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Prokrustes-Revolutionen und das Gespenst der Autonomie

Über den "neuen Geist des Kapitalismus" und seine Widersprüche / Von Harald Wolf*

Kennzeichnend für die neue Entwicklungsphase, in welcher der Kapitalismus sich befindet, ist nicht zuletzt ein deutlicher Wandel der "materiellen Produktionsweise". Ob dieser Wandel mit der Rede von einer entstehenden Netzwerkgesellschaft und einer "informationellen" Ökonomie (wie bei Castells[1]) schon hinreichend bestimmt ist, ist zu bezweifeln. Angesprochen sind mit solchen Etikettierungen zumindest einige Merkmale dieses Wandels – wie etwa die informationstechnologischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte und die neuartigen Konfigurationen der inner- und zwischenbetrieblichen Unternehmensorganisation. Die Rede vom "neuen Geist des Kapitalismus" (bei Boltanski/Chiapello[2]) fokussiert die kulturellen Orientierungen oder Leitbilder, die den entsprechenden Umbau von Unternehmens-, Technik- und Arbeitsstrukturen zugleich praktisch anleiten, rechtfertigen und ideologisch verhüllen: Netz, Projekt, Flexibilität, Selbstorganisation sind hier die positiv besetzten Stichworte. Das Gesicht der Arbeit scheint sich jedenfalls grundlegend zu verändern. Hätte man auf die Frage: "Was hat Arbeit mit Autonomie zu tun?" wohl vor nicht allzu langer Zeit noch allseits mit: "Nichts!" geantwortet, tönt es heute hingegen oft: "Immer mehr!" Die kapitalistische Rationalisierungsdynamik selbst – und nicht etwa der politische Druck einer radikalen Emanzipationsbewegung, verleiht der Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Autonomie heute einen besonderen Stellenwert.

Einem wirklich angemessenen Verständnis dieser Frage stehen freilich überkommene Orientierungen kritischer Gesellschaftstheorie ebenso im Wege wie traditionelle Fixierungen der Industriesoziologie. Was erstere anbelangt, so muss man – nach der Abwendung vom marxistischen "Produktionsparadigma" – häufig geradezu von einer Arbeitsvergessenheit sprechen. Besonders deutlich und folgenreich ist sie im Werk von Habermas, der durch seine grundbegrifflichen Vorentscheidungen (Arbeit versus Interaktion, System versus Lebenswelt) die Arbeitssphäre gleichsam emanzipationstheoretisch neutralisiert. Der Arbeitsvergessenheit kritischer Gesellschaftstheorie korrespondiert die Theorievergessenheit – oder doch zumindest: eine große Theorieindifferenz – der industriesoziologischen Forschung, deren Geschäft in der empirischen Rekonstruktion jenes Wandels der materiellen Produktionsweise besteht. Die folgenden Bemerkungen zielen auf Ansatzpunkte zur Überwindung dieser unhaltbaren Situation und gliedern sich in drei Abschnitte. Der erste weist auf einige Aspekte und Widersprüche der neuen Arbeits-Leitbilder hin; der zweite behandelt deren Auswirkungen auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse; der dritte antizipiert die Auflösung dieser bestehenden Arbeitsverhältnisse und ihre autonome Neuinstitution. Die Bemerkungen wollen also beitragen zur immanenten, transzendentalen und transzendenten Kritik kapitalistischer Arbeit.[3]

Im Netzwerk der Widersprüche

Ein erster Schritt zur kritischen Analyse der sich wandelnden Charakterzüge der Arbeit ist die genaue Betrachtung der neuen Leitbilder. Welches Bild vom Menschen, von seinen Beziehungen und Kooperationsformen, welche Handlungsorientierungen, welche Legitimationsformeln für Herrschaft transportieren sie? Boltanski und Chiapello unternehmen in ihrer Studie "Le nouvel esprit du capitalisme" den Versuch, entsprechende Besonderheiten des Managementdiskurses der letzten Dekaden herauszuarbeiten. Sie gehen dabei von der Überlegung aus, dass die Legitimationsansprüche der kapitalistischen Ordnung – und zwar maßgeblich unter dem Einfluss der Kritik an ihnen – einem historischen Wandel unterliegen. Der heutige Managementdiskurs stellt die kulturellen Codes, die die Identifikation mit der Ordnung sicherstellen sollen, für die neue Phase dieses Wandels bereit.

Zur zentralen Organisationsmetapher erhebt der neue Geist des Kapitalismus das Netzwerk. Zwischen Markt und Hierarchie angesiedelt, verheißt diese Organisationsform dreierlei: "Verschlankung" der Betriebe, Verbesserung der Arbeit durch "Teamwork", starke Kundenorientierung. Im derart "befreiten" Unternehmen wird Kontrolle als dezentriert vorgestellt: internalisiert von den Beschäftigten, die die "Vision" der Führung teilen, und externalisiert im Kunden und im Konkurrenzdruck. Die Bürokratie ist aus der Mode, Vertrauen regiert, und alle können sich in immer neuen Projekten immer wieder selbst verwirklichen. Boltanski und Chiapello formulieren die These, dass dieser Diskurs sich Elemente neu-linker Kapitalismuskritik – etwa Spontaneität, Authentizität, Selbstverwaltung – einverleibe und sich auf diese wesentlich stütze. Das mache seine Attraktivität aus und lasse zugleich diese Form der Kritik ins Leere laufen.

Was grenzen und blenden diese Leitbilder aus, inwiefern sind sie also ideologische Deckbilder? Boltanski/Chiapello verweisen auf das Risiko der Exklusion aus dem Netz und auf die permanente existenzielle Unsicherheit, die allen Beteiligten zugemutet wird. Auf diese Achillesferse des neuen Modells müsse eine ihm angemessene erneuerte Kritik zielen. Das ist sicherlich richtig. Es darf aber nicht so verstanden werden, als ersparte uns dies die Arbeit einer immanenten Kritik. Im Gegenteil, sie bleibt unerlässlich, wenn uns weiter an jenen Werten gelegen ist, die scheinbar in den Leitbildern aufgehoben sind. Eine solche immanente Betrachtung zeigt erstens, dass das, was hier positiv besetzt wird, eine instrumentelle, marktradikal-mikroökonomische Vorstellung von individueller Privat-"Autonomie" darstellt. Sie zeigt zweitens, dass die neuen Leitbilder – entgegen dem sorgsam gepflegten Anschein – zutiefst in den überkommenen Mustern des bürokratischen Selbst- und Weltbezugs verankert bleiben.

Zum ersten Punkt: Die Selbstorganisation des Managementdiskurses ist, analog zu chaostheoretischen Annahmen über natürliche Prozesse spontaner Ordnungsbildung, blind und naturwüchsig. Als real existierendes Beispiel und Modell solcher Ordnungsbildung gilt der so genannte freie Markt, dessen imaginäre Eigenschaften ins Innere der Organisationen und der Arbeit projiziert werden. Diese Mikroökonomisierung des Sozialen in der Produktion konstruiert jedes ihrer Einzelelemente unmittelbar als ökonomisch kalkulierenden und kalkulierbaren "homo oeconomicus". Dessen "Autonomie" soll darin bestehen, dass er frei und isoliert seinen "Nutzen" und "Gewinn" maximieren kann. Das ist für hochvergesellschaftete Arbeitszusammenhänge eine phantastische Konstruktion, die schon mit deren stofflichen und produktionsökonomischen Bedingungen vielfältig konfligieren muss – was freilich ihrer Deutungs-, Durchsetzungs- und Wirkungsmacht keinen Abbruch tut.[4]

Zum zweiten Punkt: Die Selbstorganisation des Managementdiskurses macht aus dem "Selbst", das sich da organisieren soll, ein Objekt. Sie spielt sich im imaginären Horizont einer externen Beobachtungs- und Kontrollinstanz ab, als kybernetischer, ingenieurmäßig von außen steuerbarer Prozess. Ein externes Management bleibt als imaginiertes bürokratisches Subjekt vorausgesetzt, das die Arbeit der Anderen anders – durch Zulassen von Elementen dezentraler Selbstregulierung –, aber nicht weniger fremd-organisiert als früher. Die Welt ist weiterhin als Gegenstand der Behandlung und Beherrschung gesetzt, die Arbeitskraft als Objekt, dem nun (vermeintlich) neue Eigenschaften zugeschrieben werden. Es bleibt ein Blick von außen. Von außen sollen die neuen Erkenntnisse über die Selbstorganisation, durch Einsatz der anders vorgestellten Objekte und ihrer neu entdeckten Eigenschaften, verwertet werden.

Solche Überlegungen machen klar, dass Analysen wie die von Boltanski/Chiapello – die ihren Schwerpunkt auf die legitimatorischen Funktionen der neuen Leitbilder legen – Gefahr laufen, den Managementdiskurs gewissermaßen gleichzeitig zu überschätzen und zu unterschätzen. Zu überschätzen: Sie tendieren zur Überzeichnung seiner Kohärenz und zur Unterstellung der Funktionalität und "Rationalität" der implizierten Handlungs- und Organisationslogiken für die bestehende Ordnung. Gerade deren angedeutete innere Widersprüchlichkeit aber, ihre nur sehr bedingte Funktionalität und Pseudo-Rationalität schaffen im Alltag der Arbeit den Problemstoff, an dem sich die praktische und theoretische Kritik entzünden kann.

Die Wiederkehr der verdrängten Selbsttätigkeit

Inwiefern tendiert die Untersuchung des neuen kapitalistischen Geistes à la Boltanski/Chiapello möglicherweise dazu, den Managementdiskurs zuunterschätzen? Das leitet über zum nächsten Schritt der Analyse. Hier ist nämlich zu fragen, wie diese Leit-und Deckbilder mit dem Arbeitsalltag konkret zusammenhängen, was die Orientierung an ihnen in der realen Arbeitswelt anrichtet, und wie sich dies auf die tatsächlichen Möglichkeiten individueller und kollektiver Selbstbestimmung auswirkt. Boltanski/Chiapello stellen die Notwendigkeit der Legitimation und ideologischen Einbindung in den Vordergrund und sehen hier die Hauptfunktion des heutigen "Autonomie"-Diskurses. Sie unterschätzen (bzw. thematisieren nicht), dass die Managementideologie auch – und davon untrennbar – eine Antwort auf real widersprüchliche Erfordernisse der Herrschaftssicherung darstellt. Nicht nur die ideologische Einbindung, auch der reale Einschluss der Arbeitenden in Entscheidungen über ihre Arbeit ist in kapitalistischen Arbeitsorganisationen unerlässlich.

Hier sei kurz etwas weiter ausgeholt. Ein Grundzug des modernen Kapitalismus ist die Aufwertung und Verselbstständigung der formalen, instrumentellen Rationalität. "Rationalisierung" in diesem Sinne meint das Projekt einer unendlich perfektionierbaren und unablässig ihren Wirkungskreis erweiternden rationalen Herrschaft über die innere und äußereNatur. Rationalisierung der Arbeit als eine der wichtigsten Realisierungen dieses Projektes zielt auf Verwertung und Herrschaftssicherung, und zwar durch Organisierung und Technisierung des Produktionsprozesses von außen: durch einen von den realen Arbeitsprozessen sozial getrennten bürokratischen Verwaltungsstab, das Management. Für den Augenblick kann außer acht bleiben, dass bereits Kapitalverwertung und Herrschaftssicherung keineswegs widerspruchsfreie Zielsetzungen sind. Das Augenmerk soll hier in besonderem Maße auf die Dialektik von Ausschluss und Einschluss gerichtet sein, die das kapitalistische Rationalisierungsprojekt durch seinen widersprüchlichen Herrschaftsanspruch in der Arbeitssphäre in Gang setzt.

Kapitalismus bedeutet für die Arbeitenden immer zunächst und grundlegend Ausschluss: Ausschluss von der Verfügung über die Produktionsmittel und der Definition der Produktionsziele, drohender Ausschluss von der Verfügung über Reproduktionsmittel durch die Kündigungsoption. Das impliziert ein elementares Machtgefälle und setzt den Rahmen für ein spezifisches Herrschaftsverhältnis. Im Produktionsprozess selbst setzt sich diese primäre Ausschlusstendenz fort, zugleich wird sie modifiziert und begrenzt. Bürokratische Herrschaft über Arbeit intendiert und befördert einerseits in vielfältiger Weise den Ausschluss der Arbeitenden aus den Entscheidungen über Produktionsziele und -methoden. Sie ist der großangelegte Versuch, Tätigkeiten und Kooperation der Arbeitskräfte durch Dritte, von außen, durch Organisierung und Technisierung zu programmieren – gleichsam fernzusteuern. So wirksam und folgenreich dieser Versuch auch ist, seinem Erfolg sind andererseits sozial bedingte Grenzen gesetzt: insbesondere aufgrund der grundlegenden – im einzelnen vielfach abgestuften – sozialen Trennung und Konfrontation von Management und Gemanageten – und der für die angestrebte Fernsteuerung in der Regel deshalb de facto völlig unzureichenden Wissens- und Informationsbasis (de jure wissen die ExpertInnen für die Arbeit anderer selbstverständlich alles und sind für alles zuständig). Das Management ist aufgrund dessen immer – ob es das wahrhaben will oder nicht – auf die Kooperation der Arbeitenden angewiesen. Auch wenn Managementstrategien dem häufig keine oder kaum Rechnung tragen: In den komplexen, hochvergesellschafteten, interdependenten Produktionsprozessen des modernen Kapitalismus gibt es gar keine andere Option als Partizipation. Die faktische Beteiligung der Arbeitenden an Entscheidungen und ihre Selbstregulierung sind schlicht für das Gelingen ihrer Arbeit erforderlich.

Wo die Organisation sie nicht vorsieht, entwickelt sich die Partizipation im Geheimen, als "brauchbare Illegalität", wie Luhmann das nennt. In dem Grimmschen Märchen "Der kluge Knecht" heißt es: "Wie glücklich ist der Herr, und wie wohl steht es mit seinem Hause, wenn er einen klugen Knecht hat, der auf seine Worte zwar hört, aber nicht danach tut und lieber seiner eigenen Weisheit folgt." Das ist regelverletzende bzw. -missachtende, aber für die Herrschaft brauchbare Partizipation. Die uns bekannten Arten der Produktionsorganisation setzen alle – auch der konsequenteste Taylorismus – den zumindest stillschweigenden Einschluss der Arbeitenden voraus. Sie brauchen den klugen Knecht, sonst fielen sie augenblicklich auseinander. Kapitalistische Arbeit ist ein entsprechendes Spannungsfeld, eine doppelte Institution, die sich über Ausschluss- und Einschlussimpulse und das eigensinnige, z.T. widerständige, sich potenziell politisch artikulierende und formierende Mit- und Zutun der Beherrschten reproduziert. Arbeiten heißt, sich zwischen den damit gesetzten widersprüchlichen Anforderungen selbst zu behaupten – oder an ihnen zu zerbrechen.

Die Betonung von Einbindung und Einschluss ist deshalb keine zufällige, etwa dem Zeitgeist geschuldete Managementmode und schon gar keine brandneue Erfindung, die ein spezifisches Charakteristikum der gegenwärtigen Entwicklungsphase wäre. Partizipative oder Einschlussstrategien hat es – in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Gestalten – in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung immer wieder gegeben.[5] Solche Strategien gehen die skizzierte Problematik offen an und nehmen Beteiligung sozusagen in den offiziellen Dienstplan auf. Seit etwa einer Dekade beobachten wir wieder eine solche Einschlusswelle. Im Verlauf dieser Dekade sind die Grenzen des Einschlusses und die verbleibenden Mechanismen des Ausschlusses und Erhalts bürokratischer Herrschaft immer deutlicher geworden. Noch immer ist die Ausbreitung wirklich innovativer Arbeitsformen sehr begrenzt; und manche sprechen selbst für diese Bereiche inzwischen von einem "Roll back". In den meisten Fällen sind der gewährten Selbstorganisation enge Schranken gesetzt – und gewährt wird sie im Übrigen praktisch ausschließlich auf der Ebene von Kleingruppen oder von Leitungsfunktionen, selbstverständlich nicht auf der Ebene des gesamten Produktionsprozesses. Keineswegs trivial, sondern die Entwicklung durch und durch prägend, ist, dass dem seit nunmehr allzu langer Zeit die neoliberale Renaissance der härtesten Formen des Ausschlusses – private Verfügungsgewalt, Kündigung, Zurückdrängen des Gewerkschaftseinflusses – und der sozialdarwinistische Ungeist einer entfesselten Konkurrenz korrespondieren.

Aber kein Zweifel: Es gibt wirklich neue Management- und Arbeitsformen. Managementstrukturen werden dezentralisiert, Quasi-Markt-Mechanismen in die Organisation eingeführt, was "unten" durchaus mehr offiziellen Raum schafft für unabhängige Initiative. Diese "schlanke" Bürokratie mit ihren inszenierten internen Märkten (und ihrer stets wirksamen "Globalisierungsoption") führt in der Tendenz freilich zur Konzentration der betrieblichen Macht und zur Dezentralisierung ihrer Exekution. Und es gibt die verbreiteten Experimente mit Gruppenarbeit, deren Einführung durchaus mit Arbeitsverbesserungen einhergehen kann. Freilich droht der partizipative Gehalt der neuen Arbeitsformen zwischen wachsendem Ökonomisierungsdruck und gemanageter Beteiligung zerrieben zu werden.[6]

All diese partielle Partizipation von Fragmenten des gesellschaftlichen Produktionsprozesses befördert eine Tendenz zu seiner "Individualisierung" und zum "Egoismus" seiner Subsysteme und Akteure. Hauptsächlich auf Egoismus – und nicht, was angemessen wäre: auf umfassende Kooperation – werden Prämien ausgesetzt in einer Umwelt, in der das totale Unternehmertum bis hinunter zum letzten Handgriff propagiert wird. Das verursacht Desintegration, selbst in der Perspektive der geltenden Organisationsziele. Die als Reaktion darauf zu beobachtende Erneuerung bürokratischer Autorität und Legitimation kann sich nun, ironischerweise, auf die vermeintliche oder wirkliche organisatorische Machtlosigkeit angesichts externer und interner Marktturbulenzen und jenes Egoismus’ berufen – die doch das Resultat der Vermarktlichungs- und Dezentralisierungsinitiativen der bürokratischen Spitzen sind.

Bei aller Diskontinuität im Detail sind also die großen historischen Kontinuitäten unübersehbar. Nach wie vor oszillieren die Organisationsrealitäten zwischen bürokratischer Beherrschung und Anarchie. Die Ähnlichkeiten mit früheren Anläufen zur systematischen Einbindung sind ebenfalls unübersehbar. Die Konzepte bleiben im alten Dilemma von Ausschluss und Einschluss gefangen, daher ein Teil ihrer Grenzen und Widersprüche. Der kluge Knecht, den man bisweilen hofieren muss, muss auch immer wieder düpiert werden. Bei allem Wandel: Offensichtlich ist gleichzeitig die übermächtige Tendenz, ihn ins Prokrustesbett bürokratischer und technokratischer Problemlösung zu zwängen. Roy Jacques hat dafür den treffenden Begriff der Prokrustes-Revolutionen des Managements geprägt: "...a procrustean revolution fosters the appearance of change by incorporationg the new, but only after stretching and/or truncating it so that what is incorporated retains the shape of the old."[7]

In manchen Bereichen wird den Arbeitenden also in der neuen Entwicklungsphase des Kapitalismus mehr Freiheit gewährt, aber selbst in diesen Bereichen nur in Formen und unter Bedingungen, die diese Freiheit sogleich wieder in Unfreiheit umschlagen lassen. "Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen lässt Freiheit sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln."[8] "Und die spontane Reproduktion aufgenötigter Bedürfnisse durch das Individuum stellt keine Autonomie dar; sie bezeugt nur die Wirksamkeit der Kontrolle."[9] Seinerzeit hauptsächlich auf die Konsumsphäre gemünzt, lassen sich diese Sätze Marcuses aus dem "Eindimensionalen Menschen" cum grano salis übertragen. Aber ganz so glatt geht die Gleichung, wenn das Gesagte zutrifft, doch nicht auf. Gerade auf das Körnchen Salz muss es uns ankommen.

Aufgaben und Perspektiven

Eine sich theoretisch erneuernde Industrie- und Arbeitssoziologie in kritischer Absicht muss das Thema "Selbsttätigkeit in widersprüchlichen Herrschaftszusammenhängen" mit ins Zentrum rücken. Und sie muss die Problemkreise "Macht und Herrschaft" und "Ungleichheit und Unsicherheit" im modernen Produktionsprozess vordringlich behandeln – ohne den einen gegen den anderen auszuspielen (wozu Boltanski/Chiapello tendieren). Kapitalistisch organisierte Arbeit ist heteronom. Kritik, die diese Heteronomie in Frage stellt, kann sich nach wie vor auf die Widersprüchlichkeit des Herrschaftszusammenhangs, der zwischen Ausschluss und Einbindung der Beherrschten pendelt, und auf die ambivalenten Erfahrungen und den Eigen-Sinn der Arbeitenden stützen. Ihr Fluchtpunkt sollte, auch in dürftiger Zeit, die konkrete Utopie autonomer Arbeit sein. Deren Aktualisierung hängt auch davon ab, dass ihre Keimformen im Hier und Jetzt zur Sprache gebracht werden. Damit sind einige drängende Aufgaben einer kritischen Arbeitsforschung umschrieben.

Welche Fragen sind vordringlich? Fast gänzlich offen bleibt bislang, inwieweit sich im heutigen Rahmen eingeforderter und kontrollierter Beteiligung alternative Möglichkeiten eigensinniger Selbsttätigkeit im Produktionsprozess artikulieren – und ob sich hier Keime wirklicher Autonomie – im Sinne einer Selbstgesetzgebung im Gemeinwesen der Arbeit – entwickeln. Ein empfindliches Desiderat der Diskussion und der Forschung ist, dass sie sich nur sehr wenig um die aktive – möglicherweise subversive – Aneignung der neuen Realitäten durch die Subjekte selbst drehen. Lange hat die Industriesoziologie die Arbeitenden nur als Opfer und Anhängsel ihnen vorgegebener und äußerlicher Strukturen gesehen. Diese Vorstellungen wirken heute nach. Wir wissen aber: Es gibt ein ganzes Unterleben von Organisationen, eine notwendige, aber meist (im mehrfachen Wortsinn:) verdrängte Selbsttätigkeit – die neben den funktionalen eben durchaus auch ihre widerständigen, aus der Sicht des Bestehenden "unbrauchbaren" Aspekte hat.[10] Im Märchen fängt der kluge Knecht am Ende die entlaufene Kuh doch nicht ein, sondern sucht nach den drei Amseln. Ein kritisch-arbeitssoziologischer Blick für abweichendes, überschießendes Bewusstsein und für unkonventionelle, nicht-konformistische Verhaltensweisen ist erst noch einzuüben. Und die empirische Forschung muss auf diese Perspektive neu ausgerichtet werden. Der Zugang über die Methode der teilnehmenden Beobachtung erwies sich schon früher als der ergiebigste Weg, über den Eigen-Sinn der Arbeitenden Aufschluss zu gewinnen – wie einige, bezeichnenderweise wenig rezipierte, Studien belegen.[11] Es wäre an der Zeit, die Unterseite der Institution der Arbeit im neuen Kapitalismus in ähnlicher Weise auszuleuchten und zu vermessen.[12]

Mit Blick darauf muss eine kritische Arbeitsforschung einen reflektierten und normativ gehaltvollen Begriff von individueller und kollektiver Autonomie entwickeln. Implizit bezieht sich das Gesagte bereits auf einen solchen Begriff. Bei seiner Ausformulierung muss man sich natürlich nach wie vor auf die Traditionen der neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen stützen, zumal auf die verschütteten der radikaldemokratischen (libertären, syndikalistischen, rätekommunistischen) Unterströmungen der Arbeiterbewegung, deren historische Stunde erst noch schlagen wird.[13] Karl Korsch prägte schon früh (1919 in "Was ist Sozialisierung?") für die Quintessenz aller theoretischen und praktischen Versuche einer radikaldemokratischen Neuinstitution der Arbeit die treffende Formel der "industriellen Autonomie". In den Arbeiten von Castoriadis wird sie aufgenommen und mit den Erfahrungen und Erkenntnissen der neueren sozialen Bewegungen verbunden. Im Zentrum steht ein Entwurf von Autonomie, bei dem es um die Selbstgesetzgebung, d.h. reale Demokratie, in allen wichtigen Lebensbereichen geht: um die Errichtung eines autonomen Gemeinwesens.[14] "In einer autonomen Gesellschaft kommt die Freiheit in den beiden folgenden grundlegenden Gesetzen zum Ausdruck: Keine Ausführung ohne egalitäre Beteiligung an der Entscheidungsfindung – kein Gesetz ohne egalitäre Beteiligung an der Gesetzgebung. Die Selbstdefinition und Devise eines autonomen Gemeinwesens lautet: Unser Gesetz ist, uns unsere eigenen Gesetze zu geben."[15]

Im Horizont eines solchen eminent politischen, radikaldemokratischen Autonomiebegriffs sollten wir – auch in gewerkschaftspolitischen Zusammenhängen – diejenigen sozialen Potenziale und Bedürfnisse der Arbeitenden offensiver in ihren emanzipatorischen Dimensionen zur Sprache bringen, die in der gegenwärtigen Entwicklungsphase zum bevorzugten Objekt der Instrumentalisierung und der Einbindung ins Bestehende geworden sind. Ein Gespenst geht um in der Arbeitswelt – das Gespenst der Autonomie. Es ist höchste Zeit, dass die Anhänger einer wirklichen Autonomie ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen offen formulieren und den Märchen von der bereits realisierten Autonomie einen zu realisierenden Entwurf selbstbestimmter Arbeit und selbstbestimmten Lebens entgegenstellen.

 

Erschienen in: Express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 3/2001

* Harald Wolf arbeitet derzeit am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) der Universität Göttingen.

 

Anmerkungen

 1) Manuel Castells: "The Rise of the Network Society" (The Information Age, Vol. I), Malden/Oxford 1996.

 2) Luc Boltanski/Ève Chiapello: "Le nouvel esprit du capitalisme", Paris 1999.

 3) Vgl. Helmut Dahmer: "Kritik", in: ders.: "Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart", Frankfurt am Main 1994, S. 9-36.

 4) Auch der Taylorismus – mit seiner Ersetzung des Menschen durch ein Ensemble von isolierten Handgriffen, seinem Messen von Koeffizienten etc. – ist nichts als solch ein systematisches, gesellschaftlich gültiges Wahnsystem, das das wirkliche Leben der sozialen Welt bestimmt.

 5) Für einen Überblick über die historische Entwicklung der US-amerikanischen Managementdiskussion vgl. z.B. Roy Jacques: "Manufacturing the Employee", London etc. 1996 oder S.R. Barley/G. Kunda: "Design and devotion: surges of rational and normative ideologies of control in management discourse", in: Administrative Science Quarterly, Jg. 37 (1993), No. 2, S. 363-399.

 6) Vgl. Harald Wolf: "Arbeit und Autonomie. Ein Versuch über Widersprüche und Metamorphosen kapitalistischer Produktion", Münster 1999, Kap. V. Mit neueren empirischen Befunden jetzt auch: Klaus Dörre: "Kampf um Beteiligung. Arbeit, Partizipation und industrielle Beziehungen im flexiblen Kapitalismus", Habilitationsschrift, Göttingen 2001.

 7) R. Jacques, a.a.O., S. 155.

 8) Herbert Marcuse (1964): "Der eindimensionale Mensch", Darmstadt/Neuwied 1982, S. 27.

 9) Ebd., S. 28.

10) Vgl. H. Wolf, a.a.O., Kap. III.

11) Z.B. Konrad Thomas: "Die betriebliche Situation der Arbeiter", Stuttgart 1964 oder Miklós Haraszti: "Stücklohn", Berlin 1975.

12) Zwei neuere angelsächsische Studien, die in diese Richtung weisen, seien genannt: Laurie Graham: "On the Line at Subaru-Isuzu. The Japanese Model and the American Worker", Ithaca/London 1995 und Rick Delbridge: "Life on the Line in Contemporary Manufacturing. The Workplace Experience of Lean Production and the ‘Japanese’ Model", Oxford/New York 1998.

13) Siehe auch die Artikelfolge von Jens Huhn: "Krise und Neubeginn in der ArbeiterInnenbewegung", in express, Nr. 3 und 4/2000

14) Selbstverwaltung ist der Begriff, der hier meist verwendet wird – der aber sprachlich denkbar schlecht geeignet ist, die Sache, um die es geht, zu bezeichnen.

15) Cornelius Castoriadis (1979): "Sozialismus und autonome Gesellschaft" in: U. Rödel (Hg.): "Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie", Frankfurt a.M. 1990, S. 329-357, hier: S. 342.


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