführung vorausschauender Planung bedurfte – als "Verzweiflungstaten" von Unterdrückten aus der Dritten Welt zu interpretieren, wie dies in Teilen der Friedensbewegung sowie der bundesdeutschen Linken geschieht (vgl. taz, 24.9.01). Hier zeigt sich, zu welch fatalen Positionen alte, unreflektierte "antiimperialistische" sowie antiamerikanische Reflexe führen. In den Anschlägen in den USA lassen sich keinerlei wie auch immer deformierte Anzeichen einer "Befreiungsbewegung" aus der Dritten Welt erkennen, sondern sie sind, wie Jürgen Rohloff schreibt, der Ausdruck von "Unterdrückungsbewegungen" (vgl. Jungle-World, Nr. 39). Gegenüber den Attentätern und ihren Hintermännern gilt es für Linke die gleiche scharfe Trennungslinie zu ziehen wie gegenüber den Faschisten. Es ist deshalb bestürzend und abstoßend, wenn Menschen ihre Freude über die Anschläge zum Ausdruck bringen und in ihnen legitime Angriffe auf die – "jüdisch dominierte" – USA sehen.

 

Woher kommt der Hass?

Der Hass auf den kapitalistischen Westen und insbesondere die USA, der sich in vielen Ländern der Peripherie zeigt, wurzelt in der tiefen sozialen Ungleichheit, die die von den kapitalistischen Industriestaaten maßgeblich eingerichtete Welt kennzeichnet. Die USA als Führungsmacht symbolisieren dabei für viele Menschen in der Dritten Welt sowohl das scheinbar universelle Wohlstandsversprechen des Kapitalismus als auch zugleich dessen Enttäuschung. Diese Enttäuschung wird erlebt als Armut, soziale Demütigung und Perspektivlosigkeit. Der Junge, der auf einem Markt in Pakistan ein Bin-Laden-T-Shirt hochhält, träumt möglicherweise von einem Leben in oder wie in New York und hasst die US-Regierung dafür, dass sie die Realisierung dieses Traumes verhindert.

Hinzu kommt, dass sich die internationale Politik des Westens insbesondere gegenüber den Ländern der Peripherie eben nicht an der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, sondern lediglich an den eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen ausrichtet und von daher auch immer parteiisch ist. Menschenrechte und Minderheitenschutz werden instrumentalisiert und somit ihres dem Prinzip nach universellen Charakters beraubt. Viele Menschen in der Peripherie müssen erleben, wie der Westen mit ihren Unterdrückern kooperiert, Folter und Massaker toleriert, um die ungleiche Wohlstandsverteilung gegen alle sozialreformerischen und erst recht sozialrevolutionären Bewegungen zu verteidigen. Gegen die Gewalt, die von der Aufrechterhaltung dieses Status quo ausgeht, gibt es keine "Weltpolizei", die angerufen werden kann.

Diese Hilflosigkeit ist Teil der Verzweiflung und Wut in zahlreichen Ländern der Peripherie. Das Spezifikum in einigen Ländern des Nahen Ostens sowie Asiens scheint zu sein, dass dort diese Wut ins Reaktionäre gewendet und bis hin zu Selbstmordattentaten radikalisiert werden konnte. Dies könnte damit zusammen-hängen, dass sich hier kaum Ansätze zumindest liberal-demokratischer bürgerlicher Herrschaftsformen herausgebildet haben und von den herrschenden Regimen zugelassene sozialreformerische oder sozialrevolutionäre Opposition kaum mehr vorhanden sind. Dies eröffnete militanten religiösen Gruppierungen die Möglichkeit, in ein ideologisches Vakuum zu stoßen, das in Folge der Marginalisierung materialistisch begründeter kapitalismuskritischer Positionen entstanden ist. Diese sind in zahlreichen Ländern zudem dadurch diskreditiert, dass sie zeitweise Teil der herrschenden Rhetorik einiger regionaler Regime waren. Diese instrumentalisierten zugleich immer wieder den ungelösten Israel-Palästina-Konflikt, um innerstaatliche Unzufriedenheit nach außen abzulenken. Die antisemitische Umdeutung des Nahost-Konflikts von einem gewaltförmig ausgetragenen Streit um Territorien in einen Überlebenskampf, der in einen "Krieg" zwischen einer angeblich "jüdisch-christlichen" und einer "islamischen" Welt eingebettet ist, ist von den reaktionären islamistischen Gruppierungen zu verantworten. Dabei konnten sie sowohl an vorhandene Denkmuster anknüpfen, wie das in Folge der israelischen Besatzungspolitik und Korrumpierung der autoritären palästinensischen Autonomieverwaltung entstandene Elend für sich ausbeuten.

 

Der "Krieg gegen den Terrorismus"

Sehr rasch wurden die Attentate von der US-Regierung nicht nur als Terroranschläge, sondern als feindlicher Angriff auf die USA interpretiert und entsprechend mit einer "Kriegserklärung an den Terrorismus" beantwortet, die von der NATO mit der Erklärung des Bündnisfalles übernommen wurde.

In ersten Stellungnahmen der US- und anderer Regierungen sowie in den einschlägigen Medien wurde durchaus komplementär zur Rhetorik der Hauptverdächtigen für die Anschläge wahlweise der "Kampf der Kulturen", des "Guten" gegen das "Böse" sowie der zivilisierten gegen die übrige Welt beschworen. Einschlägige "Experten" wie Scholl-Latour proklamierten das Ende der Spaßgesellschaft und den Terror gegenüber den Terroristen. In der FAZ meint Henning Ritter: "Der Angriff auf das World Trade Center hat die Politik der globalen Durchsetzung der Menschenrechte ins Reich der Utopie verwiesen. [...] Vor allem aber verträgt sich eine Politik der Menschenrechte nicht mit jenen Maßnahmen, deren sich die amerikanische Allianz gegen den Terrorismus bedienen muss." Die Flüchtlinge aus Afghanistan wissen, wovor sie fliehen.

Mit dem Einstieg in die Rhetorik des Krieges wurde zugleich eine entscheidende politische Weichenstellung vorgenommen. Es geht, so wurde verkündet, nicht nur um die Verfolgung und Festsetzung der Täter von New York, Washington und Pittsburgh, sondern mit der Begründung der Prävention wurde eine lang-jährige Auseinandersetzung angekündigt, die sich gegen den Terrorismus und dessen Unterstützer weltweit richten soll.

Die Ankündigung, weltweit Terroristen zu verfolgen sowie Staaten, die diese unterstützen, zu bekämpfen, dies aber nicht weiter zu präzisieren, bedeutet, dass alle Optionen offen gehalten werden. Die ultimative Aufforderung, dass sich alle Staaten zu entscheiden hätten, sich entweder auf die US-amerikanische oder die Seite des Terrorismus zu stellen, lässt keinen Raum für Missverständnisse und zeigt bereits entsprechende Wirkung. Dabei bietet sich für einige Staaten die Möglichkeit, ihre Beziehungen zur einzig verbliebenen Supermacht neu zu ordnen. Die postwendende Aufhebung der wegen ihrer atomaren Bewaffnung gegen Indien und Pakistan verhängten Sanktionen zeigt, dass hierfür auch (temporäre?) Zugeständnisse zu erzielen sind. Hinzu kommt, dass viele Regime auch ein Eigeninteresse an der Bekämpfung der mutmaßlichen Initiatoren der Anschläge in den USA haben. Lippenbekenntnisse werden aber nicht ausreichen, um im "Krieg gegen den Terror" in den Kreis der "Guten" aufgenommen zu werden. Je nach Lage der Dinge werden die Auslieferung einzelner Personen, die Zerschlagung von Organisationen und im Bedarfsfalle die Öffnung des Landes für militärische Spezialkommandos gefordert werden. Im Falle der Nichtbefolgung drohen entsprechende Ultimaten und Sanktionen bis hin zum militärischen Angriff. Mit der Feststellung, der Kampf der nächsten zehn Jahre sei im Zeichen der Selbstverteidigung der USA zu verstehen, ist zugleich klar, dass im Zweifelsfall die UN außen vor bleiben werden.

Es deutet sich somit eine "Weltinnenpolitik" an, in der die USA nicht nur das Gewaltmonopol für sich reklamieren, sondern offensiver als in der Vergangenheit bereit sind, ihr militärisches Potenzial in eigener Sache einzusetzen. Der Anspruch lautet globale Stabilität, wobei die USA diese durch punktuelles Eingreifen "sichern" und die alltägliche Polizeiarbeit kooperationswilligen Regierungen und Regimes übertragen bleibt. Russland und China werden vorerst dadurch eingebunden, dass ihnen in ihrem eigenen Territorium uneingeschränkte Vollmachten in der Bekämpfung derer zugestanden werden, die sie als Terroristen ansehen. Der Tschetschenien-Krieg Putins wird bereits "neu bewertet".

Deutschland bietet sich die Möglichkeit, im Windschatten des "Antiterrorkrieges" von USA und NATO die Bundeswehr weiter in Richtung einer international agierenden Interventionsarmee umzurüsten. Inwieweit Interessengegensätze zwischen einzelnen europäischen Staaten untereinander und gegenüber den USA, wie sie beispielsweise in der Irak-Politik zum Ausdruck kamen, in absehbarer Zeit wieder aufflammen werden, bleibt abzuwarten. Das Heft des Handelns liegt zur Zeit in Washington. Die ersten militärischen Aktionen werden wohl bei Erscheinen der vorliegenden express-Ausgabe angelaufen sein. Die Weiterungen und Eskalationen sind zur Zeit nicht abzusehen, die Perspektiven aber eher bedrückend.

Auch innenpolitisch werden Veränderungen auf uns zu kommen, deren Konturen das Schlechteste befürchten lassen. Die flächendeckende Überwachung sämtlicher Kommunikation, die ohnehin schon weit fortgeschritten ist, wird weiter verfeinert werden. Die Speicherung von persönlichen Bewegungsdaten – von der Kontoführung über den Scheckkarteneinkauf bis zum Erwerb einer Eisenbahnfahrkarte – wird dies begleiten. Flächendeckende Videoüberwachung ist leider keine Zukunftsvision. Die Registrierung der DNA bei Beantragung eines Ausweises und damit die Vollerfassung der Bevölkerung, wer will dies noch ausschließen? Die Befugnisse der Sicherheitsbehörden werden erweitert, und die Trennung von Militär, Geheimdienst und Polizei wird, wenn es nach Schily geht, der Vergangenheit angehören. Vor allem aber werden die Außengrenzen der EU endgültig Festungscharakter bekommen. Dies alles wird zwar solche Anschläge wie in den USA nicht verhindern, wohl aber die Repressionsmöglichkeiten der Staaten im Innern erweitern.

Bei den ersten Bildern vom brennenden World Trade Center glaubten nicht wenige an eine Hollywood-Produktion. Es brauchte zumindest kurze Momente, die Realität als solche wahrzunehmen. Teil nicht weniger apokalyptischer Zukunftsvisionen ist neben der großen Zerstörung vielfach die Vorstellung eines allumfassenden hochmilitarisierten Überwachungsstaates. Es ist nicht auszuschließen, dass nach den Bildern von New York nun auch diese Orwellschen Phantasien Realität werden können.

Sozialismus oder Barbarei: es fällt schwer in den heutigen Tagen die Hoffnung im Sinne von Ernst Bloch nicht aufzugeben, dass diese Frage noch nicht endgültig entschieden sein möge. Vielleicht haben aber die Jugendlichen, die in Genua demonstriert haben, genauso wenig Lust auf die neue Weltordnung wie ihre Altersgenossen, die in Algier gleichermaßen gegen das Militärregime wie die islamistische Heilsfront kämpfen.

HD

erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/01


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